Der ÖVP-Spin von der normalen Mitte ist selbst Extremismus

5. Juli 2023

In einem Standard-Kommentar am 3.Juli beschwört Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner eine „normal denkende Mehrheit der Mitte“, die von einem lauten Rand auf Twitter übertönt werde. Für diese normal denkende Mitte wolle sie Kante zeigen. Was das mit Leitfaden des Landes Niederösterreich, der festgelegt hat, dass „Genderstern“, „Gender-Gap“ oder „Genderdoppelpunkt“ keine Verwendung in der niederösterreichischen Landesverwaltung finden, zu tun hat, erschließt sich dem Leser des Kommentars nicht unmittelbar. Die wichtige Frage, die sich dazu stellt, lautet: Liegt, wer die normale Mitte beschwört, selbst mit seinem Diskurs in der Mitte? Die Antwort lautet: Nein, ganz und gar nicht. Diejenigen, die die eigenen Ansichten nicht teilen, zum abweichlerischen Rand zu erklären, macht einen selbst nicht zur Mitte, sondern lässt einen selbst in den Extremismus abdriften. Schauen wir uns das näher an.

Stocker

Der Generalsekretär der Volkspartei, Christian Stocker, demonstriert seine Verhaltensauffälligkeit neuerdings gerne in Aussendungen zum neuen SPÖ-Vorsitzenden Andreas Babler, Diesen nennt.er Stamokap-Marxist, weil Babler in seinen jungen Jahren in der Sozialistischen Jugend der Theorie des Staatssozialismus nahestand. Bablers Forderung nach Tempo 100 auf der Autobahn entspreche „ganz dem marxistischen Weltbild des Neo-SPÖ-Vorsitzenden“, so Stocker weiter. Wo im Werk von Karl Marx Aussagen zum Thema Tempolimit zu finden seien, bleibt uns Stocker jedoch schuldig. Inhaltlich brauche man sich mit den Vorschlägen Bablers nicht weiter auseinandersetzen, da sie mit ihrer ideologischen Einordnung hinreichend widerlegt scheinen. Im Büro des neuen SPÖ Vorsitzenden Andreas Babler standen laut ÖVP, die auf Zeitungsberichte aus dem Jahr 2022 verweist, eine Lenin- und eine Marx-Büste – somit ist für die ÖVP bewiesen, dass Babler ein Linksextremist ist. Mit Vorschlägen wie Vermögenssteuern, Tempolimit oder Arbeitszeitverkürzung muss man sich nicht weiter auseinandersetzen, das ist alles einfach Ausfluss von Marxismus-Leninismus. Wer so argumentiert, steht nicht in der Mitte, sondern weit rechts außen. Wer sich als die Normaldenkenden den anderen am Rand gegenüberstellt, ist gefährlich nahe am Framing des Nationalsozialismus, der dem gesunden deutschen Volkskörper die Parasiten gegenübergestellt hat. Kein Wunder, dass auch FPÖ-Obmann Herbert Kickl ebenfalls gerne die Normalen für sich beansprucht.

Sachslehner und Mahrer

Die Wiener ÖVP versucht Generalsekretär Stocker hinsichtlich des angeblichen Linksextremismus der SPÖ noch zu toppen. Sie lässt im Gemeinderat aufhorchen mit der Forderung eines Marxismus-Checks bei Förderungen durch die Stadt Wien. Federführend bei diesem Antrag ist die Abgeordnete Laura Sachslehner, die auf Twitter seit vielen Jahren beweist, dass sie vieles sein mag, aber gewiss nicht die gesellschaftliche Mitte. Als Generalsekretärin war sie schließlich selbst Bundeskanzler Karl Nehammer zu extrem, sodass sie von Stocker abgelöst wurde. Ebenfalls mit im Boot ist ÖVP Wien-Chef Karl Mahrer, der seit Monaten einen Feldzug gegen die SPÖ führt wegen dem Brunnenmarkt. Im Antrag der ÖVP wird verlangt, dass künftig alle Fördernehmer und Kooperationspartner darauf überprüft werden, ob womöglich eine marxistisch-leninistische bzw. eine kommunistische weltanschauliche Grundlage vorhanden und eine Verbreitung linksextremer Ideologie möglich ist. Auch an den Schulen solle die Aufklärung über die „gefährliche Ideologie des Marxismus“ verstärkt werden. Die Wiener ÖVP muss man mit Recht fragen, ob sie ebenso Checks auf Faschismus und Rechtsextremismus andenkt – oder nur linke Ideologien als Bedrohungen betrachtet, die abgewehrt werden müssen. Bei Fr. Sachslehner und Hr. Mahrer kann man leider davon ausgehen, dass ihnen nur Bedrohungen von linker Seite gewärtig sind.

Neumayer

Auch der Generalsekretär der Industriellenvereinigung, Christoph Neumayer, befindet in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Presse“, dass aktuell tendenziell die Ränder gestärkt und „die politische Mitte an Zuspruch verliert“. Während die SPÖ unter Babler linkspopulistisch unterwegs sei, verteidige die Industriellenvereinigung standhaft den Mittelstand. „Mittelstand“, was ist das? Ist das die Mitte? Mittelstand mag zwar so ähnlich klingen wie Mittelschicht, ist aber nicht damit gleichzusetzen. Denn eigentlich geht der Begriff Mittelstand auf das mittelständische Unternehmen zurück, das dadurch gekennzeichnet ist, dass es nicht mehr als 500 Beschäftigte und nicht mehr als 50 Mio. Euro Jahresumsatz hat. Im ÖVP-Umfeld sollte man ergänzend zu dieser Bedeutungsherkunft jedoch nicht auf das historische Faible für eine ständisch organisierte Gesellschaft vergessen. Immerhin hat der Austrofaschismus unter Dollfuß und Schuschnigg seine diktatorische Verfassung gerne hinter dem Begriff Ständestaat verborgen. Wenn die Industriellenvereinigung den Mittelstand verteidigt, zielt sie also eigentlich nicht auf die Mittelschicht ab – auch wenn sich diese mitgemeint wähnen soll, sondern auf einen Stand, der zwischen Elite und Pöbel stehend, objektiv zwar ökonomisch dem Pöbel nähersteht, aber die Privilegien der Elite verteidigt, weil er sich mit dieser ideologisch verbunden fühlt. Diesem nebulösen Konstrukt dient dann z.B. eine Kampagne wie jene zur sogenannten „Schnüffelsteuer“: Vermögenssteuern sind böse, weil sie einerseits den armen Häuslbauern in die Tasche greifen und andererseits für ihre Einhebung in der Schmucklade nach Wertgegenständen schnüffeln müssen. Die Daten aus der Ökonomie zur ungleichen Vermögensverteilung und die unrühmliche Platzierung Österreichs im OECD-Ranking bei der Vermögensbesteuerung haben da keinen Platz. Das Bild vom unverschämten Eindringen in die Privatsphäre soll negative Abwehrgefühle mit dem Thema Vermögenssteuer verbinden, um eine Ablehnung zu erreichen.

Eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung geht für die Industriellenvereinigung natürlich auch nicht – wo kommen wir denn hin, wenn jahrzehntelange Produktivitätszuwächse an die Arbeitnehmer:innen weitergegeben werden. Eine Reservearmee von Arbeitslosen ist für die Eigentümer von Unternehmen usnverzichtbar, um den Druck aufrecht zu erhalten, der die Arbeitnehmer:innen davon abhält, offensiv Forderungen nach besserer Bezahlung zu erheben. Argumentativ vorgeschoben wir ein Arbeitskräftemangel, der es unmöglich mache, dass der Einzelne weniger arbeite. Natürlich hat auch das alles nichts mit Mitte zu tun, sondern ist ein alter Abwehrreflex, der die Profite der Kapitalistenklasse gegen die Begehrlichkeiten der Beschäftigten absichern soll. Treffender als mittig wird ist diese Haltung mit reaktionär zu titulieren.


Was sind die Eckpunkte einer sozialdemokratischen Haltung bei den Themen Asyl, Flucht und Migration

21. Juni 2023

Asyl, Flucht und Migration sind keine Themen, wo ich mich fachlich sofort zu Hause fühle. Es ist kein Bereich, wo ich auf Anhieb davon ausgehe, dass ich über die nötige Expertise verfüge. Aber die schrecklichen Bilder aus dem Mittelmeer, als ein Fischkutter mit rund 750 Flüchtlingen vor dem Pelopones sank, haben mich dazu bewogen, ausgehend von meinem Wertekanon und den Prinzipien, die ich als zutiefst sozialdemokratisch ansehe, mich dennoch zu getrauen, einige Gedanken zu diesem Themenkomplex anzustellen. Diese Bilder, die wir zu sehen bekamen, möchte ich nicht mehr sehen müssen.

  1. Asyl ist ein Menschenrecht

Aus Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ergibt sich, dass Flüchtlinge das Recht haben, Asyl zu suchen und zu genießen. Im Speziellen hat die Genfer Flüchtlingskonvention dieses Recht festgeschrieben. Außerdem ist der Schutz vor Abschiebung in ein Land, wo man aus politischen oder religiösen Gründen verfolgt wird, ein Menschenrecht, das sich unter anderem in der Europäischen Menschenrechtskonvention wiederfindet. Jeder Staat muss somit Personen Schutz gewähren, denen in ihrem Herkunftsland Verfolgung droht. An diesem Grundsatz darf nicht gerüttelt werden – was bei ÖVP und FPÖ leider durchaus anzutreffen ist. ÖVP-Klubchef August Wöginger hat beispielsweise im November 2022 eine Debatte über die Überarbeitung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) losgetreten. Burgenlands ÖVP-Chef Christian Sagartz, der auch stellvertretender Vorsitzender im Menschenrechtsausschusses des Europäischen Parlaments ist, hat zusätzlich eine Überarbeitung der Genfer Flüchtlingskonvention gefordert. Und FPÖ-Chef Herbert Kickl hat schon im Jänner 2019 die Forderung aufgestellt, „das Recht müsse der Politik folgen“ – und damit dezidiert das Asylrecht im Rahmen der Menschenrechtskonvention gemeint. Solche Ansinnen sind aus sozialdemokratischer Sicht entschieden zurückzuweisen. Eine Abkehr von diesem Menschenrecht wäre ein Rückfall in die Barbarei. Man möchte sich nicht vorstellen, wie es weitergeht, wurde durch die Einschränkung des Asylrechts erst eine Lücke in das Bollwerk der Menschenrechte geschlagen.

