Erbschaft und Chancengleichheit

17. August 2010

In der liberalen Philosophie hat die Chancengleichheit den allerhöchsten Stellenwert in Bezug auf Gerechtigkeit. Zugleich aber wird der Schutz des Eigentums als die wesentlich Funktion des Staates angesehen. Wir sollten also erwarten können, dass beide Prinzipien miteinander kohärent sind. Aber ist dem tatsächlich so? Sind das Prinzip der Chancengleichheit und der zum unabdingbaren Grundwert erklärte Schutz des Eigentums wirklich gleichermaßen in einer Gesellschaft verwirklichbar?

John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“, die Klimax der liberalen Weltanschauung im 20. Jahrhundert, kommt ausgehend vom Modell des Urzustands zur Konzeption einer gere chten Gesellschaft, die aus den liberalen Grundprinzipien ihre Postulate gewinnt. Denn Rawls kommt unter Voraussetzung dieses vermeintlich neutralen Modells zu dem Ergebnis, dass eine gerechte Gesellschaft zwei Prinzipien zu erfüllen habe:

  1. „Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System [von Freiheiten] für alle anderen verträglich ist.“ (TG 81)
  2. „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.“ (TG 81)

Das zweite Prinzip (=Differenzprinzip) bei Rawls impliziert zwar, dass eine gerechte Gesellschaft eine soziale Komponente haben muss. Da jedoch bei Rawls das erste Prinzip den Primat gegenüber dem zweiten genießt, sodass etwa die Grundfreiheit des Eigentumerwerbs und -besitzes der Verteilungsgerechtigkeit übergeordnet ist, und da das Differenzprinzip nur eine sehr schwache Ausprägung des sozialen Ausgleichs zulässt, führt die liberale Theorie der Gerechtigkeit dazu, dass zwar die Chancengleichheit als Prinzip beschworen wird, ihre Verwirklichung aber als mögliche Unfreiheit beschränkt wird.

Denn in einer Gesellschaft, die mit einem Erbschaftsrecht dafür Sorge trägt, dass der Schutz des Eigentums in der Form funktioniert, dass das Eigentum von einer Generation auf die nächste übergehen kann, muss mit Recht der Frage nachgegangen werden, welche Auswirkung dies auf die Chancengleichheit in einer solchen Gesellschaft hat. Chancengleichheit ist nämlich nur dann gegeben, wenn alle Mitglieder der Gesellschaft die gleiche Möglichkeit haben, die Chancen auf Entwicklung und Entfaltung zu ergreifen. Aber kann diese Möglichkeit in gleicher Weise gegeben sein, wenn der/die Eine in einer Familie groß wird, wo die finanziellen Ressourcen den Besuch von teuren Privatschulen und elitären Universitäten mit exorbitanten Studiengebühren ermöglichen – während der/die Andere in eine Familie hineingeboren ist, wo furchtbare Armut herrscht, sodass am Ende des Pflichtschulbesuchs in staatlichen Einrichtungen der Erwartungsdruck hoch ist, nun selbst einem Verdienst nachzugehen.

In einem gut entwickelten Sozialstaat wie Österreich wird gerne darauf verwiesen, dass der Besuch staatlicher Schuleinrichtungen gratis sei und ein ausgebautes Förder- und Stipendiensystem dafür sorge, dass alle die Möglichkeit hätten, höhere Bildung zu erwerben. Das soll nicht grundsätzlich bestritten werden. Dennoch sprechen alle Statistiken, die es zu diesem Thema gibt, eine deutliche Sprache: das Bildungssystem in Österreich ist sozial ziemlich undurchlässig! Nur ein geringer Teil der Kinder aus ArbeiterInnenhaushalten schließt ein Hochschulstudium ab – während AkademikerInnenkinder in hohem Ausmaß selbst auch ein Studium abschließen und in weiterer Folge höhergestellte Positionen inne haben.

Wer aus einer wohlhabenden Familie stammt, hat große Chancen im Schottengymnasium, oder gar in Salem zu maturieren, anschließend in Harvard oder Bologna den Master zu machen – und im höheren Management eines Unternehmens zu landen. Wer aus einer Hilfsarbeiterfamilie stammt, wird bestenfalls mit knapper Not die Pflichtschule abschließen und dann einer niederen Erwerbstätigkeit nachgehen, die durch häufige Phasen von Arbeitslosigkeit unterbrochen ist.

Und etwa zwischen 50 und 60 erbt der Spross aus einer wohlhabenden Familie wertvollen Immobilienbesitz, maßgebliche Unternehmensbeteiligungen und einiges an Geldvermögen. Für die eigenen Nachkommen ist also ein Finanzpolster gelegt, sodass sie ebenfalls die beste Ausbildung bekommen können.

Der Spross aus der Unterschichtfamilie schafft es gerade irgendwie, dass seine Eltern während ihrer letzten Lebensphase eine einigermaßen ausreichende Pflege bekommen. Am Ende muss er meist noch etwas drauflegen, wenn er ihnen nach dem Tod ein würdevolles Begräbnis zukommen lassen will. Zu erben gibt es in meisten Fällen nichts – eher noch sind Schulden von nicht abgezahlten Krediten vorhanden. Den eigenen Kindern wird in dieser Situation nahegelegt, möglichst frühzeitig von der Ausbildung in die Erwerbstätigkeit umzusatteln, da die finanziellen Mittel für den Besuch einer höheren Bildungseinrichtung nicht vorhanden sind. Und damit sind wir wieder am Ausgangspunkt der vermeintlichen Chancengleichheit.

Zusammenfassend muss somit der Schluss gezogen werden, dass das Erbschaftssystem in einer Gesellschaft dafür Sorge trägt, dass sich die ungleiche Verteilung von Chancen über Generationen hinweg fortsetzt. Erst durch die Einführung einer praktisch hundertprozentigen Erbschaftssteuer könnte also die Voraussetzung dafür geschaffen werden, dass jeder Bürger die gleiche Chance für eine erfolgreiche Entwicklung erhält. Denn mit einem bestimmten Alter (z.B. mit 21 Jahren) könnte durch diese Einnahmen jeder Staatsbürger die gleiche Summe erhalten (die sich aus der Summe der Erbschaftssteuereinnahmen des Vorjahres ergibt, geteilt durch die Anzahl der Staatsbürger, die diesem Jahr das entsprechende Alter erreichen), die es ihm ermöglicht, entweder eine gute Ausbildung zu finanzieren, den Sprung in die Selbstständigkeit zu wagen oder längere Zeit auf Reisen zu gehen und die Welt kennenzulernen, – oder natürlich auch, unsinnige Konsumausgaben zu tätigen. Mit einer solchen Starthilfe hätte nun tatsächlich  jeder Staatsbürger die gleiche Chance, sich eine selbstbestimmte Existenz unter Ausnutzung aller seiner Möglichkeiten aufzubauen.

Da eine hundertprozentige Erbschaftssteuer jedoch die emotionale Bindung an den elterlichen Besitz vollkommen außer Acht lässt und wohl ein zu großer Bruch mit dem gewohnten System der Vermögensweitergabe wäre, könnte eine Kompromisslösung in einem Modell bestehen, das deutlich weiter geht als die Vorschläge der GPA-djp: Neben einem Freibetrag von EUR 100.000,– für alle Vermögenswerte wird bei Immobilien, die als Eigenheim des Erblassers fungiert haben, bis zu einem Wert von EUR 300.000,– nur eine Erbschaftssteuer von 5% eingehoben, für alle anderen Vermögenswerte ein Steuersatz von 20%. Über dem Wert von EUR 300.000,– sollte der Steuersatz für die Erbschaftssteuer dann generell in mehreren Abstufungen von 20% auf 60% bei einem Wert von mehr EUR 1,000.000,– ansteigen. Diese Einnahmen des Staates sollten, wie oben angeregt, dazu verwendet werden, allen Staatsbürgern mit einem bestimmten Alter die gleiche Starthilfe für den Aufbau einer selbstbestimmten Existenz zur Verfügung zu stellen.


Worauf die Sozialdemokratie dringend eine Antwort finden muss

22. September 2009

MarxAm Sonntag hat die Sozialdemokratie in Österreich im kleinsten Bundesland Vorarlberg eine schmerzlich Niederlage hinnehmen müssen. Nur noch rund 10% der Wähler gaben ihr die Stimme. Damit drohr ihr sogar der Rückfall an die vierte Stelle. Am 27. September finden in Deutschland Bundestagswahlen statt. Die Aussichten der Sozialdemokratie sind sehr ernüchternd. Es droht eine schwere Niederlage und ein deutlicher Abstand zur CDU/CSU. Und wenn sich die Befürchtungen bewahrheiten, dann steht der Sozialdemokratie die Opposition ins Haus, da CDU/CSU wahrscheinlich eine Koalition mit den Liberaldemokraten eingehen.

