Was ist Gerechtigkeit? Die aktuellen Positionen in der Philosophie der Gegenwart

Die Frage nach der Natur der Gerechtigkeit ist seit der griechischen Antike Gegenstand zahlreicher philosophischer Erörterungen. Viele Erklärungen greifen dabei auf metaphysische Begründungen zurück. So wurde Gerechtigkeit immer wieder als eine in der Natur vorhandene Ordnung oder als göttlichen Ursprungs verstanden.

Eine klassische Einteilung von Gerechtigkeitstheorien erfolgt aufgrund der Frage, ob ihre Begründung auf Naturrecht oder Vernunftrecht beruht. Die Naturrechtslehren besagen, dass Gerechtigkeit als Maßstab durch etwas bedingt ist, was unabhängig vom Menschen, aber auch unabhängig von Raum und Zeit Gültigkeit hat. Ein solches übergeordnetes Prinzip ist eine göttlich bestimmte oder kosmologisch verankerte Ordnung. Diese Sicht findet sich vor allem in der Philosophie der Antike (Platon, Aristoteles) und im christlichen Mittelalter (Augustinus, Thomas von Aquin usw.). Mit dem Übergang vom Mittelalter zur Renaissance wurde das Naturrecht stärker anthropozentrisch begriffen, d.h. als dem Wesen des Menschen innewohnend. Entsprechende Vorstellungen finden sich bei Jean Bodin, Thomas Hobbes, John Locke, Hugo Grotius und Friedrich Pufendorf. Im Verlaufe der Aufklärung trat immer mehr die Vernunft als gestaltendes Moment für Gerechtigkeitsauffassungen in den Vordergrund bis hin zum kritischen Vernunftrecht bei Immanuel Kant.

Eine andere Möglichkeit der Einteilungen von Gerechtigkeitstheorien ist die nach empirischen und normativen Gesichtspunkten. Empirische Theorien beruhen auf der Erfahrung der sogenannten Gerechtigkeitsforschung. Diese bieten keine aus logischen Argumenten abgeleitete Prinzipien, sondern praktische, in den Gesellschaften schon vorhandene Begründungen. Normative Theorien werden weiter unterteilt in deontologische und teleologische Theorien. Bei ersteren wird auf das Prinzip der Handlung abgestellt (geboten, erlaubt, verboten) wie bei Kants Pflichtethik oder bei religiösen Geboten. In der teleologischen Ethik ist hingegen der Handlungserfolg der Bewertungsmaßstab (z.B. Utilitarismus).

In der Debatte der Gegenwart werden vor allem Liberalismus, Utilitarismus, Kommunitarismus und Diskursethik als gegensätzliche philosophische Positionen unterschieden. Diese Sammelbegriffe kennzeichnen bestimmte Aspekte der jeweiligen Gerechtigkeitstheorien.

Hisorischer Überblick

Bevor ich auf die gegenwärtigen Positionen zur Gerechtigkeit eingehen möchte, werde ich einen kurzen geschichtlichen Abriss machen.

Platon und Aristoteles

Für Platon war Gerechtigkeit eine Funktion der Seele. Gerechtigkeit herrscht, „wenn man das Seine tut und nicht vielerlei Dinge treibt“ (Politeia IV, 433a). Bei Streit soll jeder auch das Seine erhalten (Suum cuique). Entsprechend ist eine gerechte staatliche Ordnung eine solche, in der jeder seine Aufgabe nach seinen Fähigkeiten wahrnimmt. Die analytische Aufteilung des Gerechtigkeitsbegriffs durch Aristoteles wird bis in die Gegenwart verwendet. Er unterschied zwischen der legalen (allgemeinen) Gerechtigkeit und der für die zwischenmenschlichen Beziehungen maßgeblichen besonderen Gerechtigkeit (iustitia particularis). Letztere differenzierte er in „Verteilungsgerechtigkeit“ (iustitia distributiva) und „ausgleichende Gerechtigkeit“ (iustitia commutativa).