2. Niemand flieht freiwillig

Gründe für eine Flucht können sehr unterschiedlich sein. Meist sind es Krieg und Gewalt, die Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Immer dabei ist die Angst um das eigene Leben, um das Leben und das Wohlergehen der Kinder, der Familie oder von Freunden. Nicht alle Fluchtgründe fallen unter die Genfer Flüchtlingskonvention. Wer aufgrund der Verfolgung wegen seiner Rasse, seiner Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung flüchtet, für den gilt das Asylrecht nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Dieses haben wir in Punkt 1 außer Frage gestellt. Aber auch wer wegen Krieg und Gewalt, Hunger oder Umweltzerstörung und den Folgen des Klimawandels flieht, hat einen guten Grund. Man darf nicht die Augen davor verschließen, dass auch Fluchtursachen, die nicht von der Genfer Flüchtlingskonvention abgedeckt sind, ihre Berechtigung haben. Es ist schon richtig, dass die Fluchtursachen in den Herkunftsländern bekämpft werden müssen. Das geht nicht von heute auf morgen – und ganz ehrlich, die Bemühungen der meisten Länder, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu beseitigen, sind mehr als überschaubar. Selbst, wenn sich das in absehbarer Zeit ändern sollte, haben aber jene nichts davon, die aufgrund unerträglicher Bedingungen schon den Weg der Flucht eingeschlagen haben, weil sie sich woanders bessere Lebensbedingungen erwarten.  Dorthin zu gehen, wo ein besseres Leben möglich ist, das sollte einem nicht verwehrt werden. Pushbacks durch die Frontex, das Ruanda-Modell, unüberwindliche Zäune an den Außengrenzen der EU, eine Küstenwache, die einem sinkenden Schiff nicht zu Hilfe eilt, sondern zur Küste eines anderen Landes abschleppen möchte – all das sind keine Vorgehensweisen, mit der eine Sozialdemokratie ihre Freude haben kann. Vielmehr ergibt sich aus diesem Grundsatz:

3. Legale Migration muss ermöglicht werden

Damit sind wir bei dem Punkt angelangt, wo sich auch die Sozialdemokratie schwer tut. Denn Migration ist durchaus etwas, was zu einer Belastung einer Gesellschaft werden kann. Das hat die Geschichte immer wieder gezeigt. Die Angst der Beschäftigten vor einer Verdrängung am Arbeitsmarkt ist nicht unbegründet. Arbeitgeber wittern selbstverständlich die Chance, durch Migrant:innen billigere Arbeitskräfte zu bekommen bzw. Druck bei den bestehenden Arbeitskräften aufzubauen, es künftig billiger zu geben. Die Sozialdemokratie darf darauf jedoch nicht mit einer restriktiven Haltung bei der Migration reagieren, sondern sie muss für rechtliche Rahmenbedingungen sorgen, die einen Verdrängungswettbewerb durch billigere Arbeitskräfte verunmöglichen.

Natürlich können auch kulturelle Unterschiede zum Problem werden. Aber nur dann, wenn die Integration nicht gelingt und Migrant:innen sich in der neuen Heimat nicht aufgenommen fühlen. Wenn Integration nicht gelingt und Migrant:innen mit dem Wertekanon des Aufnahmelandes nicht im Einklang sind, dann wird gern gesagt: Die Migrant:innen sind nicht gewillt, sich einzufügen und die sogenannten abendländisch-europäischen Werte anzunehmen. Da macht man es sich aber zu einfach. Zum Misslingen von Integration gehören zwei Seiten. Wer beispielsweise Asylwerber:innen über längere Zeiträume in Heimen absondert und den Einstieg in die Erwerbstätigkeit verweigert, darf sich nicht wundern, wenn die Integration nur schleppend vorankommt. Zu einer gelungenen Integration gehört also unbedingt eine Willkommenskultur. Denn nur der, der willkommen ist, kann sich für das Neue öffnen, das ihm in einer fremden Kultur abverlangt wird. Das Beispiel Traiskirchen unter Bürgermeister Andreas Babler zeigt, dass ein gelingendes Zusammenleben auch unter widrigsten Umständen möglich ist und das größte Erstaufnahmezentrum Österreichs keine „gmahde Wiesn“ für die FPÖ sein muss.

Die SPÖ ist also gut beraten, nicht zu versuchen, ÖVP und FPÖ bei diesem Thema rechts zu überholen. Dass man auch in der SPÖ von „irregulärer Migration“ spricht, mag zwar sachlich nicht falsch sein, folgt aber dem Framing der Rechten, die Migration als Bedrohung darstellen möchten, um die Angst in der Bevölkerung zu verstärken. Steigt man darauf ein, hat man auf dem diskursiven Feld mit einer humanen Haltung von Anfang an das Nachsehen. Natürlich ist es nicht wünschenswert, wenn, wie 2015, Flüchtlingsströme schwer kontrollierbare Ausmaße annehmen. Aufgabe der Politik ist es daher dafür zu sorgen, dass legale Wege der Migration geschaffen werden.


Quo vadis SPÖ?

15. Juni 2023

Ich habe hier vor ein paar Monaten einen Nachruf auf die SPÖ verfasst. Inzwischen hat sich viel geändert. Ausgelöst durch Andreas Babler fegt eine Basisbewegung durch die Partei und eröffnet die Chance einer Erneuerung, sodass die SPÖ von einer „Sitzung“ wieder zur Bewegung wird. Und entgegen den kühnsten Erwartungen ist Babler nach einem holprigen Prozess der Entscheidungsfindung zum neuen Vorsitzenden der SPÖ gewählt worden.

Was sind die nächsten Schritte, die die Partei auf dem Weg der Erneuerung setzen muss?

Demokratisierung und Mitbestimmung

Die SPÖ muss mit Demokratie und Mitbestimmung durchflutet werden. Die Mitglieder müssen die Möglichkeit haben, den/die Vorsitzende auf allen Ebenen zu wählen. Ebenso müssen die Mitglieder in wichtige Entscheidungen, z.B. eine Koalition, eingebunden werden. Der Trend des letzten Jahrzehntes, wo durch Statutenreformen der Weg zu weniger Mitbestimmung eingeschlagen wurde, muss radikal umgedreht werden. Eine Sozialdemokratie muss nicht nur für die Interessen der Mehrheit der Menschen da sein, sondern auch mit ihnen gemeinsam ihre Ziele umsetzen. Nur so kann sie wirklich Stärke entwickeln.

Ideologische Aufrüstung

In der SPÖ müssen Funktionäre und Funktionärinnen sattelfest sein, wenn sie mit Begriffen wie Marxismus und Kommunismus konfrontiert werden. In unserer Partei sollte souverän Einspruch erhoben werden können, wenn bürgerliche Medien undifferenziert Marx mit dem stalinistischen Terrorregime gleichsetzen. In der SPÖ sollte das Wissen vorhanden sein, dass der Begriff Kommunismus im „Kommunistischen Manifest“ nicht mit dem gleichzusetzen ist, was die Sowjetdiktatur daraus gemacht hat. Maßgebliche Denker:innen innerhalb der Sozialdemokratie, wie Otto Bauer und Rosa Luxemburg, haben gezeigt, dass man Sozialdemokratie marxistisch verstehen kann, ohne deshalb dem Bolschewismus unkritisch gegenüber stehen zu müssen.

Die SPÖ sollte auch ihre Haltung nach 1945 überdenken, dem Marxismus völlig abzuschwören und sich auf die Zähmung kapitalistischer Auswüchse zu beschränken. Es ist für eine Sozialdemokratie wichtig, bei der Betrachtung von Gesellschaft und Ökonomie die marxistische Brille aufzusetzen. Denn eine wahre Sozialdemokratie zeichnet aus, dass sie das Ziel der gesellschaftlichen Veränderung, der Aufhebung des Kapitalismus und der Überwindung des Gegensatzes zwischen Arbeit und Kapital im Auge behält. Denn nur dann können Reformen wirklich im Dienste der konkreten Verbesserung der Lebensbedingungen von 95 Prozent der Menschen stehen – was ja stets der Anspruch der Sozialdemokratie war und ist. Herausforderungen wir der Armut oder der Klimaerhitzung kann nur durch einen „system change“ begegnet werden.

Reformen und Revolution sind auch keine unüberwindbaren Gegensätze – wie es leider von vielen in der Bernsteindebatte der SPD gesehen wurde -, sondern erstere sollten in Hinblick auf Letzteres entwickelt werden. Wobei man beim Begriff der Revolution wohl weniger auf Lenin und Trotzki, sondern mehr auf den des Wissenschaftstheoretikers Thomas S. Kuhn (The Structure of Scientific Revolutions) zurückgreifen sollte.

Klare und mutige Kommunikation

Der SPÖ weht gerade viel Gegenwind entgegen. Aufgrund der fehlerhaften Bekanntgabe des Wahlergebnisses am Parteitag ergießt sich von allen Seiten Spott und Hohn über sie. Die bürgerlichen Parteien überhäufen aus Angst vor einer erstarkten SPÖ den neuen Vorsitzenden Andreas Babler mit ihren Schmutzkampagnen, für die wahrscheinlich schon während des Landtagswahlkampfes in NÖ Material gesammelt wurde. Auch innerparteilich ist noch nicht auf allen Ebenen Ruhe eingekehrt – es wird etwas Zeit brauchen, bis die Gräben, die sich über Jahre aufgetan haben, ganz zugeschüttet sind.

Vor allem die Medien im Privatbesitz kennen kein Halten, um gegen die SPÖ und ihren neuen Vorsitzenden ins Feld zu ziehen. Die Eigentümer:innen dieser Medien wollen ihr Vermögen vor gerechterer Besteuerung schützen und lassen deshalb ihre Redaktionen aufmarschieren. Das war zu erwarten. Die zuletzt präsentierten Daten der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB) zur Vermögenskonzentration in Österreich (HFCS) zeigen einmal mehr, dass Vermögen so ungleich verteilt ist, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet ist.

Vom Gegenwind darf sich die Partei nicht entmutigen lassen, auch wenn Umfragen in den nächsten Wochen wenig erfreulich ausfallen sollten. Mit mutiger, klarer und leidenschaftlicher Kommunikation sind die Menschen für die SPÖ zu gewinnen – das hat die Team Basis-Kampagne deutlich gezeigt. Wenn die Wähler:innen klar erkennen können, wofür die SPÖ steht, werden sie dieser auch wieder vermehrt ihre Stimme geben. Internationale politikwissenschaftliche Studien, z.B. jene der Universität Oxford (Trade-offs of social democratic party strategies in a pluralized issue space: a conjoint analysis), zeigen auch, dass die Sozialdemokratie keine Angst vor linken Positionen haben muss.


Nachruf auf die Sozialdemokratie

7. Februar 2023

Die Sozialdemokratie ist tot. Und das schon seit einiger Zeit. Als Untote wandelte sie noch lange unter uns. Aber ihr Herz schlug längst nicht mehr. Nun wird es offenbar, dass sie am Ende ist. Dass sie wie ein Phönix wieder aus der Asche steigt, ist nicht in Sicht.