Diese sehr schwierige Zeit sollte die Sozialdemokratie dafür nützen, um eine Antwort darauf zu finden, wen und wie sie in Zukunft dazu bewegen will, sie zu wählen. Eines ist jedenfalls gewiss, der dritte Weg, New Labour und der Kuschelkurs des es-allen-recht-machen ist gescheitert. Aber bevor wir eine Lösung aufblitzen lassen, blicken wir in die Geschichte zurück. Seit der Abkehr der Sozialdemokratie vom orthodoxen Marxismus stellt sich ihr die Herausforderung, die Menschen für ihr Programm zu mobilisieren. Der orthodoxe Marxismus vertrat zuvor ja einen historischen Determinismus, der von der Grundthese ausging, dass der Natur des Kapitalismus notwendig der eigene Untergang innewohnte: die Arbeiterbewegung musste nur darauf warten, dass dieser Moment eintrat, um die historische Rolle des Proletariats wahrzunehmen. Solange diese Geschichtsteleologie vorherrscht, benötigt die Sozialdemokratie kein wirkliches politisches Konzept der Wählermobilisierung, da der Sozialismus nicht durch demokratische Überzeugungsarbeit, sondern aufgrund einer historischen Notwendigkeit verwirklicht wird.

KautskySobald die Sozialdemokratie mit dem Revisionismus diesen Geschichtsdeterminismus und die damit verbundene Vorstellung einer unumgänglichen revolutionären Umwälzung ablegt und sich dem demokratischen Paradigma verpflichtet, kann sie sich nicht darauf verlassen, dass die Masse der Werktätigen uneingeschränkt hinter ihr steht und ihr in freien, gleichen und allgemeinen Wahlen die Macht sichert. Während der kapitalistisch orientierte Bürgerstaat im 19. Jahrhundert die Machtübernahme der Sozialisten durch seltsame Konstruktionen eines Kurienwahlrechts verhindert, ist es im 20. Jahrhundert zunächst der Nationalismus und Faschismus, der die internationale Einheit der Arbeiterbewegung im Kampf gegen das vom Kapitalismus profitierende Bürgertum verhindert. Und seit Mitte des 20. Jahrhunderts entfaltet der Kapitalismus ein immer größeres Geschick in der sozialen Fragmentierung der Menschen. Dies führt dazu, dass die Werktätigen sich nicht mehr als eine Klasse empfinden, die ein gemeinsames Interesse durch den Gegensatz zu den Produktionsmitteleignern und Finanzkapitaleignern einigt. Besonders durch die Medien, die heute fast ausschließlich im Besitz von riesigen Konzernen sind, wird sichergestellt, dass dieses Bewusstsein eines gemeinsamen Interesses aller Werktätigen nicht mehr entstehen kann.

BernsteinDa die Sozialdemokratie praktisch über keine Medienmacht mehr verfügt, um dieses Bewusstsein zu befördern, resigniert sie vor der Fragmentierung und versucht, alle sozialen Schichten anzusprechen. Außerdem gibt sie mit dem dritten Weg und New Labour den Kampf gegen die kapitalistische Dominanz in Form der neoliberalen Meinungsführerschaft auf. Sie beschränkt sich lediglich darauf, da und dort die Folgen des globalisierten Kapitalismus zu mildern. Nach anfänglichen Erfolgen in Großbritannien und Deutschland tritt schon bald Enttäuschung bei ihren Wählern ein. Und nun befindet sich die Sozialdemokratie in einer schweren Krise, weil sie mit dem dritten Weg den Werktätigkeiten keine wirkliche Identifikation anzubieten hat. Sie hat zwar jeder Wählergruppe in ihrem Programm etwas anzubieten. Aber nichts davon ist überzeugend genug, um eine deutliche Mehrheit der Wähler zu überzeugen: Den willfährigen Ausführungsgehilfen der neoliberalen Ideologie stellen die konservativen Volksparteien überzeugender dar. Und die Enttäuschung jener, die im entfesselten Turbokapitalismus unter die Räder kommen, kann der Rechtspopulismus wesentlich besser politisch ausschlachten. Und jene, die eine soziale und ökologische Erneuerung wünschen, finden ihren Heimat eher bei den Grünen oder Bewegungen, die links der Sozialdemokratie angesiedelt sind.

Wenn die Sozialdemokratie also nicht bald eine Antwort darauf findet, wie sie die Interessen der Werktätigkeiten national und auf europäischer Ebene vertreten kann – und wie sie allen Werktätigkeiten ein Bewusstsein von einer gemeinsamen Interessenlage vermittelt kann, dann wird sie demnächst in die dritte Reihe der politischen Bühne zurücktreten müssen!


Was ist Gerechtigkeit? Aktuelle Positionen in der Philosophie der Gegenwart III

28. Mai 2009

Aktuelle Positionen (Fortsetzung)

Axel Honneth

Axel Honneth kritisiert ähnlich wie die Vertreter des Kommunitarismus, dass die liberalen Gerechtigkeitstheorien als Prämisse von einer Vorstellung ausgehen, nach der die Beteiligten ihre Lebenspläne auf der Grundlage isolierter individueller Freiheitsvorstellungen realisieren wollen. Unter Bezugnahme auf Hegel entwickelt er dagegen ein Bild sozialer Gerechtigkeit, das dadurch bestimmt ist, dass die Beteiligten in Rechnung stellen, dass sie ihre Freiheit nur im Zusammenspiel mit Anderen und deren Freiheitsspielräumen verwirklichen können. Daraus ergibt sich für Honneth, dass Gerechtigkeit nicht anhand zu verbürgender Güter, sondern durch die Ausgestaltung gegenseitiger Verpflichtungen zu bestimmen ist.

Honneth führt aus, dass das Bild vom Schleier des Nichtwissens, das Rawls zur Darstellung der Forderung nach Unparteilichkeit verwendet, „das Faktum der menschlichen Intersubjektivität verschwinden lässt:“ Würden die Beteiligten im Urzustand „eine elementare Kenntnis von ihrer Bedürftigkeit nach Anerkennung besitzen“, […] dann würden sie sich vermutlich auf Gerechtigkeitsprinzipien einigen, die im Unterschied zum Rawlschen Vorschlag dieser sozialen Bedürftigkeit Rechnung tragen würde.“ (Gerechtigkeit und kommunikative Freiheit. Überlegungen im Anschluss an Hegel, S. 5/6, zuerst veröffentlicht in: Barbara Merker/Georg Mohr/Michael Quante (Hrsg.): Subjektivität und Anerkennung. mentis: Paderborn 2004)

Die Ausstattung der Individuen mit ‚subjektiven Rechten‘ ist nicht das Ergebnis einer fairen Distribution, sondern ergibt sich aus dem Umstand, dass sich die Gesellschaftsmitglieder als freie und gleiche anerkennen.“ (GukF, 4) Intersubjektive Beziehungen werden so zu notwendigen Bedingungen individueller Autonomie. Fehlende Anerkennung führt zum Gefühl der Ungerechtigkeit. Dies wird nach Honneth durch empirische Ergebnisse der soziologischen und historischen Forschung ebenso wie durch die Entwicklungspsychologie bestätigt.

Für Honneth verschiebt sich damit die Konzeption der Gerechtigkeit von einer Frage der Verteilung hin zu Grundsätzen, „die sich auf die staatliche Gewährleistung von sozialen Voraussetzungen der wechselseitigen Anerkennung beziehen.“ (GukF, 7) Voraussetzung für eine stabile Beziehung ist die Anerkennung gemeinsamer moralischer Normen, die in einer habituell eingeübten Handlungspraxis wie zum Beispiel der Freundschaft erworben wird. Die Selbstachtung, die bei Rawls ein Grundgut ist, entsteht für Honneth „als das Ergebnis einer gestaffelten Einbeziehung in unterschiedliche Kommunikationssphären, die alle durch eine spezifische Form der wechselseitigen Anerkennung geprägt sind.“ (GukF, 7) Gerechtigkeit ist nicht die Gewährung von individuellen Grundfreiheiten, sondern die egalitäre Ermöglichung von Anerkennungsverhältnissen. Insofern tritt neben die auf dem Recht beruhenden Verteilungsgerechtigkeit auch die Bedürfnisgerechtigkeit, abgeleitet aus dem Prinzip der Liebe, sowie die Leistungsgerechtigkeit, die auf einer fairen Arbeitsteilung basiert und Ausdruck sozialer Wertschätzung ist.

Jürgen Habermas

Jürgen Habermas hat keine eigenständige Rechtsphilosophie entwickelt, sondern seine grundlegenden Überlegungen zu diesem Thema in seine Theorie des kommunikativen Handelns und in die Diskursethik eingebettet. Metaphysische Begründungen des Rechts wie eine gottgegebenes Recht, ein Naturrecht, den Rückgriff auf das Wesen des Menschen, aber auch eine höhere Einsicht der Vernunft lehnt Habermas ab. Im Gegensatz zum Historismus und zum Rechtspositivismus, die sich ihrerseits auf die Untersuchung des empirisch vorhandenen Rechts beziehen, verweist Habermas andererseits darauf, dass das Recht für seine Geltung einer Legitimation bedarf. Eine Reduzierung auf die Faktizität reicht nicht aus. Ohne Legitimation fehlen dem Recht die Akzeptanz der Adressaten und damit deren Bereitschaft, es einzuhalten. In der Geschichte findet sich eine Vielzahl von Beispielen unzureichender Akzeptanz bestehender Rechtsverhältnisse, so in Staaten mit Sklaverei, im Absolutismus, aber auch im liberalen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts. Da gesellschaftliche Entwicklungen dynamisch und komplex sind, erscheint es Habermas nicht möglich, bestimmte Rechtsverhältnisse philosophisch als ideal auszuweisen. Naturrecht und Vertragstheorien können die Lebensverhältnisse sowie die Mobilität und Pluralität der modernen Gesellschaft nicht abbilden.