Hobbes

Von Thomas Hobbes wurde gegenüber dem Mittelalter eine neue Sichtweise auf die Frage der Gerechtigkeit eingebracht. Hobbes löste sich von der Vorstellung einer von Gott gegebenen Ordnung und betrachtete in einem Gedankenmodell den Menschen in einem (fiktiven) Naturzustand. In diesem gibt es weder Eigentum noch Gerechtigkeit oder eine gesetzgebende Obrigkeit mit der Möglichkeit des Zwanges. Der Mensch ist des Menschen Wolf (Homo homini lupus est, De Cive: Widmung). Es findet ein Krieg aller gegen alle statt (Bellum omnium contra omnes, Leviathan, Kap. 13) Das einzige natürliche Recht des Menschen ist das auf Selbsterhaltung. Er ist sich selbst sein eigener Richter, der sich an seinen eigenen Zwecken orientiert (De Cive, 9). Hierdurch gerät er notwendig in Konflikt mit anderen. Aus diesem Zustand der Angst kann sich der Mensch nur durch vernünftige Klugheit (recta ratio) befreien, die ihn dazu bringt, natürlichen Geboten (leges naturae) zu folgen. Diese sind

  1. Suche nach dem Frieden
  2. Bereitschaft zugunsten des Friedens das eigene natürliche Recht einzuschränken
  3. Einhaltung von Verträgen
  4. Dankbarkeit und Entgegenkommen statt Rache und Nachtragen

Der eigene vernünftige Wille fordert die Anerkennung einer Herrschaft, die den Frieden auch mit Zwangsgewalt durchsetzt. Als Konsequenz wird das natürliche Recht im Wege eines Gesellschaftsvertrags – eines zeittypischen „Gedankenexperiments zu legitimatorischen Zwecken – auf einen Souverän übertragen.

„Aus dem Gesetz der Natur, das uns verpflichtet, auf einen anderen solche Rechte zu übertragen, deren Beibehaltung den Frieden der Menschheit verhindert, folgt ein drittes, nämlich: ‚Abgeschlossene Verträge sind zu halten.’“ (Leviathan, 15)

Die Konsequenz dieser Überlegungen ist ein absoluter Rechtspositivismus. Durch die unwiderrufliche Übertragung des natürlichen Rechtes auf den Staat ist der Mensch uneingeschränkt an die Einhaltung bestehender Gesetze gebunden. Andererseits entsteht kein Unrecht, das nicht durch einen Gesetzesverstoß oder einen Vertragsbruch begründet ist.

„Ebenso fügt im Staate der, welcher einen anderen schädigt, mit dem er keinen Vertrag geschlossen hat, diesem zwar einen Schaden zu; aber ein Unrecht verübt er nur gegen den, der die Staatsgewalt besitzt; denn wenn der, welcher geschädigt worden, sich über das Unrecht beschwerte, so könnte der Täter sagen: Was geht mich das an?“ (De Cive, 4)
„Wo keine allgemeine Gewalt ist, ist kein Gesetz, und wo kein Gesetz, keine Ungerechtigkeit“ (Leviathan, 13)

Bei Hobbes ist der Gesellschaftsvertrag gedanklich so konstruiert, dass jeder seine Freiheitsrechte an den Staat abtritt. Hierdurch wird der Staat zu nichts verpflichtet, da dieser nicht unmittelbar am Vertrag beteiligt ist. Der Staat kann selbst kein Unrecht begehen, da er die uneingeschränkte Macht der Rechtsetzung hat. Der Staat bzw. der Inhaber der Macht ist sein eigener Souverän. Hobbes legitimierte damit den absoluten Herrscher, dem die Bürger und selbst die Kirche uneingeschränkt unterworfen sind. Diese Sicht wird verständlich vor dem Hintergrund, dass Hobbes sich im englischen Bürgerkrieg (1642-1649) auf die Seite der Monarchisten stellte. De Cive entstand 1642 und der Leviathan wurde 1651 während der Herrschaft Oliver Cromwells veröffentlicht.