Der Sozialismus betrat die Weltbühne als ein utopischer. Das Elend des Proletariats empörte und Vorstellungen von einer gerechten Zukunft wurden entwickelt. Der Weg, wie man dorthin kommen sollte, war diffus. Man glaubte an die Einsicht der Mächtigen.

Mit Marx und Engels wurde aus einer humanistischen Idee eine materialistische Analyse der Geschichte. In der Abfolge von Klassenkämpfen sollte mit dem Proletariat jene Klasse zum Subjekt werden, dass den Kapitalismus überwindet und die klassenlose Gesellschaft errichtet. Dazu musste es sich nur bilden und sich bereit machen, wenn die kapitalistischen Krisen ihr die Chance auf die Revolution eröffnen.

Doch der Kapitalismus erwies sich als krisenfester und die Weltrevolution blieb aus. Sozialistische Parteien zogen in die Parlamente ein und sahen zunehmend im Reformismus einen Weg in eine bessere Zukunft. Die proletarische Revolution war nicht mehr für alle das Ziel.

Vor dem 1. Weltkrieg einigte sich die Internationale darauf, den Krieg als imperialistische Ausformung des Kapitalismus zu bekämpfen. Man konnte sich aber nicht darauf verständigen, im Ernstfall geschlossen den Generalstreik in die Waagschale zu werfen. Als durch die Schüsse von Sarajevo die Katastrophe sich den Weg bannte, zerbrach die Internationale und die sozialdemokratischen Parteien unterstützen oftmals sogar das Kriegstreiben der eigenen Nationen. Ein Sündenfall, der das weitere Schicksal des Sozialismus entscheidend beeinflusste. Gerade in dem Moment, wo ihr entschlossenes Handeln gefragt ist, versagt sie.

Während und nach dem Krieg war die kapitalistische Ordnung schwer erschüttert. In Russland nutzen die Bolschewiken einen revolutionären Moment, um an die Macht zu kommen, und erklärten Russland zur sozialistischen Republik. Doch weder in Europa, noch weniger in Amerika folgte man dem Beispiel. Lediglich in Ungarn und Bayern kamen kurzzeitig Rätesysteme an die Macht. Isoliert vom Rest der Welt und feindlichen Truppen im eigenen Land gegenüberstehend, entwickelte sich die Sowjetunion nicht zum wahren Sozialismus, sondern in ein Terrorregime, welches dem Staatssozialismus huldigte und das in dem grausamen Despoten Stalin ihren Höhepunkt fand.

Nach dem Zusammenbruch der Monarchie war die bürgerliche Klasse in Österreich geschwächt und ermöglichte aus Angst vor der Revolution den Sozialdemokraten eine Vielzahl von sozialpolitischen Errungenschaften. Diese Reformen zogen die Sozialdemokraten gegenüber der Option vor, sich der ungarischen Räterepublik anzuschließen. Sie befürchteten, von den Ententemächten militärisch und ökonomisch in die Knie gezwungen zu werden.

In der Weimarer Republik gab die Sozialdemokratie durch ihre unrühmliche Rolle bei der Ermordung von Liebkecht und Luxemburg und der Niederschlagung revolutionärer Aufstände von Anfang an wenig Hoffnung. Unter Scheidemann und Ebert verlor die SPD zunehmend an Macht und Einfluss. Als die vom Stalinismus verblendete KPD schließlich lieber mit der NSDAP stimmte, als an der Seite der sogenannten „Sozialfaschisten“ zu stehen, war es um die Republik geschehen. Hitler kam an die Macht, vernichtete alle oppositionellen Kräfte und führte das Land in einen selbstzerstörerischen Krieg. In Italien war Mussolini mit seinen Schwarzhemden schon einige Jahre früher an die Macht gekommen und wütete gegen seine ehemaligen Genossinnen und Genossen.

Weil die Revolution ausblieb, nahm die Bourgeoisie in Österreich wieder das Zepter in die Hand. Die Sozialdemokratie unter Otto Bauer pflegte in ihren Reden die revolutionäre Rhetorik, befand sich aber machtpolitisch auf dem Rückzug. Als immer klarer wurde, dass auch in Österreich die Bourgeoisie den Weg des Faschismus einschlagen wird, um allen sozialistischen Bestrebungen das Genick zu brechen, verzichtete man so lange auf den bewaffneten Widerstand, bis dieser keine Chance mehr hatte. Als 1934 Teile des Schutzbundes zu den Waffen griffen, war die Sozialdemokratie schon so geschwächt, dass die Niederlage vorprogrammiert war. Die wohl letzte Möglichkeit, dem Sozialismus die Bahn zu brechen, verstrich ungenutzt.

Nach dem 2. Weltkrieg zeigte sich der Kapitalismus aufgrund der gigantischen Zerstörungen einsichtig, mit der Unterstützung von Faschismus und Nationalsozialismus zu weit gegangen zu sein. Es wurde über Jahrzehnte eine Allianz zwischen Kapital und Arbeit beschworen, die mit Fordismus und Keynesianismus einen Wohlfahrtsstaat etablierte, der der Lohnarbeit einen steigenden Anteil der Wertschöpfung zusicherte.

Irgendwann ging dies den Kapitaleignern aber doch zu weit. Die Ölkrise der Siebzigerjahre wurde genützt, um nach jahrzehntelangen Vorbereitungen mit dem Neoliberalismus eine neue hegemoniale Ideologie zu etablieren. Eine Sozialdemokratie, die mit der Abdankung revolutionärer Absichten ihr Herz verloren hatte, konnte dieser „Umkehrung aller Werte“ wenig entgegenzusetzen. Als eine Art Zombie konnte sie unter Persönlichkeiten wie Kreisky oder Brandt zwar in vorbildlicher Weise den konservativen Mief der Nachkriegsgesellschaft wegfegen, aber an den sozioökonomischen Machtverhältnissen rüttelte sie nicht mehr.

Als die Sowjetunion zusammenbrach, nutzte die Sozialdemokratie ihre Mehrheiten in vielen europäischen Staaten nicht, um nach dem Ende des „real existierenden Sozialismus“ einem demokratischen Sozialismus zum Durchbruch zu verhelfen. Stattdessen beschränkte sie sich darauf, die Auswüchse des „Siegers der Geschichte“ sozialpolitisch ein wenig abzuschwächen. Ein sogenannter „dritter Weg“ entpuppte sich als Hohn auf den wahren Sozialismus. Kein Wunder also, dass immer weniger Menschen ihr Glauben schenkten und sie wählten.

Wenn die Sozialdemokratie wie in Deutschland unter Schröder eine arbeitnehmerfeindliche „Agenda 2020“ verfolgte und heute unter Scholz mit Panzerlieferungen an die Ukraine wieder geopolitisch mitmischen möchte, wenn sie wie in Österreich in der Opposition nur noch mit einer peinlichen Vorsitzenden-Debatte für Aufmerksamkeit sorgt, wird offensichtlich, die Leiche stinkt schon. Wer mag da noch glauben, dass sie irgendwann wie Phönix wieder aus der Asche hochsteigen wird?


Hannes Androsch: Was jetzt zu tun ist

22. Januar 2021

Der ehemalige Finanzminister und Industrielle Hannes Androsch hat mit Unterstützung von Bernhard Ecker ein Buch zur Politik in der Corona-Krise verfasst: Was jetzt zu tun ist.* Das Buch soll Antworten auf die aktuellen Herausforderungen geben. Auf rund 140 Seiten nimmt er wichtige Themen in den Blick und er benennt die Versäumnisse der Regierung. Um es gleich vorneweg zu sagen, die Stärke des Buches liegt dort, wo Androsch die Fehler der Regierungspolitik scharf ins Visier nimmt – vorrangig im Umgang mit der Corona-Pandemie.

Schon in der Einleitung zählt er zahlreiche Fehler der Regierung auf: „Autoritäre Maßnahmen wie etwa die gesetzwidrige Schließung der Bundesgärten in Wien während des Shutdowns, die gerichtlich wieder aufgehobenen drakonischen Strafen für Spaziergänger oder der vehemente Wunsch von ÖVP-Politikern nach Handyüberwachung …“ (S. 8). Auch die Vorgänge in Ischgl sowie die Aushebelung des Rechtsanspruchs auf Entschädigung im Epidemiegesetz werden genannt. Insbesondere die durch bürokratische Mühlen nur langsam erfolgten Hilfen für die Unternehmen sowie das unsolidarische Verhalten auf europäischer Ebene sind Androsch ein Dorn im Auge.

Sozialdemokratie, Steuern und Schulden

Das Buch will aber nicht nur Kritik üben, sondern auch Antworten geben auf die brennenden Themen der Zeit: Bildung, Digitalisierung, Klima, Migration, EU und Weltordnung. An seiner Partei, der Sozialdemokratie bemängelt der ehemalige Spitzenpolitiker, dass sie keine Antworten auf die Fragen des 21. Jahrhunderts habe und die Nachwuchsarbeit vernachlässigt habe. Der 82-Jährige konstatiert, dass die Sozialdemokratie „zu einer bewahrenden und beharrenden strukturkonservativen Erscheinung geworden“ sei. „Sie ist keine Bewegung mehr, weil sie sich nicht bewegt und dadurch nichts bewegt.“ (S. 98) Darin liegt natürlich viel Wahres. Und dass eine Stimme aus der Vergangenheit, wie die seine, auch heute viel Gehör findet, ist kein gutes Zeichen. Wenn die österreichische Sozialdemokratie auf eine Stimme aus der Vergangenheit hören soll, dann ist es der Aufruf, der an sie beim Hainfelder Einigungsparteigang oder am Linzer Parteitag 1926 an sie ergeht.

Sind die Antworten des ehemaligen SPÖ-Finanzministers, der heute viel mehr in der Industriellenvereinigung zu Hause ist als in der Sozialdemokratie, tatsächlich auf der Höhe der Zeit – und mehr als nur abgenutzte Schlagworte? Er will die SPÖ auf ihre alten humanistischen Werte verpflichten: „Frieden, Freiheit, Toleranz, Rechtstaatlichkeit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte, der Marktwirtschaft und der sozialen Sicherheit“ (S. 100). Was hier sogleich auffällt, das ist, dass von den Grundwerten der SPÖ (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität) von Androsch an dieser Stelle nur die Freiheit genannt wird. 1890 oder 1926 hätte niemand auf die humanitären Werte verwiesen, sondern auf das große Ziel einer Gesellschaft jenseits der Ausbeutung.