Allerdings kann man laut Habermas auf den Zusammenhang von Recht und Moral für eine Legitimierung des Rechts nicht verzichten, „ohne dem Recht das ihm wesentlich innewohnende Moment der Unverfügbarkeit zu nehmen.“ (Faktizität und Geltung, 594) Der Ausweg ist für Habermas eine Legitimation durch das Verfahren eines demokratischen Diskurses. Der Rückgriff auf positives Recht allein reicht nicht. Denn positives Recht ist im Extremfall auch im Totalitarismus funktionsfähig. Zur Legitimation bedarf es einer demokratischen Verfasstheit. Dies bedeutet, dass die rechtsetzende Macht selbst an rechtliche Verfahren gebunden ist und die von den Gesetzen Betroffenen durch Beteiligung an deren Entstehung mitwirken. Die Forderung wird erfüllt, wenn die Festlegung der Rechtsnormen sich auf das Diskursprinzip stützt. Durch den Diskurs kann deren Geltung gerechtfertigt werden.

Als Voraussetzung für einen solchen Diskurs fordert Habermas:

  • für jeden ein größtmögliches Maß an gleicher subjektiver Handlungsfreiheit
  • die Bestimmtheit der betroffenen Rechtsgenossen
  • garantierte Rechtswege zur Durchsetzung von Ansprüchen.

Diese allgemeinen Rechtsprinzipien dienen der Orientierung und müssen durch konkrete Regelungen materiell ausgefüllt werden.

Habermas’ diskursethischer Ansatz als reines Formprinzip der Verfahrensgerechtigkeit geht von einer idealen Situation sachkundiger und vernünftiger Teilnehmer am Diskurs aus (ideale Sprechsituation). Aufgrund der tatsächlichen Lebensverhältnisse ist die praktische Umsetzbarkeit zu bezweifeln.

Amartya Sen

Der indische Ökonom Amartya Sen legt seinem Gerechtigkeitskonzept einen differenzierten Freiheitsbegriff zugrunde. Freiheit ist demnach ein intrinsischer Wert, weil sie es dem Menschen ermöglicht selbstbestimmt zu leben. Sie umfasst neben der Abwesenheit von Hindernissen (passive Freiheit) vor allem auch die Möglichkeit, nach eigenen Wünschen zu handeln (aktive Freiheit). Freiheit ist daher ein normatives Ziel, ein Zweck an sich. Eine Gesellschaft ist um so gerechter, je mehr ihre Mitglieder über „Verwirklichungschancen“ (capabilities) verfügen.

Von der konstitutiven (grundsätzlichen) Funktion der Freiheit sind ihre instrumentellen Funktionen zu unterscheiden. Letztere dienen den Menschen als Mittel, den Grundwert der Freiheit und damit die Verwirklichungschancen sicherzustellen. Zu den instrumentellen Freiheiten zählt Sen (OfdM, 52)

  1. politische Freiheiten (Kritik, Widerspruch, Wahlrecht etc.)
  2. ökonomische Institutionen (Ressourcen, Bedingungen des Tausches, Verteilung)
  3. soziale Chancen (Bildung, Gesundheit)
  4. Transparenzgarantien (Pressefreiheit, Informationspflichten z.B. gegen Korruption)
  5. soziale Sicherheit (Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe, Mindestlöhne)

Laut Sen hängt die konstitutive Freiheit von dem Umfang der instrumentellen Freiheit ab. Er zeigt anhand von empirischen Untersuchungen, dass Wechselbeziehungen und Komplementaritäten zwischen den instrumentellen Freiheiten bestehen. Demnach ist Einkommen zwar ein grundlegender Faktor für Wohlstand und damit für Verwirklichungschancen. Jedoch sind andere Faktoren ebenfalls wichtig. So korreliere die Lebenserwartung nicht eindeutig mit dem Einkommen. Denn es gibt Staaten mit einer durchschnittlich vergleichsweise hohen Lebenserwartung, deren durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen deutlich niedriger ist, als dasjenige in anderen Staaten mit geringerer Lebenserwartung.

Zur Bewertung der Gerechtigkeit in einer konkreten Konstellation schlägt Sen vor, den Grad der als „objektive Möglichkeit“ bestehenden Verwirklichungschancen zu messen (Capability-Ansatz). Eine Verwirklichungschance (Handlungsmöglichkeit) bezeichnet Sen als Funktion (functioning). Da Menschen an die Person gebundene Voraussetzungen mitbringen, sich jeweils in unterschiedlichen Situationen befinden, in einen jeweils anderen sozialen Zusammenhang eingebunden sind und jeweils unterschiedliche persönliche Präferenzen haben, sind auch die Verwirklichungschancen für jedes Individuum verschieden. Gemessen wird ein Bündel an objektiv verfügbaren Handlungsmöglichkeiten (agencies), die dem Einzelnen zur Verfügung stehen. So hat der in einer reichen Gesellschaft fastende Mensch andere Handlungsmöglichkeiten im Vergleich zu dem hungernden Menschen in einer armen Gesellschaft.

Um festzulegen, welche Verwirklichungschancen in einer Gesellschaft als wertvoll angesehen werden und den Wohlstand (well being) ausmachen, bedarf es partizipativer sozialer Entscheidungen aufgrund eines demokratischen Diskurses. Auf diese Weise werden die nur für das Individuum festzumachenden Verwirklichungschancen in den gesellschaftlichen Zusammenhang eingebunden. Reale Freiheit fordert somit auch den aktiven Bürger, der seine Chancen durch Teilnahme wahrnimmt. Sen formuliert damit ein republikanisch-liberales Politikverständnis. Der partizipative Diskurs stellt sicher, dass der Capability-Ansatz sich mit der fortschreitenden Entwicklung einer Gesellschaft stetig erneuert und fortgeschrieben wird.

Sen, dessen Ausgangspunkt Überlegungen zur Entwicklungspolitik und zur Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt sind, untersucht Gerechtigkeit unter dem Aspekt, ob sie universell für alle Menschen oder nur partikulär bezogen auf einzelne Nationen angesehen wird.

Je nach Perspektive ergeben sich unterschiedliche Politikansätze. Universalistisch sind, argumentiert Sen, der Utilitarismus oder die Vernunftethik Kants. Partikularistisch ist hingegen der Kommunitarismus, der noch innerhalb einer Nation auf die verschiedenen Perspektiven sozialer Gemeinschaften und gesellschaftlicher Gruppen abhebt. Auch wenn der Universalismus für eine globale Gerechtigkeit eine klare, nicht von der Hand zu weisende Konzeption zu ermöglichen scheine, so sei er mit dem Problem konfrontiert, dass es für seine Durchsetzung einer globalen Institution, etwa einer Weltregierung, mit entsprechender Macht und entsprechenden Ressourcen bedarf. Die hierfür infrage kommenden Vereinten Nationen verfügen jedoch nicht über adäquate Möglichkeiten.

Stattdessen schlägt Sen ein Konzept vor, das er „plurale Einbindung“ (Sen: Globale Gerechtigkeit Nr. 20-21) nennt. Zur Weiterentwicklung einer globalen Gerechtigkeit sollen alle transnationalen Institutionen von zwischenstaatlichen Verträgen über multinationale Unternehmen (beispielsweise in Fragen einer gerechten Entlohnung) bis hin zu sozialen Gruppen und Nichtregierungsorganisationen beitragen.

Der Capability-Ansatz von Sen hat breite internationale Anerkennung gefunden und findet Berücksichtigung in diversen Armutsberichten.

Zusammenfassung

Bezüglich der verschiedenen modernen Positionen zur Gerechtigkeit lässt sich festhalten, dass es beim Thema Gerechtigkeit in vielen Punkte weitgehende Übereinstimmung gibt, z.B. bei der Ausübung der bürgerlichen Freiheitsrechte, der Chanchengkeichheit, auch wenn unterschiedliche Gewichtungen bestehen. Bei der Frage nach Eigentum, Besitz und Vermögen scheiden sich jedoch die Geister. Aufgrund der nach wie vor bestehenden Vorherrschaft liberaler Grundhaltungen ist der Eingriff in diese Sphäre noch immer völlig tabuisiert.

Angesichts des völligen Ungleichgewichts bei Besitz, Eigentum und Vermögen, der heute global betrachtet vorliegt, ist es jedoch fraglich, ob Gerechtigkeit hergestellt werden kann, ohne dass hier ein massiver Einschnitt erfolgen muss.


Was ist Gerechtigkeit? Aktuelle Positionen in der Philosophie der Gegenwart II

28. Mai 2009

Gegenwärtige Strömungen

Nach diesem geschichtlichen Rückblick will ich nun die gegenwärtig vorherrschenen Positionen vorstellen.