Locke

Im Gegensatz zu Hobbes unterstellte John Locke ein göttliches Naturrecht. Als Schöpfer hat allein Gott ein Recht am Leben. Der Mensch darf daher weder sein eigenes, noch das Leben eines Anderen beeinträchtigen. Demgemäß ist der Naturzustand „ein Zustand vollkommener Freiheit“. Der Mensch ist berechtigt

innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes seine Handlungen zu lenken und über seinen Besitz und seine Person zu verfügen, wie es einem am besten scheint – ohne jemandes Erlaubnis einzuholen und ohne von dem Willen eines anderen abhängig zu sein.“ (Two Treatises of Government, II, 4)

Eigentum entsteht durch Arbeit. Niemand darf sich mehr aneignen, als er selbst verbrauchen kann. Geld allerdings ist ein abstrakter Gegenstand, von dem beliebig viel angesammelt werden darf, da es nicht verderblich ist. Leben, Freiheit und Besitz sind die elementaren Naturrechte des Menschen. Sie existieren anders als bei Hobbes bereits vorstaatlich. Jeder Einzelne ist für die Vollstreckung des natürlichen Gesetzes zuständig und „berechtigt, die Übertreter dieses Gesetzes in einem Maße zu bestrafen, wie es notwendig ist, um eine erneute Verletzung zu verhindern.“ (Two Treatises of Government, II, 7) Da der Naturzustand unsicher ist und die Naturrechte nicht gesichert sind, schließt der Mensch einen Gesellschaftsvertrag.

Die einzige Möglichkeit, mit der jemand diese natürliche Freiheit aufgibt und die Fesseln bürgerlicher Gesellschaft anlegt, liegt in der Übereinkunft mit anderen, sich zusammenzuschließen und in eine Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel eines behaglichen, sicheren und friedlichen Miteinanderlebens, in dem sicheren Genuss ihres Eigentums und in größerer Sicherheit gegenüber allen, die nicht zu dieser Gemeinschaft gehören.“ (Two Treatises of Government, II, 95)

Staatsgewalt ist für Locke

nichts als die vereinigte Gewalt aller Glieder der Gesellschaft, die jener Person oder Versammlung übertragen wurde, die der Gesetzgeber ist“ (Two Treatises of Government, II, 135)

Das besondere an Lockes Konzeption ist, dass die Gesetze und die staatliche Verfasstheit durch den Willensakt der Bürger gerechtfertigt werden. Der Staat ist nicht mehr durch Gott oder einen absoluten Herrscher (wie bei Hobbes) begründet, sondern repräsentiert den Willen seiner Bürger. Daraus ergibt sich das Recht der Bürger, die staatliche Gewalt aufzuheben und zu verändern, wenn diese nicht mehr ihrem Willen entspricht. Die Macht des Staates dient der Verwirklichung des menschlichen Daseins und darf sich nicht gegen den Menschen richten.

Gewaltenteilung ist für Locke nicht mit Naturrecht begründet, sondern ein Gebot der Klugheit. Der Gesetzgeber ist vom Volk eingesetzt und an stehende Gesetze, eine Verfassung, gebunden. Die vollstreckende Gewalt ist ihrerseits an die Gesetze gebunden.

Wer immer deshalb die legislative oder höchste Gewalt eines Staatswesens innehat, ist verpflichtet, nach eingeführten, stehenden Gesetzen zu regieren, die dem Volk verkündet und bekannt gemacht wurden – und nicht durch Maßnahmeverordnungen -, durch unparteiische und aufrechte Richter, die Streitfälle nach ebenjenen Gesetzen entscheiden müssen, und die Macht der Gemeinschaft im Inland nur zur Vollziehung dieser Gesetze und nach außen zur Verhütung oder Vergeltung fremden Unrechts und zum Schutz der Gemeinschaft vor Überfällen und Angriffen zu verwenden. Und mit all dem darf kein anderes Ziel verfolgt werden als der Friede, die Sicherheit und das öffentliche Wohl des Volkes.“ (II, 131)

Rousseau

Jean-Jacques Rousseau formulierte seine Begründung eines Gesellschaftsvertrages ebenfalls ausgehend von einem Naturzustand des Menschen. Im Gegensatz zu Hobbes sind seine Überlegungen zwar auch hypothetisch, aber stark anthropologisch unterlegt, also kein reines Gedankenmodell.