Kann es sein, dass der Großindustrielle Androsch, der ein Vermögen von rund 290 Millionen besitzt, mit den einigen Grundwerten Probleme hat? Der SPÖ-Forderung nach einer Vermögenssteuer, von ihr Millionärssteuer genannt, kann er wenig abgewinnen. Bei seiner Argumentation gegen diese Pläne bedient er sich reichlich aus dem Fundus der Industriellenvereinigung. „Angesichts einer Rekordsteuerbelastung kann man mit neuen Abgaben, die das Wirtschaftswachstum behindern, nur negative Effekte auslösen. Vielmehr geht es darum, die so genannten Strömungsgrößen der Wirtschaft in Bewegung zu bringen und nicht bloß Bestandsgrößen umzuverteilen … Oder anders formuliert: Wer den Acker besteuert, schmälert die Grundlage des Wirtschaftens. Besser ist es, den Ertrag und damit den Nutzen zu besteuern“ (S. 138 f.), scheibt Androsch Seine Argumentation mag für das Zeitalter der industriellen Revolution zutreffend sein, im Zeitalter von Daten-, Plattform- und Überwachungskapitalismus, der mit einer ausgeprägten Refeudalisierung einhergeht, offenbart der Multimillionär damit nur seine ideologischen Scheuklappen beim Thema Umverteilung. Dass über viele Jahrzehnte eine ungeheure Ungleichheit beim Vermögen entstanden ist, ist für ihn kein Anlass, steuerliche Maßnahmen zur Korrektur in Angriff zu nehmen.

Für die Besteuerung der Profite aus der Digitalisierung schlägt Androsch vor, auf globaler Ebene die Daten zur Bemessungsgrundlage zu machen. „Der österreichische Versuch einer kosmetischen Digitalsteuer“ sei „eine Faschingsnummer und als Aktionismus zu bewerten“ (S. 57), bringe dies doch nur 25 Millionen Euro im Jahr. Der Vorschlag von Androsch sollte um die Ideen von Alfred Dallinger zur Einführung einer Wertschöpfungsabgabe ergänzt werden. Auch die von Androsch geschmähte Finanztransaktionssteuer darf angesichts der ausufernden Rolle des Finanzkapitalismus nicht abgetan werden.

Androsch zieht Keynes Hayek und Friedman vor, verteufelt also Schulden nicht. Aufgrund der Coronakrise seien diese ohnehin alternativlos. Androsch ruft die legendäre Aussage von Bruno Kreisky in Erinnerung: „Ein paar Milliarden mehr Schulden bereiten mir weniger schlaflose Nächte als Millionen Menschen ohne Halt und Perspektive.“ (S. 141) Um Österreich bei Digitalisierung, Bildung, Klimaschutz, öffentlicher Nahverkehr usw. voran zu bringen, so Androsch, lohne es sich also durchaus, Schulden aufzunehmen. An den ÖVP-dominierten Regierungen der letzten Jahre bemängelt er jedoch, dass diese die seit 2010 vorhandene Zinsersparnis von 62 Milliarden Euro irgendwo versickern ließ.

Bildung

Was fordert Androsch beim Zukunftsthema Bildung. Er erzählt uns zunächst ein wenig aus seiner eigenen Bildungsbiografie in der Nachkriegszeit, die trotz aller Widrigkeiten ihm den Aufstieg ermöglicht hat. Dann beklagt er, wie rückständig die digitale Ausstattung unserer Schulen ist. Dadurch könne die egalitäre Aufgabe, d.h. die Teilhabe und Chancengleichheit nicht erfüllt werden. Es ist dem Mitinitiator des Bildungsvolksbegehrens voll und ganz recht zu geben, dass in Österreich keine Chancengerechtigkeit besteht, sondern Bildung weiterhin vererbt wird. Das liegt aber nicht vorrangig an der mangelhaften Ausstattung. Selbstverständlich müssen die Schulen für das digitale Zeitalter gerüstet sein, d.h. mit Laptops, Tablets und schnellem Internet ausgestattet sein. Das theresianische Erbe im Schulwesen spielt schon eine größere Rolle bei den Versäumnissen in Österreich. Dieses werde besonders am unzeitgemäßen Föderalismus des Schulwesens deutlich. Ein zu geringer Anteil der Ausgaben „kommt auch tatsächlich in den Klassen an“ (S.39) und versickert in der Verwaltung.

Das größte Problem sei die zu frühe Trennung der Bildungswege. „Die Entscheidung, ein Kind mit zehn Jahren entweder ins Gymnasium oder in die Neue Mittelschule zu schicken, beeinflusst dessen späteren Entfaltungs- und Einkommenschancen gravierend“ (S. 36), schreibt Androsch. Diesem Urteil sowie seinem Eintreten für eine autonome, verschränkte Ganztagsschule kann man uneingeschränkt zustimmen. Ob jedoch eine echte Schulautonomie, d.h. die freie Personalauswahl der Direktionen, wie er sie fordert, ausschlaggebend für die Chancengerechtigkeit ist, ist zu diskutieren. Eine wesentlich größere Rolle spielt sicherlich der Umstand, dass die Eliten ihren Nachwuchs zunehmend in Privatschulen schicken, während die öffentlichen Schulen ihr Schicksal als Brennpunktschulen fristen dürfen. Eine gleiche Gesellschaft ist nur auf der Grundlage einer gut durchmischten Schule möglich. In dieser Schule profitieren alle Schüler voneinander.

Die Ergebnisse der PISA-Tests, die für Androsch der Maßstab zur Bewertung des Schulsystems sind, sollten jedenfalls nicht unser wichtigstes Kriterium bei der Beurteilung des Bildungssystems sein. Als Sozialdemokraten sollten wir uns daran orientieren, ob aus unserem Schulen mündige BürgerInnen hervorgehen, nicht daran, ob die Wirtschaft nach ihren Vorstellungen geformte Arbeitskräfte mit möglichst geringem Kostenaufwand erhält. Das Grundsatzprogramm der SPÖ von 2018 sagt: „Bildung ist der Schlüssel zur Welt. Sie ist Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben und ein Mittel zur Emanzipation. Sie macht uns zu kritikfähigen, freien und mündigen Menschen.“ (S.33) ** Die Sozialdemokratie selbst ist ja aus Bildungsvereinen hervorgegangen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, den Arbeiterinnen und Arbeitern das Bewusstsein ihrer historischen Aufgabe der gesellschaftlichen Emanzipation zu vermitteln. Davon ist heute leider wenig geblieben. Der Neoliberalismus hat erfolgreich solidarisches Streben nach gesellschaftlichem Ausgleich zerstört und dem Frönen eines egoistischen Individualismus zum Durchbruch verholfen.

Die Bildungsinitiative „Neustart Schule“ der Industriellenvereinigung ist mit ihrem Fokus auf Exzellenz für die Sozialdemokratie sicherlich nicht die erste Wahl für die Zielsetzung in der Bildung. Wo Androsch jedoch völlig richtig liegt, das ist die Bedeutung der Motivation der Lehrkräfte. „Am wichtigsten ist es, sicherzustellen, dass bei den Pädagogen neben Sachkunde auch Engagement und Begeisterungsfähigkeit vorhanden sind und erhalten bleiben.“ (S. 41)

Digitalisierung

Dem Miteigentümer des Leiterplattenherstellers AT&S liegt die Digitalisierung besonders am Herzen. Deshalb beklagt Androsch die mangelhafte Ausstattung mit Breitbandinternet und die Rückständigkeit Österreichs bei Automatisierung und Robotisierung. Dass letztere nur Jobkiller seien, bestreitet er. „Auf der anderen Seite entstehen viele neue, bessere und höher qualifizierte Jobs. Bei Kreativität und kritischer Reflexion oder Emotionen werden uns Roboter noch lange nicht das Wasser reichen“ (S. 51), schreibt er. Dass gerade bei den Unternehmen wenig Interesse an diesen Skills zu erkennen ist, darüber verliert Androsch allerdings kein Wort.

Seine Forderungen beschränken sich darauf, Österreich durch den Ausbau der digitalen Infrastruktur und der digitalen Bildung fit für den internationalen Wettbewerb zu machen. Darauf sollte sich die Sozialdemokratie aber nicht beschränken. Das Grundsatzprogramm der SPÖ bleibt beim Thema Digitalisierung recht vage in Bezug auf eine sozialdemokratische Zielsetzung. Es heißt dort: „Die neuen Möglichkeiten müssen die Teilhabe am gemeinschaftlich erwirtschafteten Wohlstand und am gesellschaftlichen Zusammenleben erhöhen.“ (S. 54) In der Praxis zeichnet sich nämlich das Gegenteil ab: Bei sehr wenigen landet der Profit aus den neuen Entwicklungen und statt mehr Teilhabe zeichnet sich einerseits ein Überwachungskapitalismus, andererseits ein autokratischer Überwachungsstaat (z.B. China, Russland, Ungarn) ab.

Aufgabe der Sozialdemokratie muss es sein, eine Vision zu entwickeln, wie durch die Digitalisierung eine gesellschaftliche Transformation unterstützt werden kann, die die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und den Kapitalismus hinter sich lässt. Ziel ist eine Gesellschaft, die alle Menschen aus den Mühen des Daseins erhebt, ihnen volle Entfaltungsmöglichkeiten gewährt, ohne dass die eigene Entfaltung jene der Anderen einschränkt.

Klima

Dass der Klimawandel Realität und menschengemacht ist, daran besteht für Androsch kein Zweifel. Man müsse bloß mit den Altausseer Fischern sprechen, damit seine Folgen handgreiflich werden. Daraus zieht er den Schluss: „Was wir beeinflussen können, müssen wir beeinflussen, und dazu gehört eine umfassende Dekarbonisierung.“ (S. 61) Es ist also anzunehmen, dass Androsch sein Vermögen nicht in OMV-Aktien angelegen wird. Obwohl das Klima nicht auf nationalstaatlicher Ebene gerettet werden kann, beklagt er, dass Österreich im Klimaschutz ins Hintertreffen geraten ist. „Österreich hinkt den vereinbarten Klimazielen weit hinterher … Im Verkehrssektor wurde es verabsäumt, rechtzeitig die Weichen zu stellen.“ (S. 63) Als Befürworter der Dekarbonisierung bedauert er, dass Österreich andere Energiequellen zu wenig genutzt habe. Androsch bekennt sich in unpopulärer Weise zur Atomkraft und zu Kraftwerksprojekten wie Hainburg und Dorfertal. „Weil es ohne Atomkraft und ohne forcierten Ausbau der Wasserkraft nicht möglich sein wird, die Energiewende weg von den durch den CO2-Ausstoß so gefährlichen fossilen Energieträgern zustande zu bringen.“ (S. 64) Das Nein zur Atomkraft sieht er als nicht rational an. Die knappe Ablehnung von Zwentendorf 1978 ist für ihn nicht gegen die Atomkraft, sondern gegen Kreisky gerichtet gewesen. Selbst die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima seien kein Beweis für die Gefährlichkeit der Atomkraft, sondern lediglich für ein Managementversagen. Mit dieser Einschätzung ist Androsch ist in Österreich nicht mehrheitsfähig.