John Rawls

Rawls hat mit der Theorie der Gerechtigkeit (TG) 1971 eine grundlegende Diskussion über die Frage der Gerechtigkeit in der politischen Philosophie ausgelöst. Seine Gerechtigkeitstheorie ist eine Vertragstheorie, die in ihren Grundgedanken an Locke und Kant anknüpft, zugleich aber die Frage der sozialen Gerechtigkeit und moderne Methoden der Entscheidungs- und Spieltheorie mit einbezieht. Nach Rawls hat eine Gesellschaft zwei Grundfunktionen: Die Förderung der Interessenharmonie und die Bewältigung von Konflikten. Um diese Aufgaben zu lösen, bedarf es der Gerechtigkeit. Diese ist „die erste Tugend sozialer Institutionen“ (TG, 19). „Es sind Grundsätze nötig, um zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Regelungen der Güterverteilung zu entscheiden und eine Einigung darüber zu erzielen. Das sind die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit: sie ermöglichen die Zuweisung von Rechten und Pflichten in den grundlegenden Institutionen der Gesellschaft, und sie legen die richtige Verteilung der Früchte und Lasten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit fest“. (TG, 21/22) „Der Gerechtigkeitsbegriff ist also für mich definiert durch seine Grundsätze für die Zuweisung von Rechten und Pflichten und die richtige Verteilung gesellschaftlicher Güter. Eine Gerechtigkeitsvorstellung ist eine Ausdeutung dieser Funktion.“ (TG, 26)

Rawls skizzierte diese Theorie durch eine fiktive Ausgangssituation als Urzustand mit folgenden Elementen:

  • Gleichheit: Jeder hat bei der Wahl der Grundsätze die gleichen Rechte.
  • Verbindlichkeit: Jeder stimmt zu, dass beschlossene Grundsätze eingehalten werden müssen.
  • Schleier des Nichtwissens: Niemand weiß, welche Rolle er nach Verabschiedung der Grundsätze in der neuen Ordnung einnehmen wird.
  • Neutralität: Jeder verhält sich bei der Festlegung der Grundsätze neutral in Bezug auf alle anderen Beteiligten.
  • Anerkennung von gesellschaftlichen Grundgütern: Hierzu zählen insbesondere Rechte, Freiheiten und Chancen, Einkommen und Vermögen sowie die sozialen Grundlagen der Selbstachtung.

Wenn diese Grundlagen gegeben sind, können sich die Beteiligten nach Rawls auf zwei Grundprinzipien einigen:

  1. Jede Person hat ein gleiches Recht auf das umfassende System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist.

  2. Soziale und ökonomische Ungleichheiten sind zulässig, wenn sie

a) mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit zur Verfügung stehen.

b) zu einem größeren zu erwartenden Vorteil für die am wenigsten Begünstigten führen (Differenzprinzip).

Als Nebenbedingungen formulierte Rawls zwei Vorrangregeln:

  1. Vorrang der Freiheit: Die Gerechtigkeitsprinzipien stehen in lexikalischer Ordnung (gelten der Reihe nach), das heißt dass die Freiheit nur eingeschränkt werden kann, wenn diese Einschränkung die Freiheit im Gesamtsystem stärkt und alle dieser Einschränkung zustimmen können.

  2. Vorrang der Gerechtigkeit: Die Chancengleichheit hat einen Vorrang gegenüber dem Differenzprinzip, solange die Chancenungleichheit nicht die Situation der Schlechtergestellten verbessert.

Mit diesem Argument trat Rawls für einen Sozialstaat ein, in dem eine Korrektur der Verteilung zugunsten weniger Begünstigter zum Beispiel im Bereich der Bildung legitim ist.

Der Utilitarismus ist eine ethische Position, die die beabsichtigten Folgen von Handlungen bewertet (Konsequenzprinzip). Er steht damit im Gegensatz zu einer deontologischen Ethik wie der Kants, deren Maßstab Handlungszwecke sind. Die Utilitaristen knüpfen an die Auffassung Humes an, dass ethische Werte nicht von sich aus bestehen, sondern erklären sie aus der menschlichen Praxis. Der Maßstab für das ethisch Gute ist allein der Nutzen, den eine Handlung stiftet (Wertprinzip). Insofern spielt Gerechtigkeit ähnlich wie bei Hume im Utilitarismus nur eine sekundäre Rolle, nämlich insofern sie zu einem positiven Nutzen führt. Für den Utilitarismus ist all das gerecht, was den Nutzen vermehrt und den Schaden vermindert. Verteilungen von Gütern und Handlungen werden anhand ihres Nutzens vorgenommen.

Bruce Ackerman

Eine weitere Fassung des politischen Liberalismus formulierte Bruce Ackerman in seinem Buch „Social Justice in a Liberal State“ (SJ). Auch Ackerman verwendet ein Gedankenexperiment zur Verdeutlichung seiner Ideen. In einem Raumschiff wird beratschlagt, wie die Kolonisten für einen Planeten mit der allgemeinen Ressource „manna“ ausgestattet werden sollen. Die einzig überzeugende Verteilung ist für Ackerman die Gleichverteilung. Manna steht dabei als Symbol für Geld in der realen Welt und das Gedankenexperiment dient der Begründung für die Zulässigkeit einer Umverteilung. Ziel der Verteilung ist es, eine „unabhängige Unterschiedlichkeit“ (undominated diversity, SJ, 116) sicherzustellen. Wenn jemand ein Lebensprojekt verfolgt, das allgemein für gut gehalten wird, so hat er einen Anspruch, dass Behinderungen in der natürlichen Ausstattung ausgeglichen werden.

Zur Regelung von Konflikten entwickelt Ackerman ein eigenes Konzept des Diskurses zur Legitimation von Macht in der Gesellschaft. Jeder der Macht ausübt, also nicht nur die Regierung, muss sie gegenüber seinen Mitbürgern legitimieren. Eine solche Legitimation ist dann akzeptabel, wenn sie drei Prinzipien erfüllt:

  • Rationalität: Es müssen sachliche Gründe vorliegen. (SJ, 4)
  • Konsistenz: Die Gründe dürfen in sich nicht widersprüchlich sein. (SJ, 7)
  • Neutralität: Die Gründe dürfen nicht auf einer Werthaltung (Religion, Weltanschauung) beruhen (SJ, 10)

Legt man diese Maßstäbe für den liberalen Dialog (liberal conversation) zugrunde, darf sich nach Ackerman zum Beispiel der Staat nicht in die Religion einmischen (SJ, 111), sind Abtreibungen legitim (SJ, 126/127), ist Zensur nicht erlaubt (SJ, 153) oder haben Privatschulen keinen Anspruch auf öffentliche Förderung (SJ, 160). Begründet ist es auch, wenn eine Gesellschaft Immigration nur solange zulässt, solange die politische Stabilität nicht gefährdet ist (SJ, 95). Die Möglichkeit, Konflikte zu solchen Themen zu lösen, sieht Ackerman in der Ausrichtung der Teilnehmer im Rahmen des liberalen Dialogs auf pragmatische Lösungen. Die ideale Sprechsituation von Habermas lehnt er als kontrafaktisch ab.

Eine neue Diskussion unter dem Stichwort Teilhabegesellschaft hat Ackerman gemeinsam mit Anne Alstott angestoßen, als beide in dem Buch „The Stakeholder Society“ den schon auf Thomas Paine zurückgehenden Vorschlag einer Grundrente aufgriffen und für jeden aus einem zu schaffenden Fonds eine bedingungslose Einmalzahlung in Höhe von 80.000 USD (den üblichen Kosten eines Studiums) zum 18. Lebensjahr vorschlugen. So lassen sich soziale Notlagen von vorn herein zumindest teilweise vermeiden und jeder bekommt eine größere Chance, sich selbst zu verwirklichen. Die Finanzierung des Fonds soll zunächst aus Erbschaft- und Vermögensteuern erfolgen und im zweiten Schritt aus Rückzahlungen der Begünstigten am Ende des Lebens, d.h. dann durch Zahlung des Grundbetrages einschließlich Zinsen aus dem zu vererbenden Vermögen (Bürger-Erbschaft). Lohnzuschüsse betrachten Ackerman/Alstott als reine Wohltätigkeit, die keinen unmittelbaren Bezug zur geforderten Chancengleichheit hat. Aufgabe des Staates ist es, Marktversagen zu korrigieren, nicht aber, in individuelle Lebenspläne einzugreifen Die Einmalzahlung und deren freie Verwendung richtet sich daher auch gegen eine immer stärker zunehmende Fürsorge-Mentalität. Mit der Einmalzahlung erhält der Einzelne eine höhere Verantwortung für das eigene Leben.