Worum präzise handelt es sich also in diesem Diskurs? Darum, im Fortschritt der Dinge den Augenblick zu bezeichnen, in dem das Recht die Stelle der Gewalt einnahm und die Natur somit dem Gesetz unterworfen wurde.“ (Über Ungleichheit, 68)

Insbesondere sah Rousseau den Urzustand des Menschen nicht als Krieg, sondern er entwickelte das Urbild eines friedfertigen, sich selbst genügenden und von Mitleid geprägten Menschen. In diesem Zustand ist der Mensch frei, ohne soziale Bindungen und hat keine Sprache. Er kennt weder gut noch böse, weder Dein noch Mein, noch hat er eine Vorstellung von Gerechtigkeit. Die Vernunft als Fähigkeit zur Reflexion entsteht erst im Entwicklungsprozess des Menschen. Der Mensch kommt schrittweise zur Sprache und damit zu Allgemeinbegriffen. Hierdurch entsteht ein wesentlicher Unterschied zum Tier. Es entstehen zunächst der Hüttenbau und als erste soziale Einheit die Familie. Die natürliche Selbstliebe (amour de soi) wandelt sich allmählich in Eigenliebe (amour propre), auch Egoismus. Es entstehen Neid und Grausamkeit. Erst durch den Eintritt in eine Gesellschaft wird der Mensch böse, und es folgt der „Kampf aller gegen alle“. Ein grundlegender Schritt in diesem Entwicklungsprozess ist der Übergang zur Landwirtschaft. Durch die Landwirtschaft entstehen Zuordnungen und Eigentum. Sobald aber Eigentum existiert, entstehen die ersten Regeln des Rechts, durch die die Ungleichheiten festgeschrieben und immer weiter verstärkt werden.

„Der erste, der ein Stück Land einzäunte, kam auf den Gedanken zu sagen: das gehört mir; da er die Leute vorfand, die beschränkt genug waren, ihm das zu glauben, wurde er zum wahren Begründer der „societe civile“. Wieviel Verbrechen, Krieg, Mord und Elend wäre dem menschlichen Geschlecht erspart geblieben, wenn einer die Pfähle herausgerissen hätte, den Graben zugeschüttet und seinesgleichen zugeschrien hätte: ‚Hütet Euch vor diesem Betrüger, Ihr seid verloren, wenn Ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und dass der Boden niemandem gehört’“ (Über Ungleichheit, 74)
Dieser Übergang vom Naturzustand in den bürgerlichen Stand bewirkt im Menschen einen sehr bemerkenswerten Wandel, indem er die Gerechtigkeit anstelle des Instinktes in sein Verhalten setzt und seinen Handlungen die Sittlichkeit aufprägt, die ihm zuvor gefehlt hatte.“ (Gesellschaftsvertrag, I.8)

Eigentum ist für Rousseau nichts Schlechtes, solange es auf eigener Arbeit beruht. Erst wenn es zu sozialen Ungleichheiten kommt und der Reiche seinen Besitz durch die Arbeit der Armen vermehrt, gehen Freiheit und Gleichheit der Bürger verloren. Erst dann dominieren Habgier und Herrschsucht. Als Ausweg aus den Widersprüchen einer so verdorbenen Gesellschaft sah Rousseau einem Staat, in dem die Bürger frei sind und gleich behandelt werden. Hierzu bedarf es eines Gesellschaftsvertrages (Contrat sociale). Dieser enthält „die totale Übereignung jedes Teilhabers mit all seinen Rechten an die gesamte Gemeinschaft“ (Gesellschaftsvertrag, 18) Dadurch, dass jeder im Staat seine Rechte uneingeschränkt überträgt, wird die Gleichheit innerhalb der Gemeinschaft gewährleistet und, weil niemand Rechte an einem anderen hat, auch die Freiheit, zumindest in Form der bürgerlichen Freiheit. Der Staat wird durch diesen Akt zur Verkörperung des Gemeinwillens (volonté générale).

„Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns, seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbares Ganzes auf.“ (Gesellschaftsvertrag, 18)

Weil der Staat als Souverän den Gemeinwillen seiner Bürger repräsentiert, ist er gegenüber dem Einzelnen zu nichts verpflichtet. Die Bürger als Einzelne sind hingegen Untertanen und an den Gemeinwillen gebunden. Daher hat der Staat das Recht, den Gemeinwillen auch mit Zwang durchzusetzen. Die Summe aus dem Willen der Einzelnen ist nicht identisch mit dem Gemeinwillen, denn die Bürger verfolgen ihre Privatinteressen. Der Gemeinwille ist aber auf das Wohl aller ausgerichtet. Er kommt dann zum Ausdruck, „wenn das ganze Volk über das ganze Volk eine Bestimmung erlässt.“ (Gesellschaftsvertrag, 41) Gesetze müssen allgemeingültig sein und sich auf jeden Bürger beziehen. So zustande gekommene Gesetze können nicht unrecht sein, weil sie den Gemeinwillen ausdrücken. Die Bürger werden zur Rechtsgemeinschaft. Ähnlich wie Hobbes vertrat Rousseau damit eine positivistische Rechtsauffassung. Eine vom Volk eingesetzte Regierung hat lediglich die Aufgabe, die beschlossenen Gesetze auszuführen. Parteien oder Repräsentationssysteme stören den unmittelbaren Gemeinwillen. Anders als bei den britischen Empiristen ist bei Rousseau die Verwirklichung des Gesellschaftsvertrages nur in einer Republik denkbar. Er lehnte explizit das parlamentarische System Englands mit einem Monarchen an der Spitze ab.

Aus seinem Postulat der Gleichheit folgerte Rousseau dass „kein Staatsbürger so reich sein darf, um sich einen andern kaufen zu können, noch so arm, um sich verkaufen zu müssen.“ (Gesellschaftsvertrag, 59) Das Konzept des Sozialvertrages beruhte auch auf dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. Wo individuelle Vorteile zu groß werden, muss der Gesetzgeber ausgleichend eingreifen.

„Wenn jedoch der Missbrauch unvermeidlich ist, folgt daraus, dass man ihn nicht wenigstens eindämmen muss? Weil der Lauf der Dinge stets auf die Zerstörung der Gleichheit ausgeht, deshalb muss die Kraft der Gesetzgebung stets auf ihre Erhaltung ausgehen.“ (Gesellschaftsvertrag, 59)

Mit der Forderung nach einer Sozialgesetzgebung stand Rousseau im Gegensatz zu liberalen Auffassungen wie der Lockes, für den der Schutz und die uneingeschränkte Gewährleistung des Eigentums grundlegend waren.

Kant

Immanuel Kant ersetzte den Gedanken des Naturrechts durch ein Vernunftrecht. Ein Naturrecht als überpositives Recht, zum Beispiel ein göttliches Recht, kann der Mensch nicht erkennen. Der Mensch ist mit den Mitteln der Vernunft für jede Erkenntnis auf empirische Anschauungen, auf seine Sinne, angewiesen. Ihm bleibt als Faktum nur die praktische Vernunft, die die theoretisch nicht zu entscheidende Frage, ob es eine Freiheit gibt, so beantwortet, dass es die Freiheit gibt.

Aus dem Gebot der praktischen Vernunft, die Freiheit des Menschen als regulative Idee anzunehmen, folgerte Kant die Autonomie des Menschen. Die Selbstbestimmung des Menschen macht ihn zum grundlegenden Zweck seines Handelns. Hiergegen zu verstoßen, verbietet der kategorische Imperativ (Menschenrechtsformel):

„Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (GMS, AA IV, 429)