Den Ausbau der Wasserkraft dort zu verweigern, wo die Voraussetzungen dafür günstig sind, sieht er als großen Fehler der Energiepolitik an. Hainburg und Dorfertal hätten gebaut werden müssen. Die Bedenken der Umweltschützer, wertvolle Ökosysteme zu zerstören, finden bei Androsch kein Gehör. Was den Treibhauseffekt fördert, ist böse. Alle anderen Energieformen sind für ihn gut. Damit zeigt der ehemalige Steuerberater Androsch wenig Gespür für ökologische Anliegen – abgesehen von der Bekämpfung der Erderwärmung.

Androsch befürwortet den Ausbau der Bahn, die Einführung des 1-2-3-Tickets, eine CO2-Steuer, höhere Treibstoffsteuern und eine Reform des Pendlerpauschales. Was ihm nie in den Sinn kommen würde, das ist die Überlegung, dass vom Kapitalismus nicht zu erwarten ist, dass er ausreichend gegen den Klimawandel vorgehen wird. Solange starke Profitinteressen an fossile Energieträger gebunden sind, werden der Transformation massive Widerstände entgegenstehen. Androschs gehört jener Generation der Sozialdemokratie an, die aus den Augen verloren hat, dass es eine gerechte (und ressourcenschonende) Gesellschaft nur jenseits der kapitalistischen Ordnung gaben kann.

Migration

Beim Thema Migration fordert Androsch, das „xenophobe Spiel“ von FPÖ und ÖVP zu beenden, sodass für eine kontrollierte Migration und einen humane Flüchtlingsaufnahme die Voraussetzungen geschaffen werden. Dass dem Rassismus entgegengetreten werden muss, den der Kapitalismus gezielt schürt, um die Klasse der Werktätigen zu spalten, da ist Androsch beizupflichten. Er erinnert mit Recht daran, dass nach dem zweiten Weltkrieg, nach dem Ungarn-Aufstand und dem Prager Frühling sowie während des Jugoslawienkrieges „die von vielen Populisten lächerlich gemachte österreichische Willkommenskultur … stets funktioniert“ (S. 80) hat.

Zur Begründung, warum Österreich Zuwanderung benötigt, bemüht Androsch die Demografie. „In Österreich stehen derzeit 4,1 Millionen Erwerbstätige bald 2,5 Millionen Pensionisten gegenüber.“ (S. 82) Ohne slowakische 24-Stunden-Pflegekräfte, rumänische Bauarbeiter, ukrainische Spargelstecher und bosnische Holschläger sei unser System nicht aufrechtzuerhalten. „Ohne Migranten hätten wir längst schon eine schrumpfende Ein-Kind-Gesellschaft wie China, Japan oder Russland.“ (S. 84) Der Industriekapitän Androsch denkt beim Thema Migration also vorwiegend an für die Wirtschaft nützliche Arbeitskräfte.

Das Recht aller Menschen, ihre unbefriedigende Situation in der Heimat hinter sich zu lassen und an einem anderen Ort das Glück zu suchen, wird von ihm leider nicht bemüht. Wer jedoch beim Thema Migration nur an die von der Wirtschaft benötigten Arbeitskräfte denkt, erweist dem Kampf gegen Rassismus keinen guten Dienst. Nur wer die Grenzen für alle öffnet, wird am Ende in den Herzen der Menschen die Furcht vor dem Anderen nehmen und die Spaltung der Klasse beenden.

Europa und die Weltordnung

Der Anhänger eines Beitritts Österreichs zur Europäischen Gemeinschaft macht sich Gedanken über ein Europa nach Merkel. Die EU-Skepsis der neuen ÖVP treibt ihm die Zornesröte ins Gesicht. Österreich gehöre zu den größten Nutznießern der EU. Dennoch stehe Kanzler Kurz Orban näher als Merkel und Österreich gesellt sich beim EU-Budget mit den Niederlanden, Schweden und Dänemark zu den „geizigen Vier“. Für Androsch ist die Erkenntnis aus der Corona-Pandemie: „Die vergangenen Monate haben noch stärker sichtbar gemacht, dass es ein Mehr an europäischer Zusammenarbeit braucht.“ (S. 110) Daher lautet seine Forderung an die Regierung: „Wir sollten deshalb Angela Merkel und ihren Nachfolger aktiv unterstützen, wenn es um die konstruktive Weiterentwicklung des Projekts Europa geht … Denn bei allen großen Fragen wie Klimawandel, Digitalisierung, demographische Veränderungen oder Migration braucht es gesamteuropäische Lösungen; Lähmung durch rivalisierende Splittergruppen mit Partikularinteressen muss vermieden werden.“ (S. 112f.)

Die aktuelle Welt(un)ordnung der Rivalität zwischen dem wirtschaftlich aufstrebenden China und den USA, die noch immer die Heimat der mächtigsten Konzerne sind, beunruhigt Androsch. „Die US-Administration hat China zum strategischen Hauptfeind erklärt. Trump brach eine Serie von Handelskriegen vom Zaun.“ (S. 118) Über Trump weiß Androsch wenig zu sagen, sehr viel hingegen über die Entwicklung Chinas. Die Auswirkungen der Corona-Krise auf China bereiten ihm Sorgen. „Laut offiziellen chinesischen Angaben haben rund zehn Prozent der 180 Millionen Wanderarbeiter in den großen Industriezentren wegen der Krise ihre Jobs verloren; tatsächlich dürfte es ein Drittel sein.“ (S. 120) Die Ausweitung des Staatssektors verschlinge „Unsummen an Krediten, die sich rasch als faul erweisen“ (Ebd.) würden. „Dazu kommen immer größere Bedenken, ob der mit digitalen Mitteln installierte Überwachungsstaat in China auf Dauer kompatibel mit westlichen Werten ist.“ (S. 121) Der Umgang mit den Protesten in Hongkong zeige, dass die Unternehmen zur „Geisel der Politik“ (Zitat Jörg Wuttke, Präsident der EU-Handelskammer in Peking) geworden seien. Projekte wie die „Neue Seidenstraße“ weckten mit Recht den Argwohn des Westens, dass China immer mehr Staaten in die eigene Einflusssphäre zwingen wolle.

Wie soll Europa mit dieser Situation umgehen? „Europa muss sich auf die eigenen Beine stellen und eine klare Position zwischen den USA und China finden“ (S. 126), befindet Androsch. Den Abkoppelungstendenzen sowohl der USA wie auch Chinas müsse entgegengewirkt werden. D.h. die transatlantische Achse sollte gepflegt werden. „Und es ist ratsam, gegenüber China Eigenständigkeit zu signalisieren und rote Linien deutlich zu markieren.“ (S. 127) Androsch findet., dass die EU z.B. klar Position beziehen muss, wenn der chinesische Ministerpräsident Xi gemeinsame Sache mit den Rechtspopulisten macht. Wettbewerbskommissarin Vestager habe dafür ein schönes Bild gefunden. „Wenn du einen Gast zum Abendessen einlädst und er lädt dich seinerseits nicht retour ein, dann hör auf, ihn einzuladen.“ (Siehe S. 127)

Aus einer sozialdemokratischen Perspektive muss das Ziel einer guten Weltordnung durch solidarisches Handeln erreicht werden. Das Grundsatzprogramm der SPÖ kommt zu dem Schluss, „dass wir die globale Ungleichheit nur durch Kooperation und Koordination über Nationalstaaten hinweg bekämpfen können“** (GP S. 12). Weder die USA noch China, sondern in der internationalen Solidarität liegt für die Sozialdemokratie die Zukunft Europas. Androsch geht es jedoch mehr um die Behauptung Europas in einem globalen Wettbewerb.

* Hannes Androsch, Was jetzt zu tun ist, Brandstätter, Wien 2020.

** Grundsatzprogramm der SPÖ, Krems 2018.


Hans Rosling: Der Darling der Neoliberalen

7. Dezember 2020

Der an Bauchspeichelkrebs verstorbene schwedische Mediziner Hans Rosling hat gemeinsam mit seiner Familie ein Buch verfasst mit dem Titel: Factfulness*. Voller „Fakten“ über verschiedene Aspekte der Entwicklung der Welt ist dieses Buch tatsächlich. Sein Motiv für das Buch und die zahllosen Vorträge, die er über viele Jahre hinweg gehalten hat: Die Menschen, die die Welt viel pessimistischer sehen, als sie in Wirklichkeit sei – vor allem in den wohlhabenden Ländern – durch Fakten aufklären. Rosling sagt, er hätte herausgefunden, dass die Mehrheit der Menschen, die Lage bei Armut, Bildung und Gesundheit wesentlich schlechter einschätzte, als die tatsächlichen Faktenlage sei. Seine Arbeit solle die Instinkte hinter diesem Pessimismus aufzeigen (Kluft, Negativität, Angst, Verallgemeinerung, Schuldzuweisung, Dringlichkeit usw.) und diese mit den Fakten konfrontieren, um so ein Umdenken auslösen.

Gibt es an dieser Aufgabe etwas auszusetzen? Nun, dass neoliberale Think Tanks in letzter Zeit die Arbeit von Rosling in höchsten Tönen loben, sollte zu denken geben. Und tatsächlich, wenn man bei Rosling genauer hinsieht, wird offensichtlich, dass einige Teile seiner Ergebnisse für ein zutiefst ideologisches Programm benutzt werden können. Mit der Betonung des Faktencharakters soll dies gerade verschleiert werden.

Rosling soll natürlich nicht mit der ideologischen Ausschlachtung durch die neoliberalen Denkfabriken gleichgesetzt werden. Sein Buch zeigt interessante Entwicklungen auf und fesselt durch die Schilderung seiner Erfahrungen als junger Arzt in Afrika und in einer Notaufnahme in Schweden. Einiges an seiner Kritik an der Medienlogik ist durchaus berechtigt. Selbstverständlich sind Medien davon getrieben, durch Dramatisierung Aufmerksamkeit zu erlangen. Und selbstverständlich darf man seine Augen nicht vor den Fakten verschließen, die Auskunft über globale Entwicklungen geben.

Rosling macht es mit einigen seiner Daten den Neoliberalen jedoch viel zu leicht, dass man ihn instrumentalisiert. Von dieser Schuld kann er nicht einfach freigesprochen werden. Er selbst stellt seine Fakten als Gegensatz zur Ideologie dar (z.B. amerikanisches Gesundheitssystem, Kuba). Tatsächlich erlangen Fakten erst im Rahmen der richtigen Ideologie ihre Bedeutsamkeit.