Kommunitarismus

1982 erschien Michael J. Sandels Buch Liberalism and the Limits of Justice. Darin setzt sich Sandel kritisch mit einem Hauptwerk der politischen Theorie im 20. Jahrhundert auseinander, der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls aus dem Jahr 1971. „Der Kommunitarismus diagnostiziert im Sinne der Postmoderne eine Krise moderner Gesellschaften (Entsolidarisierung; Werteverfall; Legitimitäts-, Identitäts- und Sinnkrise), als deren Ursache er einen radikalen, von der Ideologie des Neoliberalismus geförderten Individualismus ausmacht, um im Gegenzug die notwendige Rückbesinnung auf Bedeutung und Wert von Gemeinschaft (community) zu fordern.“ (Günter Rieger: Kommunitarismus, in: Dieter Nohlen, Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Bd 1. 2.Aufl. Beck, München 2004, 433)

Der Kommunitarismus begreift den Menschen als soziales Wesen, das notwendig von Kultur und Tradition seines Gemeinwesens geprägt ist. Der Liberalismus gilt unter den Kommunitaristen als selbstzerstörerisch. Die ökonomische Nutzenmaximierung, die Selbstverwirklichung und eine Überbetonung des Individuellen, welches auf Kosten des Gemeinwohls geht, sind kennzeichnend für den Liberalismus. Dem Liberalismus wird deshalb vorgeworfen, dass er dadurch die gemeinschaftlichen Grundlagen seiner eigenen Kultur untergrabe. Diese haben wiederum aber erst Demokratie und Freiheit ermöglicht.

Die Kommunitaristen sehen im Liberalismus und der damit verbundenen „atomisierten Gesellschaft“ die Gefahr, dass der Markt die Macht übernimmt und regiert. Demgegenüber verfolgen die Kommunitaristen eine gemeinwohlorientierte Politik. Hierfür fordern sie mehr bürgerliches Engagement, die Stärkung der Zivilgesellschaft und die Rückbesinnung auf Bürgertugenden des Republikanismus. Als Mittel zum Erreichen dieser Ziele sehen sie hierbei zum Beispiel die Dezentralisierung staatlicher Aufgaben an. Dies soll lokale Gemeinschaften, die direkte Demokratie und eine stärkere politische Bildung fördern.

Dies schließt aber seine Individualität und sein unabhängiges sowie vernünftig begründetes Urteilen nicht aus. Besser wäre es demnach, den Mensch als soziales Individuum zu betrachten. Besonders Charles Taylor und Alasdair MacIntyre haben dies, wie der oben genannte Sandel, deutlich herausgearbeitet. Der Kommunitarismus befürwortet die freie Entfaltung des Einzelnen, solange sie sozial verträglich ist. Im Liberalismus hingegen wird die freie Entfaltung des Individuums oft als wichtiger angesehen – sie soll nur aus sehr wichtigen Gründen eingeschränkt werden.

Den Ursprung der voranschreitenden Individualisierung sehen die Kommunitaristen in dem im 20. Jahrhundert einsetzenden Industriekapitalismus. Waren im 18. und 19. Jahrhundert individuelle Rechte noch in ein Geflecht von Familie, Gemeinde und Glaubensgemeinschaft eingebunden, so wurde im Zuge des Industriekapitalismus die gesellschaftliche Balance zugunsten der ökonomischen Nutzenmaximierung verschoben. Beschränkungen aus der Moral und der Religion verloren immer stärker an Bedeutung. Die Folge war, dass sich die Menschen immer mehr in die Privatheit zurückzogen und bürgerschaftliches Engagement zu einem großen Teil verloren ging. Gleichzeitig etablierte sich dadurch ein bürokratischer Daseins- und Wohlfahrtsstaat, der die Eigeninitiative der Bürger stark einschränkt. (Hans Vorländer: Dritter Weg und Kommunitarismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ). Bonn 16/17.1966; 19)

Robert N. Bellah sieht demnach zwei Strategien, um dieser Entwicklung – hier in der amerikanischen Gesellschaft – entgegenzuwirken. Zum einen sollen alte Gemeinschaftsformen revitalisiert werden. Um dies zu erreichen, will er auf Traditionen, Gewohnheiten und religiöse und bürgerliche Gemeinschaften zurückgreifen. Er argumentiert, dass diese so genannten „social habits“ das gemeinschaftliche Handeln in den USA lange Zeit geprägt haben. (Ebd.)

Zum Zweiten geht es Bellah um die Schaffung neuer Gemeinschaftsformen. So vertritt Bellah die Meinung, wenn alte Gemeinschaftsformen zerstört wurden und nicht wiederbelebt werden können, müssen neue Gemeinschaftsformen geschaffen werden. Aus nachbarschaftlichen Strukturen und zwischenmenschlichen Freundschaften sollen neue Gemeinschaftsstrukturen entstehen. Das angestrebte Ziel Bellahs ist die Wiederherstellung einer „guten Gesellschaft“. In dieser „guten Gesellschaft“ halten sich Individualismus und Gemeinschaftssinn die Waage.

Den Ansichten Bellahs ähnlich ist jene philosophische Spielart des amerikanischen Kommunitarismus, welche „vor allem die vermeintlich atomisierte Schlagseite des Individualismusbegriffs kritisiert“. Sie argumentierte, dass sich das „moderne liberale Selbst nur in einem gesellschaftlichen Zusammenhang entwickeln kann“. (Ebd.) Das „Gute“ vor dem Recht ist demnach ein Leitgedanke der Kommunitaristen. Das „Gute“ beschreibt die gemeinsam geteilten Vorstellungen und Werte einer Gemeinschaft. Weiter wird jede Philosophie kritisiert, die das Individuum als einzigen Träger von Rechten sieht. Die Begründung lautet, „dass Rechte nur in sozialer Praxis ihre Verankerung finden“. (Vorländer 2001, 10)

Den Kommunitaristen geht es vor allem darum, in der Gesellschaft (wieder) ein Gleichgewicht herzustellen. Das Ziel ist eine aktive Gesellschaft von freien und gleichen Bürgern. Soziale Gerechtigkeit und gemeinschaftsbezogene Verantwortung spielen hierbei eine wesentliche Rolle. Für das Erreichen einer „guten Gesellschaft“ ist die Abkehr vom Etatismus, also die Abkehr vom Dienstleistungs- und Wohlfahrtsstaat, notwendig. Nach Ansicht der Kommunitaristen fördert der Etatismus, dass soziales und wirtschaftliches Engagement abnimmt beziehungsweise abgebaut wird. Weiter fördert das administrativ-bürokratische System den Abbau von mit- und zwischenmenschlichen Tugenden. (Ebd., 20)

Der Kommunitarismus forderte allerdings nicht die Entstaatlichung sämtlicher Bereiche. Ihm geht es vor allem darum, den Bürger anzuhalten, auf alte Traditionen zurückzugreifen. Damit ist zum Beispiel Selbsthilfe gemeint, also die Hilfe von Familie, Nachbarschaft und Gemeinde. Nicht der Staat mit seinem Wohlfahrtsangebot soll helfen, sondern die „Selbstheilungskräfte der vielfältigen Gemeinschaften und Assoziationen der Bürger“. „Was in der Familie getan werden kann, sollte nicht einer intermediären Gruppe übertragen werden. Was auf lokaler Ebene getan werden kann, sollte nicht an den Staat oder die Bundesebene delegiert werden“. (Ebd., 20)

Der Kommunitarismus zielt also auf den Mittelweg oder ein Zwischenglied ab. So sollen zwischen Staat und Individuum Gemeinschaften, Vereinigungen und Assoziationen als Zwischenglied fungieren. Dieses Zwischenglied ist Grundlage für eine aktive Bürgergesellschaft. Das Zwischenglied verbindet soziale und moralische Grundlagen und stellt sie bereit. Der Einzelne bekommt dadurch Rückhalt und ist sozial „abgesichert“.

Ein weiterer Leitgedanke der Kommunitaristen ist, dass jedes Mitglied in einer Gemeinschaft allen in dieser Gemeinschaft etwas schuldet und umgekehrt. So ist es nicht verwunderlich, dass der Kommunitarismus ein Gleichgewicht zwischen individuellen Rechten und sozialen Pflichten propagiert. Soziale Gerechtigkeit ist für die Kommunitaristen eine Tugend und begründet sich durch den einfachen Spruch, „keiner von uns ist eine Insel“. (Ebd., 21)

Der Kommunitarismus will eine Abkehr von der Fixierung, dass der Staat jegliche Hilfe bietet, und will stattdessen Hilfe zur Selbsthilfe und die Selbstorganisation der Bürger untereinander stärken. Dies will der Kommunitarismus mit Hilfe von Erziehung der Bürger in Schulen, Universitäten und Kindergärten erreichen. Abschließend kann man sagen, dass der Kommunitarismus die Vorstellung vermitteln will, „dass ein politisches Gemeinwesen letztlich vom Engagement seiner Bürger für die öffentliche Angelegenheiten getragen wird“. (Ebd.)


Was ist Gerechtigkeit? Die aktuellen Positionen in der Philosophie der Gegenwart

17. Mai 2009

Die Frage nach der Natur der Gerechtigkeit ist seit der griechischen Antike Gegenstand zahlreicher philosophischer Erörterungen. Viele Erklärungen greifen dabei auf metaphysische Begründungen zurück. So wurde Gerechtigkeit immer wieder als eine in der Natur vorhandene Ordnung oder als göttlichen Ursprungs verstanden.