Der Mensch ist aus seiner Vernunft heraus verpflichtet, die Persönlichkeit und in ihr die Würde des Menschen zu achten. Dies gilt gegenüber jedem Menschen und ist somit ein Gebot der Gleichheit. Die Freiheit des Menschen ist nicht nur eine innere Freiheit, in der der Mensch gegenüber seiner Vernunft sich selbst verantwortlich ist und hieraus die (innere) Pflicht zur Sittlichkeit hat, sondern sie gilt auch im äußeren Verhältnis der Menschen zueinander. (Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, AA VIII, 289)

Als Instrument der praktischen Umsetzung der Gerechtigkeit betrachtete Kant das Recht, in dem das Prinzip der Freiheit durch eine vertragliche Bindung gewährleistet wird. Hierzu formulierte er einen sogenannten Kategorischen Rechtsimperativ:

„Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ (Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Einleitung in die Rechtslehre, § B (Schlusssatz))

Die Freiheit des Einzelnen wird durch ein selbst gesetztes Gesetz sichergestellt. Hierdurch wird die Autonomie gewährleistet, aber durch die gemeinsame Bestimmung des Rechts zugleich auch die Freiheit beschränkt. Diese Bestimmung der (iuridischen) Gerechtigkeit ist rein formal. Für die materiale Gerechtigkeit bedarf es nach Kant der empirischen Erfahrung. Ausgehend von Locke und Hume hat Kant das Modell des Gesellschaftsvertrages übernommen, die Idee des Naturrechts aber ebenso wenig akzeptiert wie die Relativität der Gerechtigkeit, die sich aus Humes Skepsis ergab. Seine Begründung der Gerechtigkeit liegt in der Sittlichkeit als Gebot der reinen praktischen Vernunft.

Marx

In der politischen Theorie von Karl Marx und Friedrich Engels, dem Historischen Materialismus, ist Gerechtigkeit keine Kategorie der Analyse und kein eigenständiges Ziel. Die Gesellschaft wird durch die Entwicklung der Produktivkräfte und durch Klassenkämpfe, die zu Revolutionen führen, schließlich einen Zustand erreichen, in dem die Güter nicht mehr knapp sind.

Recht gehört für Marx zum sogenannten Überbau und hat keine universelle Bedeutung, beruht vielmehr auf den jeweiligen materiellen Verhältnissen und ist z.B. im Kapitalismus Ausdruck der Herrschaft einer bürgerlichen Klasse.

Solange man Bourgois ist, kann man nicht umhin, in diesem [ Klassen ]Gegensatz einen Zustand der Harmonie und ewigen Gerechtigkeit zu erblicken.“ (Karl Marx: Das Elend der Philosophie, MEW Bd. 4, Dietz, Berlin 1972, 104)

Erst nach einer Phase der Herrschaft des Proletariats (Sozialismus) in einer klassenlosen Gesellschaft, dem Kommunismus, wird es möglich sein, dass jeder nach seinen Bedürfnissen an den gesellschaftlich geschaffenen materiellen und immateriellen Gütern partizipiert und nach seinen Fähigkeiten zu ihrer Herstellung beiträgt. Hierzu ist ein Überfluss durch die höchste Entwicklung der Produktivkräfte notwendige Voraussetzung. (Karl Marx: Die Deutsche Ideologie, MEW 3, 34f)

„In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher –arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihr Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW Bd. 19, Dietz, Berlin 1972, 15–32, hier 31)

Deutsche Frühsozialisten, die nach Frankreich geflüchtet waren und für die Ideale Freiheit, Gleichheit und Gerechtikgeit eintraten, organisierten sich seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts im Bund der Gerechten. Nachdem Marx und Engels dort eine Führungspostion eingenommen hatten, wurde dieser 1847 in Bund der Kommunisten umbenannt.

Die Umbenennung markierte einen neuen Akzent. Ob die Gerechtigkeit ein selbständiger zentraler Wert oder – dem marxschen Postulat entsprechend – ausschließlich Ausdruck objektiver Verhältnisse und damit ein abgeleiteter ist, diese Kontroverse existiert in sozialistischen Diskursen bis heute.