Roslings Methode

Sehen wir uns zwei Beispiele aus seinem Buch an, um die problematische Seite an seiner Arbeit aufzuzeigen. Seine erste Frage an das Publikum in seinen Vorträgen lautet: Wie viele Mädchen absolvieren heute die Grundschule in den Ländern mit niedrigem Einkommen? A: 20 Prozent; B: 40 Prozent; C: 60 Prozent? Die richtige Antwort ist C und das wird von den meisten falsch beantwortet. Wenn 60 Prozent der Mädchen in diesen Ländern die Grundschule absolvieren, dann ist ja alles gut. Moment mal! 60 Prozent ist der höchste Wert der möglichen Antworten. Ist das aber auch ein Wert, der als positiv zu bewerten ist? Nein, natürlich nicht. Zufriedenstellend wäre erst ein Wert über 95 Prozent. Wenn Rosling nur unbefriedigende Optionen abfragt,  suggeriert das: Ist  der höchste dieser Werte korrekt, dann steht es gut um unsere Welt. Außerdem lässt Rosling die Testpsychologie außer Acht: Wenn Menschen bei einer Antwort unsicher sind, wählen sie eher die mittlere Option. Das unterscheidet sie von dem von Rosling bemühten Zufallsgenerator Schimpanse.

Worauf sich Rosling sehr stark fokussiert, das ist, die Veränderungen zum Positiven hervorzuheben. Die Kindersterblichkeit ist gesunken, die Rate der geimpften Kinder ist gestiegen, die Lebenserwartung ist gestiegen, die extreme Armut hat abgenommen. Wenn etwas besser geworden ist, dann muss doch jeder zustimmen, dass unsere Welt sich positiv verändert hat. Das ist das, was die Neoliberalen an Roslings Arbeit schätzen. Sie es erlaubt ihnen, diese Entwicklung als Erfolg ihrer Ideologie darzustellen. Rosling betont jedoch, dass etwas, das sich verbessert hat, noch immer schlecht sein kann. Aus meiner Sicht gilt dies insbesondere für die globale Armut, wo es Verbesserungen gibt, aber die Mehrheit der Menschen noch immer in Armut lebt. Wie sieht das jedoch Rosling? Das zeigt das zweite Beispiel.

Armut und Reichtum im globalen Maßstab

Die dazugehörige Frage Roslings lautet: Wo lebt die Mehrheit der heutigen Weltbevölkerung? A: In Ländern mit geringem Pro-Kopf-Einkommen? B: In Ländern mit mittlerem Pro-Kopf-Einkommen? C: In Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen? Die richtige Antwort ist: 75 Prozent der Weltbevölkerung lebt in Ländern mit mittlerem Pro-Kopf-Einkommen. Hier ist überraschenderweise nicht der beste Wert die richtige Antwort. Der Clou dabei ist jedoch, wie Rosling diese Ländergruppen definiert. Er verteilt die Weltbevölkerung in vier Gruppen: Stufe 1: Pro-Kopf-Einkommen weniger als 2 Dollar pro Tag. Stufe 2: Pro-Kopf-Einkommen weniger als 8 Dollar pro Tag. Stufe 3: Pro-Kopf-Einkommen weniger als 32 Dollar pro Tag. Stufe 4: Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 32 Dollar pro Tag. Rund eine Milliarde Menschen lebt auf Stufe 1, rund drei Milliarden auf Stufe 2, rund zwei Milliarden auf Stude 3, rund eine auf Stufe 4. Indem er die beiden mittleren Stufen zusammenfasst, kommt Rosling zu dem Ergebnis, dass 75 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern mit mittlerem Pro-Kopf-Einkommen lebt.

Man kann ruhig eingestehen, dass sich der Anteil der Weltbevölkerung, der in extremer Armut lebt, also weniger als 2 Dollar am Tag zur Verfügung hat, in den letzten zwanzig Jahren deutlich verringert hat; Rosling sagt, dass er sich halbiert hat. Das bedeutet aber nicht, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung der Mittelschicht angehört und es daher keine Kluft zwischen Reich und Arm mehr gibt, wie uns Rosling suggerieren möchte. Nach den Maßstäben von reichen Ländern wie Schweden oder Österreich sind alle Menschen auf den Stufen 1 bis 3 arm! Mit weniger als tausend Dollar im Monat ist man hier kein Teil der Mittelschicht. Es hat Fortschritte bei der extremen Armut gegeben – keine Frage. Damit ist das Problem der Kluft zwischen Reich und Arm aber nicht aus der Welt geschafft. In der Reichenforschung, auf die Rosling überhaupt nicht eingeht, befasst man sich nicht mit Personen, die mehr als tausend Dollar im Monat verdienen. Erstens sieht man sich nicht das Einkommen, sondern das Vermögen an, weil hier die Kluft noch viel größer ist. Zweitens liegt das oberste 1 oder gar 0,1 Prozent in ganz anderen pekuniären Sphären als die von Rosling herangezogenen Grenzwerte: Es geht bei Reichtum um Multimillionäre und Milliardäre, die ihren Reichtum dafür nutzen können, Einfluss auf die Politik zu nehmen.

Der Heros der Neoliberalen

Die neoliberalen Think Tanks lieben an Rosling, dass er durch die geschickte Wahl seiner Abstufungen, es nahezulegen scheint, man müsse optimistisch auf die Welt blicken, da sie sich in eine gute Richtung entwickelt. Der höchst ideologische Charakter der Arbeit von Rosling liegt darin, dass er durch die geschickte Aufbereitung von Fakten neoliberale Denkfabriken mit jener Munition versorgt, die Kritik am ungerechten Zustand der Welt zum Schweigen  bringen soll. Das Aufzeigen von Ungerechtigkeit wird als ein Pessimismus diagnostiziert, der durch das Verbreiten der objektiven Fakten über die Welt geheilt werden kann. Wie schon oben gesagt: Rosling erlaubt dem Neoliberalismus, sich für die positive Entwicklung auf die Schulter zu klopfen.

Dafür wird er von ihnen in den Olymp unter den Sachbuchautoren erhoben. Sie sind ihm unglaublich dankbar dafür, dass er nahelegt, der Feldzug für mehr Gerechtigkeit sei nicht mehr notwendig, weil sich die Welt ohnehin auf dem richtigen Weg befinde. Mit Roslings Abstufungen können sie behaupten, es gebe in den wohlhabenden Ländern gar keine Armut mehr. Niemand befindet sich hier auf Stufe 1 oder 2. Dies impliziere auch, mit den horrenden Auswüchsen des Reichtums müsse man sich nicht befassen. Rosling eilt ihnen hier leider zu Hilfe, indem er die Beschäftigung damit dem Instinkt der Kluft zuordnet, der einen Gegensatz dort suche, wo er nicht vorhanden sei. Dieser Instinkt übersehe nämlich, dass die Mehrheit der Menschheit (laut Roslings Abstufung) auf mittlerem Niveau lebe. Wie wir weiter oben aufgezeigt haben, geht dies auf die Definition der Abstufungen zurück. Zieht man andere Maßstäbe heran, die die Situation adäquater beschreiben, befindet sich die Mehrheit der Menschheit nach wie vor in Armut, lediglich die extreme Armut hat abgenommen; und der Reichtum bedroht Demokratie und Zusammenhalt der Gesellschaft.

Fakten und Ideologie

Die Aufgabe der Kritik von linker Seite ist es, dieses durchschaubare Manöver den neoliberalen Denkfabriken (und auch Rosling) nicht durchgehen zu lassen. Man muss die Menschen verstärkt darüber aufklären, dass nicht nur Fake News in die Irre führen.  Fakten können geschickt aufbereitet werden, sodass ihre ideologische Funktion übersehen wird. Fakten sind keine Garantie, auf der richtigen Seite zu stehen. Wir müssen verstärkt jene intellektuellen Kompetenzen vermitteln, die es erlauben zu durchschauen, wenn Fakten in den Dienst einer falschen Ideologie gestellt werden.

Wenn Neoliberale Fakten auf dem Präsentierteller feilbieten, kann man sich darauf verlassen, dass diese Fakten dem Zweck dienen, ihre Ideologie gegen Kritik zu immunisieren. Es wird dabei nicht der Schleier der Maya gelüftet, sondern es wird versucht, die Möglichkeiten des kritischen Denkens unter einer geschickt zusammengetragenen Faktensammlung zu ersticken.

Der Kampf gegen Ungleichheit muss weiterhin ganz oben auf der Agenda stehen.

*Hans Rosling, Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Berlin 2018.


Gerhard Zeiler: Leidenschaftlich rot. Darum mehr Sozialdemokratie

13. Dezember 2019

Der Medienmanager Gerhard Zeiler hat ein Buch über die Sozialdemokratie geschrieben. Von manchen wird es als Bewerbungsschreiben für die Funktion des Parteivorsitzenden angesehen. Er bestreitet dies entschieden.

Die Familie und Sinowatz

Stark ist das Buch, wenn er von seiner Familie erzählt, z.B. dem Großvater, der als gelernter Drucker von Jugend an in der Gewerkschaftsbewegung aktiv war und Tränen in den Augen hatte, als Franz Jonas zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Oder wenn er von der Vaterfigur Fred Sinowatz erzählt. Über dessen Credo sagt er: „Er nahm sich selbst nie wichtig, stellte immer das Resultat in den Vordergrund.“ (S. 45) Zu Unrecht sei Sinowatz unterschätzt worden, weil er darauf hinwies, dass „die Welt, in der wir leben, vielschichtig und komplex ist“. (S.49) Seine Einschätzungen zu anderen Persönlichkeiten wie Franz Vranitzky, Gerhard Schröder, Angela Merkel oder Emanuel Macron muss man nicht zu hundert Prozent teilen.

Man gut verstehen, wenn er nach der Schilderung seiner Teilnahme an Protesten gegen den Vietnam-Krieg konstatiert: „Es gab allerdings kein Ereignis, das mich mehr politisierte als der Putsch vom 11. September 1973 gegen die Regierung Salvador Allendes in Chile.“ (S. 42)

Vom Neoliberalismus infiziert

Aber warum übernimmt er dann neoliberale Ansichten, wo er doch das Ereignis beklagt, wo der Neoliberalismus seine hässlichste Fratze gezeigt hat? Unter dem Titel „Neudefinition der Staatsaufgaben“ stellt er beispielsweise die Überlegung an: „Auch im Sozialbereich sollten wir- vorsichtig – den Grundsatz überdenken, dass alle Sozialleistungen für jede Bürgerin und jeden Bürger gleich sein müssen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass gewisse Sozialleistungen, wie etwa Familienbeihilfen, nur für wirklich Bedürftige vorgesehen sind.“ (S. 162f.) Diese Haltung ist nicht sozialdemokratisch, sondern konservativ und neoliberal. Letztere wollen Sozialleistungen nur für jene, die sonst verhungern oder auf der Straße landen würden. Beim sozialdemokratischen Zugang steht beim Sozialsystem im Vordergrund, dass jene, die nicht auf Sozialleistungen angewiesen sind, diese durch ihre angemessene Steuerleistung finanzieren. Dass der neoliberale Virus noch nicht die völlige Kontrolle übernommen hat, zeigt das Bekenntnis von Zeiler zu einem progressiven Steuersystem, das auch Erbschaften besteuert. Allerdings ist diese Haltung kein sozialdemokratisches Alleinstellungsmerkmal, sondern im klassischen Liberalismus ebenfalls selbstverständlich.