Eine klassische Einteilung von Gerechtigkeitstheorien erfolgt aufgrund der Frage, ob ihre Begründung auf Naturrecht oder Vernunftrecht beruht. Die Naturrechtslehren besagen, dass Gerechtigkeit als Maßstab durch etwas bedingt ist, was unabhängig vom Menschen, aber auch unabhängig von Raum und Zeit Gültigkeit hat. Ein solches übergeordnetes Prinzip ist eine göttlich bestimmte oder kosmologisch verankerte Ordnung. Diese Sicht findet sich vor allem in der Philosophie der Antike (Platon, Aristoteles) und im christlichen Mittelalter (Augustinus, Thomas von Aquin usw.). Mit dem Übergang vom Mittelalter zur Renaissance wurde das Naturrecht stärker anthropozentrisch begriffen, d.h. als dem Wesen des Menschen innewohnend. Entsprechende Vorstellungen finden sich bei Jean Bodin, Thomas Hobbes, John Locke, Hugo Grotius und Friedrich Pufendorf. Im Verlaufe der Aufklärung trat immer mehr die Vernunft als gestaltendes Moment für Gerechtigkeitsauffassungen in den Vordergrund bis hin zum kritischen Vernunftrecht bei Immanuel Kant.

Eine andere Möglichkeit der Einteilungen von Gerechtigkeitstheorien ist die nach empirischen und normativen Gesichtspunkten. Empirische Theorien beruhen auf der Erfahrung der sogenannten Gerechtigkeitsforschung. Diese bieten keine aus logischen Argumenten abgeleitete Prinzipien, sondern praktische, in den Gesellschaften schon vorhandene Begründungen. Normative Theorien werden weiter unterteilt in deontologische und teleologische Theorien. Bei ersteren wird auf das Prinzip der Handlung abgestellt (geboten, erlaubt, verboten) wie bei Kants Pflichtethik oder bei religiösen Geboten. In der teleologischen Ethik ist hingegen der Handlungserfolg der Bewertungsmaßstab (z.B. Utilitarismus).

In der Debatte der Gegenwart werden vor allem Liberalismus, Utilitarismus, Kommunitarismus und Diskursethik als gegensätzliche philosophische Positionen unterschieden. Diese Sammelbegriffe kennzeichnen bestimmte Aspekte der jeweiligen Gerechtigkeitstheorien.

Hisorischer Überblick

Bevor ich auf die gegenwärtigen Positionen zur Gerechtigkeit eingehen möchte, werde ich einen kurzen geschichtlichen Abriss machen.

Platon und Aristoteles

Für Platon war Gerechtigkeit eine Funktion der Seele. Gerechtigkeit herrscht, „wenn man das Seine tut und nicht vielerlei Dinge treibt“ (Politeia IV, 433a). Bei Streit soll jeder auch das Seine erhalten (Suum cuique). Entsprechend ist eine gerechte staatliche Ordnung eine solche, in der jeder seine Aufgabe nach seinen Fähigkeiten wahrnimmt. Die analytische Aufteilung des Gerechtigkeitsbegriffs durch Aristoteles wird bis in die Gegenwart verwendet. Er unterschied zwischen der legalen (allgemeinen) Gerechtigkeit und der für die zwischenmenschlichen Beziehungen maßgeblichen besonderen Gerechtigkeit (iustitia particularis). Letztere differenzierte er in „Verteilungsgerechtigkeit“ (iustitia distributiva) und „ausgleichende Gerechtigkeit“ (iustitia commutativa).

Hobbes

Von Thomas Hobbes wurde gegenüber dem Mittelalter eine neue Sichtweise auf die Frage der Gerechtigkeit eingebracht. Hobbes löste sich von der Vorstellung einer von Gott gegebenen Ordnung und betrachtete in einem Gedankenmodell den Menschen in einem (fiktiven) Naturzustand. In diesem gibt es weder Eigentum noch Gerechtigkeit oder eine gesetzgebende Obrigkeit mit der Möglichkeit des Zwanges. Der Mensch ist des Menschen Wolf (Homo homini lupus est, De Cive: Widmung). Es findet ein Krieg aller gegen alle statt (Bellum omnium contra omnes, Leviathan, Kap. 13) Das einzige natürliche Recht des Menschen ist das auf Selbsterhaltung. Er ist sich selbst sein eigener Richter, der sich an seinen eigenen Zwecken orientiert (De Cive, 9). Hierdurch gerät er notwendig in Konflikt mit anderen. Aus diesem Zustand der Angst kann sich der Mensch nur durch vernünftige Klugheit (recta ratio) befreien, die ihn dazu bringt, natürlichen Geboten (leges naturae) zu folgen. Diese sind

  1. Suche nach dem Frieden
  2. Bereitschaft zugunsten des Friedens das eigene natürliche Recht einzuschränken
  3. Einhaltung von Verträgen
  4. Dankbarkeit und Entgegenkommen statt Rache und Nachtragen

Der eigene vernünftige Wille fordert die Anerkennung einer Herrschaft, die den Frieden auch mit Zwangsgewalt durchsetzt. Als Konsequenz wird das natürliche Recht im Wege eines Gesellschaftsvertrags – eines zeittypischen „Gedankenexperiments zu legitimatorischen Zwecken – auf einen Souverän übertragen.

„Aus dem Gesetz der Natur, das uns verpflichtet, auf einen anderen solche Rechte zu übertragen, deren Beibehaltung den Frieden der Menschheit verhindert, folgt ein drittes, nämlich: ‚Abgeschlossene Verträge sind zu halten.’“ (Leviathan, 15)

Die Konsequenz dieser Überlegungen ist ein absoluter Rechtspositivismus. Durch die unwiderrufliche Übertragung des natürlichen Rechtes auf den Staat ist der Mensch uneingeschränkt an die Einhaltung bestehender Gesetze gebunden. Andererseits entsteht kein Unrecht, das nicht durch einen Gesetzesverstoß oder einen Vertragsbruch begründet ist.

„Ebenso fügt im Staate der, welcher einen anderen schädigt, mit dem er keinen Vertrag geschlossen hat, diesem zwar einen Schaden zu; aber ein Unrecht verübt er nur gegen den, der die Staatsgewalt besitzt; denn wenn der, welcher geschädigt worden, sich über das Unrecht beschwerte, so könnte der Täter sagen: Was geht mich das an?“ (De Cive, 4)
„Wo keine allgemeine Gewalt ist, ist kein Gesetz, und wo kein Gesetz, keine Ungerechtigkeit“ (Leviathan, 13)

Bei Hobbes ist der Gesellschaftsvertrag gedanklich so konstruiert, dass jeder seine Freiheitsrechte an den Staat abtritt. Hierdurch wird der Staat zu nichts verpflichtet, da dieser nicht unmittelbar am Vertrag beteiligt ist. Der Staat kann selbst kein Unrecht begehen, da er die uneingeschränkte Macht der Rechtsetzung hat. Der Staat bzw. der Inhaber der Macht ist sein eigener Souverän. Hobbes legitimierte damit den absoluten Herrscher, dem die Bürger und selbst die Kirche uneingeschränkt unterworfen sind. Diese Sicht wird verständlich vor dem Hintergrund, dass Hobbes sich im englischen Bürgerkrieg (1642-1649) auf die Seite der Monarchisten stellte. De Cive entstand 1642 und der Leviathan wurde 1651 während der Herrschaft Oliver Cromwells veröffentlicht.

Locke

Im Gegensatz zu Hobbes unterstellte John Locke ein göttliches Naturrecht. Als Schöpfer hat allein Gott ein Recht am Leben. Der Mensch darf daher weder sein eigenes, noch das Leben eines Anderen beeinträchtigen. Demgemäß ist der Naturzustand „ein Zustand vollkommener Freiheit“. Der Mensch ist berechtigt

innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes seine Handlungen zu lenken und über seinen Besitz und seine Person zu verfügen, wie es einem am besten scheint – ohne jemandes Erlaubnis einzuholen und ohne von dem Willen eines anderen abhängig zu sein.“ (Two Treatises of Government, II, 4)

Eigentum entsteht durch Arbeit. Niemand darf sich mehr aneignen, als er selbst verbrauchen kann. Geld allerdings ist ein abstrakter Gegenstand, von dem beliebig viel angesammelt werden darf, da es nicht verderblich ist. Leben, Freiheit und Besitz sind die elementaren Naturrechte des Menschen. Sie existieren anders als bei Hobbes bereits vorstaatlich. Jeder Einzelne ist für die Vollstreckung des natürlichen Gesetzes zuständig und „berechtigt, die Übertreter dieses Gesetzes in einem Maße zu bestrafen, wie es notwendig ist, um eine erneute Verletzung zu verhindern.“ (Two Treatises of Government, II, 7) Da der Naturzustand unsicher ist und die Naturrechte nicht gesichert sind, schließt der Mensch einen Gesellschaftsvertrag.