In nahezu allen politischen, sozialen und kulturellen Bewegungen, die sich mit Fragen der Gerechtigkeit auseinandergesetzt haben, wie der Arbeiterbewegung, der antikolonialistischen Bewegung und der Frauen-Emanzipationsbewegung, spielten marxistische Strömungen – unterschiedlicher Ausrichtung – eine Rolle. Bis in die Gegenwart gibt es marxistische oder neomarxistische Ansätze zur Gerechtigkeitsdebatte beispielsweise in der Befreiungstheologie.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts haben die marxistisch beeinflussten Kämpfe gegen ungerechte Verhältnisse u.a. zur Entwicklung von Sozialsystemen und zu einer höheren sozialen Gerechtigkeit beigetragen.

Benjamin

Walter Benjamin schrieb 1921 den Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ (hier zitiert nach Gesammelte Schriften Band II/1, Suhrkamp, Frankfurt), in dem er sich mit dem Verhältnis von Gewalt, Recht und Gerechtigkeit auseinander setzte. Benjamins fragte, wie Gewalt legitimiert werden kann. Anknüpfend an Kant unterschied er Zwecke und Mittel. Gerechte Zwecke können „durch berechtigte Mittel erreicht werden, berechtigte Mittel an gerechte Zwecke gewendet werden.“ (KdG, 180) Gewalt kann nur als Mittel dienen, nicht aber als durch Vernunft bestimmter Selbstzweck. Unrechtmäßige Gewalt bedroht jede Rechtsordnung. Daraus folgt, dass paradoxerweise im Recht die Befugnis zur Gewalt enthalten sein muss, um das Recht mit Gewalt durchzusetzen. Zugleich kann Gewalt außerhalb des Rechts niemandem zugestanden werden. Die Sanktionierung von Gewalt im Recht ist für Benjamin daher die „historische Anerkennung ihrer Zwecke“ (KdG, 182).

Gewalt ist allgemein betrachtet entweder rechtsetzend oder rechtserhaltend. Rechtsetzend ist einerseits die Gewalt des Angreifers im Krieg und andererseits der Generalstreik, der entweder als politischer Streik neues Recht schaffen oder als proletarischer Streik Recht auflösen will und damit in die angestrebte Anarchie führt. Dadurch dass jede Rechtsetzung danach strebt, auf Dauer zu bestehen, erzeugt sie in sich die Rechtserhaltung. Diese ist eine Bestätigung und damit eine Wiederholung der Rechtsetzung.

Gerechtigkeit kann nicht dem (gesetzten) Recht entspringen, da ihre Gültigkeit sonst vom Paradox von gesetzter und erhaltender Gewalt abhinge. Gerechtigkeit ist aber im Verhältnis zum Recht transzendent. Um dieses zu fassen, unterschied Benjamin zwischen mythischer und göttlicher Gewalt. Das positive Recht ist eine Errungenschaft des Menschen. Es entspringt der Macht und ist daher im Mythos begründet. Im Mythos manifestiert sich Gewalt spontan, aber dennoch rechtsetzend. Die Gerechtigkeit liegt jenseits der menschlichen Macht. Sie kann daher nur von einer Gewalt herrühren, die Schuld und Sühne überwindet. Die göttliche Gewalt ist Benjamins Symbol für die in der Gerechtigkeit liegende Kraft, sich der menschlichen Gewalt zu entziehen. Funktion der göttlichen Gewalt ist es, der rechtsetzenden Gewalt „Einhalt zu gebieten“.

„Ist die mythische Gewalt rechtsetzend, so die göttliche rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen, so vernichtet diese grenzenlos, ist die mythische verschuldend und sühnend zugleich, so die göttliche entsühnend, ist jene drohend, so diese schlagend, jene blutig, so diese auf unblutige Weise letal.“ (KdG, 199)

Für Benjamin hat Gerechtigkeit eine sittliche, außerhalb des Rechts liegende Dimension, ohne das „dialektische Auf und Ab“ (KdG, 202) des durch die Gewalt bestimmten Rechts. Sie ist das „Prinzip aller göttlichen Zwecksetzung“. (KdG, 198)

1 Responses to Was ist Gerechtigkeit? Die aktuellen Positionen in der Philosophie der Gegenwart

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