Macron statt Corbyn

Den Kopf muss man schütteln, wenn er Macron für sein „fortschrittliches sozial-liberales Konzept“ (S. 115) lobt und der Corbyn der traditionalistischen Auffassung des „Zurück zur reinen Lehre“ bezichtigt (Ebd.). Zurück hinter das Godesberger Programm der SPD ist ein Schritt in die Zukunft der Sozialdemokratie, da der dritte Weg gezeigt hat, wer dem Kapitalismus Zugeständnisse macht, führt die Sozialdemokratie in die Bedeutungslosigkeit.

Ein Programm für die SPÖ

Große Teile des Buches befassen sich damit, der SPÖ programmatische Ratschläge zu erteilen. Gleich zu Beginn empfiehlt er seiner politischen Heimat die Verortung als „Partei der linken Mitte“ (S. 12), die sich auf Jugend und Frauen fokussiert, sowie unter Führung von Rendi-Wagner eine Minderheitsregierung von Kurz akzeptieren solle – wenn  bloß ein Nettomindestlohn von 1.700 Euro und eine CO2-Abgabe mit sozialem Ausgleich ungesetzt wird (S. 15).

Dazu muss erstens gesagt werden, die Rede von der politischen Mitte eine psychologische Funktion erfüllt: Die Angst vor den Extremen nehmen. Eigentlich gibt es, mit Isolde Charim gesprochen, die politische Mitte nicht. „Sie wird von jenen hergestellt, die sich durchsetzen.“

Zweitens ist ihm beizupflichten, dass gerade bei den Frauen und der Jugend die Chancen der SPÖ liegen. Schade also, dass Rendi-Wagner erstere als Wähler leider nicht genügend überzeugt hat.

Drittens: Pro und Contra für eine Minderheitsregierung Kurz sind reine strategische Spiele, die die SPÖ in der schwierigen aktuellen Situation nicht weiterbringen.

An späterer Stelle formuliert er als Grundpfeiler einer sozialdemokratischen Politik: 1. Zum Frieden in der Welt beitragen. 2. Der zunehmenden Ungleichheit entgegentreten. 3. Den fortschreitenden Klimawandel bekämpfen. 4. Die Digitalisierung aktiv gestalten. 5. Bildung für alle zu einem zentralen politischen Thema machen. 6. Das Thema Sicherheit nicht den Rechtspopulisten überlassen. 7. Für einen starken und effizienten Staat eintreten. 8. Für ein starkes Europa eintreten. Hier kann man durchaus ein Stück des Weges mit ihm gehen. Aber ein klares Veto steht an, wenn er sagt: „Es geht um die Reform des kapitalistischen Systems, nicht um seine Überwindung.“ (S. 31) Die vielen Jahre als Manager im Medienbetrieb hat ihn vergessen lassen, was er in der Sozialistischen Jugend gelernt hat.

Migration

Zur Migration stellt er zehn Thesen auf, denen die SPÖ zu folgen habe. Diese sind großteils eine Gratwanderung zwischen Humanismus und Populismus, da er sich zum Recht auf Einwanderung bekennt, aber ohne Bedenken unter Berufung auf Sarah Wagenknecht konstatiert: „Wer die Gastfreundschaft verletzt, hat das Gastrecht verloren.“ (S. 126) Bejaht er somit auch eine Abschiebung von Straffälligen nach Afghanistan? Die Forderung nach einem Marshallplan für Afrika verdient jedoch die uneingeschränkte Zustimmung.

SPÖ neu

Im letzten Teil geht er explizit auf das politische Programm für eine neue SPÖ ein: 1. Die SPÖ ist die Schutzpartei der sozial Schwächeren, die Partei des sozialen Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit. Gleich der erste Teil ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Der Begriff „sozial Schwache“ ist erstens schlecht gewählt, weil die damit gemeinten nicht „sozial“ schwach sind, sondern aufgrund prekärer finanzieller Verhältnisse einer adäquaten gesellschaftlichen Teilhabe verlustig gehen. Selbstverständlich muss die Sozialdemokratie für die damit gemeinten da sein – denn sonst ist es niemand. Aber das eigentliche Ziel der Sozialdemokratie ist, dass Menschen nicht unter solchen Bedingungen leben müssen. Wenn er im Kampf gegen Armut einen gesetzlichen Mindestlohn fordert, wünscht man sich, er könnte sich mit seinem Großvater darüber austauschen, warum das Aufgabe von Gewerkschaft und Sozialpartnerschaft ist.

Verstanden hat Zeiler allerdings, warum die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht das Allheilmittel für ein Sozialsystem der Zukunft bereithält.

  1. Die SPÖ steht im Kampf gegen den Klimawandel … an vorderster Front. „Denn wenn die SPÖ sich nicht in die erste Reihe des Kampfes gegen den Klimawandel stellt, wird sie – völlig zu Recht – keine Option für die Jugend bei künftigen Wahlgängen mehr sein.“ (S. 150f.) In diesem Punkt ist im vollkommen zuzustimmen.
  2. Die SPÖ ist eine wirtschaftsfreundliche Partei („Weil man die Kuh, die man melken will, nicht schlachten soll.“) Geschickt greift Zeiler hier auf Anton Benya zurück, um zu kaschieren, dass seine Ansichten in diesem Punkt wie die eines WKÖ-Funktionärs klingen: für Arbeitszeitflexibilisierung, gegen Ladenschlusszeiten. Den Slogan „Menschen statt Konzerne“ erachtet der Manager eines internationalen Medienkonzerns als „falsche Polarisierung“ (S. 154), die keine Wählerstimmen bringt. Die SPÖ möge durchaus eine „wirtschaftsfreundliche“ Partei sein – aber gewiss darf sie dem Kapitalismus nicht freundlich gesinnt sein.
  3. Die SPÖ ist … die Partei der Bildungsreformen. Die gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen und die Ganztagsschule sind langjährige Forderungen der Sozialdemokratie. Die Forderung nach einem zweiten verpflichtenden Kindergartenjahr ist unter den PädagogInnen weit verbreitet, aber kein „sine qua non“ sozialdemokratischer Bildungspolitik.
  4. Die SPÖ steht für Sicherheit und den Kampf gegen Kriminalität. Da von rechter Seite die Angst vor Kriminalität erfolgreich instrumentalisiert wird, sieht sich Zeiler genötigt, zu behaupten: „Zum Begriff Sicherheit muss sich die Sozialdemokratie ohne Wenn und Aber bekennen.“ (S. 157) Hier gibt das Sprichwort zu bedenken: „Warum zum Schmiedl gehen, wenn man den Schmied haben kann?“
  5. Es ist eine Neudefinition der Staatsaufgaben und auch der Staatsaufgaben erforderlich. Zu diesem Punkt wurde schon an früherer Stelle angemerkt, dass sich hier ein deutlicher Ausfluss von neoliberaler Ideologie bemerkbar macht. Der Staat ist für die Sozialdemokratie eben nicht auf die Schutz- und Kontrollfunktion zu reduzieren. Kurz blitzt bei Zeiler auch ein Keynesianisches Momentum auf, wenn er den „Investitionsauftrag“ (S. 161) des Staates einmahnt.

Schlussfolgerung

Kurz vor dem Ende fordert Zeiler: „Die SPÖ muss wieder Selbstbewusstsein ausstrahlen und mit einer Portion Optimismus die Zukunft gestalten wollen. Will sie Wahlen gewinnen, muss sie die Debatte über die Zukunft führen.“ (S. 164) Leider muss man aufgrund seiner Ausführungen in diesem Buch zu dem Schluss kommen: Er wäre wohl nicht der Richtige an der Spitze, da er in erster Linie das wiederholt, was wir schon so oft von den Vertretern des dritten Weges gehört haben.

 

Zeiler_BuchGerhard Zeiler

Leidenschaftlich rot. Darum mehr Sozialdemokratie

167 Seiten. EUR 22,–

Brandstätter. Wien 2019.


Quo vadis veritas? Mateschitz und die Wahrheit über die Verteilung des Reichtums

19. April 2017

Didi Mateschitz ist für seine Scheu gegenüber den Medien bekannt. Vor kurzem hat er aber der Kleinen Zeitung ein langes Interview gewährt. Dass kurze Zeit später sein eigenes Medienprojekt „Quo vadis veritas“ durchsickerte, war bestimmt nur ein Zufall.

Im Interview lässt er kein gutes Haar an der heimischen Politik und er geißelt diese für ihre zunächst offene Flüchtlingspolitik. Die Willkommenskultur verurteilt Mateschitz als völlig verkehrten Ansatz in einer globalen Wanderbewegung aus armen in reiche Länder. Sein Resümee zum Versagen der Politik: „Würde man in einem Unternehmen Fehlentscheidungen dieser Tragweite treffen, wäre man in Kürze pleite. Wie konnte die Politik überrascht gewesen sein? Man muss blind und taub gewesen sein, um nicht zu sehen, was da auf uns zukommt. Und selbstverständlich hätte man die Grenzen schließen und ordentlich kontrollieren müssen, gar keine Frage.“

Zu all dem wäre viel zu sagen. An dieser Stelle will ich mich auf eine ganz speziellen Aspekt des Wahrheitsverständnisses von Mateschitz konzentrieren. Vom Reporter wird er immer wieder auf seinen Reichtum angesprochen, der sich in seiner Platzierung als vermögendster Österreicher in der Forbes-Reichenliste widerspiegelt. Die Bedeutung seines Reichtums spielt Mateschitz mehrfach  hinunter. Dieser stecke im Red Bull-Imperium – und sei für ihn persönlich nicht unmittelbar greifbar. „Aber der Erfolg, der da abgebildet wird, ist in Wahrheit nicht relevant, wird einem als normalem Menschen auch nie bewusst, Gott sei Dank“, sagt er.

Als ihm die ständige Bezugnahme auf die Forbesliste schließlich zu viel wird, reagiert er mit folgender Ansage: „Wenn Sie das ganze Vermögen der vorhin strapazierten ,Forbes’-Liste auf die restliche Menschheit aufteilen, merken Sie nicht einmal was davon.“ Wie ist es um die Wahrheit dieser Aussage bestellt? Wie würde sich die Verteilung des Vermögens auf der Forbesliste auf die Ärmsten in der Welt auswirken?