Die einzige Möglichkeit, mit der jemand diese natürliche Freiheit aufgibt und die Fesseln bürgerlicher Gesellschaft anlegt, liegt in der Übereinkunft mit anderen, sich zusammenzuschließen und in eine Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel eines behaglichen, sicheren und friedlichen Miteinanderlebens, in dem sicheren Genuss ihres Eigentums und in größerer Sicherheit gegenüber allen, die nicht zu dieser Gemeinschaft gehören.“ (Two Treatises of Government, II, 95)

Staatsgewalt ist für Locke

nichts als die vereinigte Gewalt aller Glieder der Gesellschaft, die jener Person oder Versammlung übertragen wurde, die der Gesetzgeber ist“ (Two Treatises of Government, II, 135)

Das besondere an Lockes Konzeption ist, dass die Gesetze und die staatliche Verfasstheit durch den Willensakt der Bürger gerechtfertigt werden. Der Staat ist nicht mehr durch Gott oder einen absoluten Herrscher (wie bei Hobbes) begründet, sondern repräsentiert den Willen seiner Bürger. Daraus ergibt sich das Recht der Bürger, die staatliche Gewalt aufzuheben und zu verändern, wenn diese nicht mehr ihrem Willen entspricht. Die Macht des Staates dient der Verwirklichung des menschlichen Daseins und darf sich nicht gegen den Menschen richten.

Gewaltenteilung ist für Locke nicht mit Naturrecht begründet, sondern ein Gebot der Klugheit. Der Gesetzgeber ist vom Volk eingesetzt und an stehende Gesetze, eine Verfassung, gebunden. Die vollstreckende Gewalt ist ihrerseits an die Gesetze gebunden.

Wer immer deshalb die legislative oder höchste Gewalt eines Staatswesens innehat, ist verpflichtet, nach eingeführten, stehenden Gesetzen zu regieren, die dem Volk verkündet und bekannt gemacht wurden – und nicht durch Maßnahmeverordnungen -, durch unparteiische und aufrechte Richter, die Streitfälle nach ebenjenen Gesetzen entscheiden müssen, und die Macht der Gemeinschaft im Inland nur zur Vollziehung dieser Gesetze und nach außen zur Verhütung oder Vergeltung fremden Unrechts und zum Schutz der Gemeinschaft vor Überfällen und Angriffen zu verwenden. Und mit all dem darf kein anderes Ziel verfolgt werden als der Friede, die Sicherheit und das öffentliche Wohl des Volkes.“ (II, 131)

Rousseau

Jean-Jacques Rousseau formulierte seine Begründung eines Gesellschaftsvertrages ebenfalls ausgehend von einem Naturzustand des Menschen. Im Gegensatz zu Hobbes sind seine Überlegungen zwar auch hypothetisch, aber stark anthropologisch unterlegt, also kein reines Gedankenmodell.

Worum präzise handelt es sich also in diesem Diskurs? Darum, im Fortschritt der Dinge den Augenblick zu bezeichnen, in dem das Recht die Stelle der Gewalt einnahm und die Natur somit dem Gesetz unterworfen wurde.“ (Über Ungleichheit, 68)

Insbesondere sah Rousseau den Urzustand des Menschen nicht als Krieg, sondern er entwickelte das Urbild eines friedfertigen, sich selbst genügenden und von Mitleid geprägten Menschen. In diesem Zustand ist der Mensch frei, ohne soziale Bindungen und hat keine Sprache. Er kennt weder gut noch böse, weder Dein noch Mein, noch hat er eine Vorstellung von Gerechtigkeit. Die Vernunft als Fähigkeit zur Reflexion entsteht erst im Entwicklungsprozess des Menschen. Der Mensch kommt schrittweise zur Sprache und damit zu Allgemeinbegriffen. Hierdurch entsteht ein wesentlicher Unterschied zum Tier. Es entstehen zunächst der Hüttenbau und als erste soziale Einheit die Familie. Die natürliche Selbstliebe (amour de soi) wandelt sich allmählich in Eigenliebe (amour propre), auch Egoismus. Es entstehen Neid und Grausamkeit. Erst durch den Eintritt in eine Gesellschaft wird der Mensch böse, und es folgt der „Kampf aller gegen alle“. Ein grundlegender Schritt in diesem Entwicklungsprozess ist der Übergang zur Landwirtschaft. Durch die Landwirtschaft entstehen Zuordnungen und Eigentum. Sobald aber Eigentum existiert, entstehen die ersten Regeln des Rechts, durch die die Ungleichheiten festgeschrieben und immer weiter verstärkt werden.

„Der erste, der ein Stück Land einzäunte, kam auf den Gedanken zu sagen: das gehört mir; da er die Leute vorfand, die beschränkt genug waren, ihm das zu glauben, wurde er zum wahren Begründer der „societe civile“. Wieviel Verbrechen, Krieg, Mord und Elend wäre dem menschlichen Geschlecht erspart geblieben, wenn einer die Pfähle herausgerissen hätte, den Graben zugeschüttet und seinesgleichen zugeschrien hätte: ‚Hütet Euch vor diesem Betrüger, Ihr seid verloren, wenn Ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und dass der Boden niemandem gehört’“ (Über Ungleichheit, 74)
Dieser Übergang vom Naturzustand in den bürgerlichen Stand bewirkt im Menschen einen sehr bemerkenswerten Wandel, indem er die Gerechtigkeit anstelle des Instinktes in sein Verhalten setzt und seinen Handlungen die Sittlichkeit aufprägt, die ihm zuvor gefehlt hatte.“ (Gesellschaftsvertrag, I.8)

Eigentum ist für Rousseau nichts Schlechtes, solange es auf eigener Arbeit beruht. Erst wenn es zu sozialen Ungleichheiten kommt und der Reiche seinen Besitz durch die Arbeit der Armen vermehrt, gehen Freiheit und Gleichheit der Bürger verloren. Erst dann dominieren Habgier und Herrschsucht. Als Ausweg aus den Widersprüchen einer so verdorbenen Gesellschaft sah Rousseau einem Staat, in dem die Bürger frei sind und gleich behandelt werden. Hierzu bedarf es eines Gesellschaftsvertrages (Contrat sociale). Dieser enthält „die totale Übereignung jedes Teilhabers mit all seinen Rechten an die gesamte Gemeinschaft“ (Gesellschaftsvertrag, 18) Dadurch, dass jeder im Staat seine Rechte uneingeschränkt überträgt, wird die Gleichheit innerhalb der Gemeinschaft gewährleistet und, weil niemand Rechte an einem anderen hat, auch die Freiheit, zumindest in Form der bürgerlichen Freiheit. Der Staat wird durch diesen Akt zur Verkörperung des Gemeinwillens (volonté générale).

„Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns, seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbares Ganzes auf.“ (Gesellschaftsvertrag, 18)

Weil der Staat als Souverän den Gemeinwillen seiner Bürger repräsentiert, ist er gegenüber dem Einzelnen zu nichts verpflichtet. Die Bürger als Einzelne sind hingegen Untertanen und an den Gemeinwillen gebunden. Daher hat der Staat das Recht, den Gemeinwillen auch mit Zwang durchzusetzen. Die Summe aus dem Willen der Einzelnen ist nicht identisch mit dem Gemeinwillen, denn die Bürger verfolgen ihre Privatinteressen. Der Gemeinwille ist aber auf das Wohl aller ausgerichtet. Er kommt dann zum Ausdruck, „wenn das ganze Volk über das ganze Volk eine Bestimmung erlässt.“ (Gesellschaftsvertrag, 41) Gesetze müssen allgemeingültig sein und sich auf jeden Bürger beziehen. So zustande gekommene Gesetze können nicht unrecht sein, weil sie den Gemeinwillen ausdrücken. Die Bürger werden zur Rechtsgemeinschaft. Ähnlich wie Hobbes vertrat Rousseau damit eine positivistische Rechtsauffassung. Eine vom Volk eingesetzte Regierung hat lediglich die Aufgabe, die beschlossenen Gesetze auszuführen. Parteien oder Repräsentationssysteme stören den unmittelbaren Gemeinwillen. Anders als bei den britischen Empiristen ist bei Rousseau die Verwirklichung des Gesellschaftsvertrages nur in einer Republik denkbar. Er lehnte explizit das parlamentarische System Englands mit einem Monarchen an der Spitze ab.

Aus seinem Postulat der Gleichheit folgerte Rousseau dass „kein Staatsbürger so reich sein darf, um sich einen andern kaufen zu können, noch so arm, um sich verkaufen zu müssen.“ (Gesellschaftsvertrag, 59) Das Konzept des Sozialvertrages beruhte auch auf dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. Wo individuelle Vorteile zu groß werden, muss der Gesetzgeber ausgleichend eingreifen.

„Wenn jedoch der Missbrauch unvermeidlich ist, folgt daraus, dass man ihn nicht wenigstens eindämmen muss? Weil der Lauf der Dinge stets auf die Zerstörung der Gleichheit ausgeht, deshalb muss die Kraft der Gesetzgebung stets auf ihre Erhaltung ausgehen.“ (Gesellschaftsvertrag, 59)

Mit der Forderung nach einer Sozialgesetzgebung stand Rousseau im Gegensatz zu liberalen Auffassungen wie der Lockes, für den der Schutz und die uneingeschränkte Gewährleistung des Eigentums grundlegend waren.

Kant

Immanuel Kant ersetzte den Gedanken des Naturrechts durch ein Vernunftrecht. Ein Naturrecht als überpositives Recht, zum Beispiel ein göttliches Recht, kann der Mensch nicht erkennen. Der Mensch ist mit den Mitteln der Vernunft für jede Erkenntnis auf empirische Anschauungen, auf seine Sinne, angewiesen. Ihm bleibt als Faktum nur die praktische Vernunft, die die theoretisch nicht zu entscheidende Frage, ob es eine Freiheit gibt, so beantwortet, dass es die Freiheit gibt.

Aus dem Gebot der praktischen Vernunft, die Freiheit des Menschen als regulative Idee anzunehmen, folgerte Kant die Autonomie des Menschen. Die Selbstbestimmung des Menschen macht ihn zum grundlegenden Zweck seines Handelns. Hiergegen zu verstoßen, verbietet der kategorische Imperativ (Menschenrechtsformel):

„Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (GMS, AA IV, 429)

Der Mensch ist aus seiner Vernunft heraus verpflichtet, die Persönlichkeit und in ihr die Würde des Menschen zu achten. Dies gilt gegenüber jedem Menschen und ist somit ein Gebot der Gleichheit. Die Freiheit des Menschen ist nicht nur eine innere Freiheit, in der der Mensch gegenüber seiner Vernunft sich selbst verantwortlich ist und hieraus die (innere) Pflicht zur Sittlichkeit hat, sondern sie gilt auch im äußeren Verhältnis der Menschen zueinander. (Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, AA VIII, 289)

Als Instrument der praktischen Umsetzung der Gerechtigkeit betrachtete Kant das Recht, in dem das Prinzip der Freiheit durch eine vertragliche Bindung gewährleistet wird. Hierzu formulierte er einen sogenannten Kategorischen Rechtsimperativ:

„Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ (Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Einleitung in die Rechtslehre, § B (Schlusssatz))

Die Freiheit des Einzelnen wird durch ein selbst gesetztes Gesetz sichergestellt. Hierdurch wird die Autonomie gewährleistet, aber durch die gemeinsame Bestimmung des Rechts zugleich auch die Freiheit beschränkt. Diese Bestimmung der (iuridischen) Gerechtigkeit ist rein formal. Für die materiale Gerechtigkeit bedarf es nach Kant der empirischen Erfahrung. Ausgehend von Locke und Hume hat Kant das Modell des Gesellschaftsvertrages übernommen, die Idee des Naturrechts aber ebenso wenig akzeptiert wie die Relativität der Gerechtigkeit, die sich aus Humes Skepsis ergab. Seine Begründung der Gerechtigkeit liegt in der Sittlichkeit als Gebot der reinen praktischen Vernunft.

Marx

In der politischen Theorie von Karl Marx und Friedrich Engels, dem Historischen Materialismus, ist Gerechtigkeit keine Kategorie der Analyse und kein eigenständiges Ziel. Die Gesellschaft wird durch die Entwicklung der Produktivkräfte und durch Klassenkämpfe, die zu Revolutionen führen, schließlich einen Zustand erreichen, in dem die Güter nicht mehr knapp sind.

Recht gehört für Marx zum sogenannten Überbau und hat keine universelle Bedeutung, beruht vielmehr auf den jeweiligen materiellen Verhältnissen und ist z.B. im Kapitalismus Ausdruck der Herrschaft einer bürgerlichen Klasse.

Solange man Bourgois ist, kann man nicht umhin, in diesem [ Klassen ]Gegensatz einen Zustand der Harmonie und ewigen Gerechtigkeit zu erblicken.“ (Karl Marx: Das Elend der Philosophie, MEW Bd. 4, Dietz, Berlin 1972, 104)

Erst nach einer Phase der Herrschaft des Proletariats (Sozialismus) in einer klassenlosen Gesellschaft, dem Kommunismus, wird es möglich sein, dass jeder nach seinen Bedürfnissen an den gesellschaftlich geschaffenen materiellen und immateriellen Gütern partizipiert und nach seinen Fähigkeiten zu ihrer Herstellung beiträgt. Hierzu ist ein Überfluss durch die höchste Entwicklung der Produktivkräfte notwendige Voraussetzung. (Karl Marx: Die Deutsche Ideologie, MEW 3, 34f)

„In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher –arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihr Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW Bd. 19, Dietz, Berlin 1972, 15–32, hier 31)

Deutsche Frühsozialisten, die nach Frankreich geflüchtet waren und für die Ideale Freiheit, Gleichheit und Gerechtikgeit eintraten, organisierten sich seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts im Bund der Gerechten. Nachdem Marx und Engels dort eine Führungspostion eingenommen hatten, wurde dieser 1847 in Bund der Kommunisten umbenannt.

Die Umbenennung markierte einen neuen Akzent. Ob die Gerechtigkeit ein selbständiger zentraler Wert oder – dem marxschen Postulat entsprechend – ausschließlich Ausdruck objektiver Verhältnisse und damit ein abgeleiteter ist, diese Kontroverse existiert in sozialistischen Diskursen bis heute.

In nahezu allen politischen, sozialen und kulturellen Bewegungen, die sich mit Fragen der Gerechtigkeit auseinandergesetzt haben, wie der Arbeiterbewegung, der antikolonialistischen Bewegung und der Frauen-Emanzipationsbewegung, spielten marxistische Strömungen – unterschiedlicher Ausrichtung – eine Rolle. Bis in die Gegenwart gibt es marxistische oder neomarxistische Ansätze zur Gerechtigkeitsdebatte beispielsweise in der Befreiungstheologie.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts haben die marxistisch beeinflussten Kämpfe gegen ungerechte Verhältnisse u.a. zur Entwicklung von Sozialsystemen und zu einer höheren sozialen Gerechtigkeit beigetragen.

Benjamin

Walter Benjamin schrieb 1921 den Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ (hier zitiert nach Gesammelte Schriften Band II/1, Suhrkamp, Frankfurt), in dem er sich mit dem Verhältnis von Gewalt, Recht und Gerechtigkeit auseinander setzte. Benjamins fragte, wie Gewalt legitimiert werden kann. Anknüpfend an Kant unterschied er Zwecke und Mittel. Gerechte Zwecke können „durch berechtigte Mittel erreicht werden, berechtigte Mittel an gerechte Zwecke gewendet werden.“ (KdG, 180) Gewalt kann nur als Mittel dienen, nicht aber als durch Vernunft bestimmter Selbstzweck. Unrechtmäßige Gewalt bedroht jede Rechtsordnung. Daraus folgt, dass paradoxerweise im Recht die Befugnis zur Gewalt enthalten sein muss, um das Recht mit Gewalt durchzusetzen. Zugleich kann Gewalt außerhalb des Rechts niemandem zugestanden werden. Die Sanktionierung von Gewalt im Recht ist für Benjamin daher die „historische Anerkennung ihrer Zwecke“ (KdG, 182).

Gewalt ist allgemein betrachtet entweder rechtsetzend oder rechtserhaltend. Rechtsetzend ist einerseits die Gewalt des Angreifers im Krieg und andererseits der Generalstreik, der entweder als politischer Streik neues Recht schaffen oder als proletarischer Streik Recht auflösen will und damit in die angestrebte Anarchie führt. Dadurch dass jede Rechtsetzung danach strebt, auf Dauer zu bestehen, erzeugt sie in sich die Rechtserhaltung. Diese ist eine Bestätigung und damit eine Wiederholung der Rechtsetzung.

Gerechtigkeit kann nicht dem (gesetzten) Recht entspringen, da ihre Gültigkeit sonst vom Paradox von gesetzter und erhaltender Gewalt abhinge. Gerechtigkeit ist aber im Verhältnis zum Recht transzendent. Um dieses zu fassen, unterschied Benjamin zwischen mythischer und göttlicher Gewalt. Das positive Recht ist eine Errungenschaft des Menschen. Es entspringt der Macht und ist daher im Mythos begründet. Im Mythos manifestiert sich Gewalt spontan, aber dennoch rechtsetzend. Die Gerechtigkeit liegt jenseits der menschlichen Macht. Sie kann daher nur von einer Gewalt herrühren, die Schuld und Sühne überwindet. Die göttliche Gewalt ist Benjamins Symbol für die in der Gerechtigkeit liegende Kraft, sich der menschlichen Gewalt zu entziehen. Funktion der göttlichen Gewalt ist es, der rechtsetzenden Gewalt „Einhalt zu gebieten“.

„Ist die mythische Gewalt rechtsetzend, so die göttliche rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen, so vernichtet diese grenzenlos, ist die mythische verschuldend und sühnend zugleich, so die göttliche entsühnend, ist jene drohend, so diese schlagend, jene blutig, so diese auf unblutige Weise letal.“ (KdG, 199)

Für Benjamin hat Gerechtigkeit eine sittliche, außerhalb des Rechts liegende Dimension, ohne das „dialektische Auf und Ab“ (KdG, 202) des durch die Gewalt bestimmten Rechts. Sie ist das „Prinzip aller göttlichen Zwecksetzung“. (KdG, 198)