Allein die ersten Hundert der Reichenliste haben ein Gesamtvermögen von 2,37 Billionen US-Dollar. Verteilt man dieses Vermögen auf die 7,4 Milliarden Menschen weltweit, bleiben jedem Einzelnen rund 320 US-Dollar. Berücksichtigt man sogar die ersten 500, kommt man auf ein Gesamtvermögen von mehr als 3 Billionen US-Dollar. Damit blieben bei einer Umverteilung für jeden Weltbürger mindestens 400 US-Dollar. Ein historisches Flugzeug oder eine Fidschiinsel kann man sich nicht dafür kaufen, aber das ist mehr als die Menschen in den ärmsten Ländern Afrikas jährlich als Einkommen zur Verfügung haben. Davon, dass eine solche Umverteilung nicht spürbar wäre, kann also nur für Milliardäre gelten, nicht für die Menschen in den ärmsten Ländern der Welt!


Branko Milanovic und Tony Atkinson – ein Vergleich

21. Dezember 2016

atkinsonTony Atkinson und Branko Milanovic verbindet, dass sie beide wertvolle Beiträge zur Ungleichheitsforschung geleistet haben. Ersterer hat sich über Jahrzehnte in den USA und in Großbritannien mit dem Thema Verteilung befasst, obwohl dieses Thema lange Zeit wenig Ansehen in der Mainstreamökonomie hatte. Mit über 70 Jahren hat er 2015 im Anschluss an das viel beachtete Buch von Thomas Piketty „Capital in the 21st Century“ sein Werk „Inequality. What can be done?“ veröffentlicht. Dort stellt er eine Vielzahl von Vorschlägen vor, die die wachsende Ungleichheit in und zwischen den Ländern eindämmen könnten. Da die Wirtschaftsgeschichte belegt, dass es Zeiten mit sinkender Ungleichheit gegeben hat, ist er überzeugt, dass daraus Maßnahmen abgeleitet werden können, die den aktuellen Trend zu mehr Ungleichheit umkehren.

 

milanovicLetzterer hat viele Jahre lang in der Weltbank zur globalen Ungleichverteilung geforscht und dazu mehrere Bücher verfasst. In seinem aktuellen Buch „Global Inequality“ betrachtet er Migration als den maßgeblichen Weg für Menschen aus armen Regionen, um dieser Situation zu entkommen. Gesamt betrachtet kommt er zu dem Ergebnis, dass global die Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten abgenommen hat, da bevölkerungsreiche Schwellenländer wie China und Indien aufholen konnten.

 

Für Atkinson greift Pikettys Urteil, dass im Wesentlichen nur die beiden Weltkriege durch Zerstörung für eine vorübergehende Trendumkehr in der Ungleichverteilung gesorgt haben, zu kurz. Anhand der USA zeige, wo der 2. Weltkrieg keine Zerstörung brachte, dass bestimmte politische Maßnahmen (in diesem Fall der New Deal unter Roosevelt) für eine Abnahme der Ungleichheit sorgen können. Auch die Entwicklung in Europa bis in die Siebzigerjahre sei ein Beleg dafür, dass mehr Verteilungsgerechtigkeit durch ein progressives Steuersystem und Ausbau des Wohlfahrtsstaates erreicht werden kann.

 

Für Milanovic ist die Mittelschicht der westlichen Industriestaaten der Verlierer der globalen Entwicklung. Während in Schwellenländern eine Median-Klasse entstand (die im Vergleich mit dem Westen immer noch arm ist), kam die Mittelschicht in den letzten Jahrzehnten nicht voran. In den USA musste die Mittelschicht sogar Einkommensverluste hinnehmen. Einige Jahre konnte das durch Kredite und steigende Häuserpreise kaschiert werden – mit dem Platzen der Immobilienblase war es damit vorbei. Vorschläge, wie die Situation der Mittelschicht in Europa und den USA verbessert werden kann, hat er mit Ausnahme der Verbesserung der Chancengleichheit durch Bildung nicht wirklich anzubieten, da er nicht glaubt, dass sich alle Länder auf ein gemeinsames Vorgehen einigen können.

 

Die konkrete Liste von Atkinsons Vorschlägen zur Minderung der Ungleichheit sieht wie folgt aus:

  1. Der Staat sollte gezielt Innovationen fördern, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern und menschlicher Arbeit Vorrang einräumen.
  2. Der Staat sollte bestrebt sein, angemessene Machtverhältnisse zwischen den Interessengruppen auf dem Arbeitsmarkt herzustellen – beispielsweise durch Stärkung der Gewerkschaften und anderer gesellschaftlicher Gruppen.
  3. Der Staat sollte Menschen, die Arbeit suchen, einen garantierten öffentlichen Arbeitsplatz zum Mindestlohn anbieten.
  4. Der Staat sollte einen gesetzlichen Mindestlohn festlegen und mit den Sozialpartnern eine Richtlinie für die Bezahlung über dem Mindestlohn festlegen.
  5. Die Regierung sollte ihren Bürgern staatliche Sparbriefe mit garantierten Zinsen anbieten.
  6. Mit Erreichen der Volljährigkeit sollte jeder ein Mindesterbe erhalten.
  7. Der Staat sollte eine öffentliche Investitionsbehörde gründen, die einen Staatsfonds verwaltet und den Nettowert des Staats durch Investitionen in Unternehmen und Immobilien erhöht.
  8. Reiche sollten höhere Einkommensteuern zahlen.
  9. Geringe Erwerbseinkommen sollten steuerlich besonders stark entlastet werden.
  10. Der Staat sollte eine Lebenszeit-Kapitalzugangssteuer einführen: Dabei werden mehrere Erbschaften oder Schenkungen im Laufe eines Lebens zusammengezählt.
  11. Die Grundsteuer sollte an die aktuellen Immobilienbewertungen geknüpft werden.
  12. Alle Kinder sollten ein Kindergeld in beträchtlicher Höhe bekommen.
  13. Auf nationaler Ebene sollte ein Partizipationseinkommen eingeführt werden – eine Art Grundeinkommen für alle, die sich in irgendeiner Form in die Gesellschaft einbringen.
  14. (Alternative zu 13) Eine reformierte Sozialversicherung – mit höheren Leistungen und einem größeren Kreis von Berechtigten.
  15. Die reichen Länder sollten sich das Ziel setzen, ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit aufzuwenden.

Messi, Ronaldo und Co: Woher kommt die Gier?

11. Dezember 2016

football_leaksStars wie Lionel Messi und Cristiano Ronaldo erhalten 27 Millionen Euro oder mehr von ihren Fußballclubs. Dazu kommen Werbeeinnahmen in etwa gleicher Höhe. Letzterer soll 20 Autos in seiner Garage stehen haben: darunter ein Bugatti Veyron, ein Lamborghini Aventador, ein Audi RS6 Avant (das Dienstauto), ein Ferrari usw. Man sollte also meinen, dass Menschen wie Messi und Ronaldo auch nach Abzug der Steuern ein Leben in Saus und Braus genießen können. Der Anreiz der Steuerhinterziehung sollte bei ihnen keine Rolle spielen.

 

Und doch wurde Messi im Juli 2016 zu 21 Monaten bedingter Haftstrafe verurteilt, weil sein Vater und er über Scheinfirmen in Belize und Uruguay zwischen 2007 und 2009 Steuern in Höhe von insgesamt 4,16 Millionen Euro hinterzogen haben sollen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann auch Ronaldo ein ähnliches Urteil ereilen wird. Denn die in Zeitungen wie Falter und „Der Spiegel“ veröffentlichten Enthüllungen von Football-Leaks versichern glaubhaft, dass Ronaldo mit Hilfe seines Beraters Jorge Mendes über eine Briefkastenfirma auf den British Virgin Islands viele Jahre lang lukrative Werbeeinnahmen an den spanischen Steuerbehörden vorbeigeschleust hat.

 

FC Barcelona und Real Madrid verfügen über eine treue und begeisterte Anhängerschaft. Woche für Woche sind das Camp Nou und das Estadio Santiago Bernabéu mit 80.000 bis 100.000 BesucherInnen gefüllt. Spanien und damit auch Katalonien leiden seit 2008 unter den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosigkeit, vor allem unter den Jugendlichen, ist sehr hoch in Spanien. Trotzdem sind die Stadien voll und Ticketpreise von 50 Euro aufwärts (für den El Classico noch weit mehr) schrecken die Fans nicht ab. Auch die Fanartikel der beiden Klubs sind hoch begehrt. Für ein Originalfußballtrikot der beiden Mannschaften muss man etwa 78 Euro hinlegen. Die Situation in den Heimatländern der beiden Stars ist noch schlimmer. In Portugal wandern viele junge Menschen aus, weil sie in ihrem Land keine Perspektive für sich sehen können. Und Argentinien leidet auch viele Jahre nach der schweren Rezession 1998/99 an den Folgen der Bestrafung durch die Finanzmärkte – als sich das Land 2014 weigerte, alle Schulden zu bedienen.

 

Messi und Ronaldo könnten also dankbar sein, dass das Schicksal es gut mit ihnen meinte und ihnen mit einer herausstechenden Fußballbegabung den Weg in den Reichtum ebnete. Da sie mehr verdienen, als sie bei allem Hang zum Luxus jemals werden ausgeben können, sollten sie mit Freuden einen guten Teil ihres Verdienstes für ihre Steuerleistung hergeben – damit der Staat jene unterstützen kann, die nicht mit ihrem Talent gesegnet sind. Warum ist das nicht so? Warum lassen sie sich von ihren Beratern Konstruktionen aufschwatzen, wie sie ihre Steuerleistung aus den Werbeeinnahmen gegen Null senken? Warum möchten sie nicht nur der weltbeste Fußballer sein, sondern auch ein As bei der Steuervermeidung?

 

Ich denke, hier hat die Philosophie des Neoliberalismus ganze Arbeit geleistet. Das Prinzip des gnadenlosen Wettbewerbs und des Strebens nach dem individuellen Triumph in der Konkurrenz um die höchsten Profite hat einen Sieg auf allen Linien eingefahren. Ronaldo und Co möchten nicht nur stets Torschützenkönig und Weltfußballer des Jahres sein, sondern auch die Liste der reichsten Fußballerspieler anführen. Wer in diesem Wettstreit durch Steuerehrlichkeit einen Wettbewerbsnachteil einräumt, ist gefährdet, dass die Siegerstraße in eine Sackgasse mündet. Und so treibt sie nicht die Freude am Spiel an, das beide mit ihren fußballerischen Künsten so unglaublich bereichern könnten, sondern der Wettbewerb um die Krone, wer den höchsten Profit einstreichen kann.

 

Es ist an der Zeit, dass der Neoliberalismus nicht länger unsere Köpfe und Herzen vergiftet.