Erbschaft und Chancengleichheit

In der liberalen Philosophie hat die Chancengleichheit den allerhöchsten Stellenwert in Bezug auf Gerechtigkeit. Zugleich aber wird der Schutz des Eigentums als die wesentlich Funktion des Staates angesehen. Wir sollten also erwarten können, dass beide Prinzipien miteinander kohärent sind. Aber ist dem tatsächlich so? Sind das Prinzip der Chancengleichheit und der zum unabdingbaren Grundwert erklärte Schutz des Eigentums wirklich gleichermaßen in einer Gesellschaft verwirklichbar?

John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“, die Klimax der liberalen Weltanschauung im 20. Jahrhundert, kommt ausgehend vom Modell des Urzustands zur Konzeption einer gere chten Gesellschaft, die aus den liberalen Grundprinzipien ihre Postulate gewinnt. Denn Rawls kommt unter Voraussetzung dieses vermeintlich neutralen Modells zu dem Ergebnis, dass eine gerechte Gesellschaft zwei Prinzipien zu erfüllen habe:

  1. „Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System [von Freiheiten] für alle anderen verträglich ist.“ (TG 81)
  2. „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.“ (TG 81)

Das zweite Prinzip (=Differenzprinzip) bei Rawls impliziert zwar, dass eine gerechte Gesellschaft eine soziale Komponente haben muss. Da jedoch bei Rawls das erste Prinzip den Primat gegenüber dem zweiten genießt, sodass etwa die Grundfreiheit des Eigentumerwerbs und -besitzes der Verteilungsgerechtigkeit übergeordnet ist, und da das Differenzprinzip nur eine sehr schwache Ausprägung des sozialen Ausgleichs zulässt, führt die liberale Theorie der Gerechtigkeit dazu, dass zwar die Chancengleichheit als Prinzip beschworen wird, ihre Verwirklichung aber als mögliche Unfreiheit beschränkt wird.

Denn in einer Gesellschaft, die mit einem Erbschaftsrecht dafür Sorge trägt, dass der Schutz des Eigentums in der Form funktioniert, dass das Eigentum von einer Generation auf die nächste übergehen kann, muss mit Recht der Frage nachgegangen werden, welche Auswirkung dies auf die Chancengleichheit in einer solchen Gesellschaft hat. Chancengleichheit ist nämlich nur dann gegeben, wenn alle Mitglieder der Gesellschaft die gleiche Möglichkeit haben, die Chancen auf Entwicklung und Entfaltung zu ergreifen. Aber kann diese Möglichkeit in gleicher Weise gegeben sein, wenn der/die Eine in einer Familie groß wird, wo die finanziellen Ressourcen den Besuch von teuren Privatschulen und elitären Universitäten mit exorbitanten Studiengebühren ermöglichen – während der/die Andere in eine Familie hineingeboren ist, wo furchtbare Armut herrscht, sodass am Ende des Pflichtschulbesuchs in staatlichen Einrichtungen der Erwartungsdruck hoch ist, nun selbst einem Verdienst nachzugehen.

In einem gut entwickelten Sozialstaat wie Österreich wird gerne darauf verwiesen, dass der Besuch staatlicher Schuleinrichtungen gratis sei und ein ausgebautes Förder- und Stipendiensystem dafür sorge, dass alle die Möglichkeit hätten, höhere Bildung zu erwerben. Das soll nicht grundsätzlich bestritten werden. Dennoch sprechen alle Statistiken, die es zu diesem Thema gibt, eine deutliche Sprache: das Bildungssystem in Österreich ist sozial ziemlich undurchlässig! Nur ein geringer Teil der Kinder aus ArbeiterInnenhaushalten schließt ein Hochschulstudium ab – während AkademikerInnenkinder in hohem Ausmaß selbst auch ein Studium abschließen und in weiterer Folge höhergestellte Positionen inne haben.

Wer aus einer wohlhabenden Familie stammt, hat große Chancen im Schottengymnasium, oder gar in Salem zu maturieren, anschließend in Harvard oder Bologna den Master zu machen – und im höheren Management eines Unternehmens zu landen. Wer aus einer Hilfsarbeiterfamilie stammt, wird bestenfalls mit knapper Not die Pflichtschule abschließen und dann einer niederen Erwerbstätigkeit nachgehen, die durch häufige Phasen von Arbeitslosigkeit unterbrochen ist.

Und etwa zwischen 50 und 60 erbt der Spross aus einer wohlhabenden Familie wertvollen Immobilienbesitz, maßgebliche Unternehmensbeteiligungen und einiges an Geldvermögen. Für die eigenen Nachkommen ist also ein Finanzpolster gelegt, sodass sie ebenfalls die beste Ausbildung bekommen können.

Der Spross aus der Unterschichtfamilie schafft es gerade irgendwie, dass seine Eltern während ihrer letzten Lebensphase eine einigermaßen ausreichende Pflege bekommen. Am Ende muss er meist noch etwas drauflegen, wenn er ihnen nach dem Tod ein würdevolles Begräbnis zukommen lassen will. Zu erben gibt es in meisten Fällen nichts – eher noch sind Schulden von nicht abgezahlten Krediten vorhanden. Den eigenen Kindern wird in dieser Situation nahegelegt, möglichst frühzeitig von der Ausbildung in die Erwerbstätigkeit umzusatteln, da die finanziellen Mittel für den Besuch einer höheren Bildungseinrichtung nicht vorhanden sind. Und damit sind wir wieder am Ausgangspunkt der vermeintlichen Chancengleichheit.

Zusammenfassend muss somit der Schluss gezogen werden, dass das Erbschaftssystem in einer Gesellschaft dafür Sorge trägt, dass sich die ungleiche Verteilung von Chancen über Generationen hinweg fortsetzt. Erst durch die Einführung einer praktisch hundertprozentigen Erbschaftssteuer könnte also die Voraussetzung dafür geschaffen werden, dass jeder Bürger die gleiche Chance für eine erfolgreiche Entwicklung erhält. Denn mit einem bestimmten Alter (z.B. mit 21 Jahren) könnte durch diese Einnahmen jeder Staatsbürger die gleiche Summe erhalten (die sich aus der Summe der Erbschaftssteuereinnahmen des Vorjahres ergibt, geteilt durch die Anzahl der Staatsbürger, die diesem Jahr das entsprechende Alter erreichen), die es ihm ermöglicht, entweder eine gute Ausbildung zu finanzieren, den Sprung in die Selbstständigkeit zu wagen oder längere Zeit auf Reisen zu gehen und die Welt kennenzulernen, – oder natürlich auch, unsinnige Konsumausgaben zu tätigen. Mit einer solchen Starthilfe hätte nun tatsächlich  jeder Staatsbürger die gleiche Chance, sich eine selbstbestimmte Existenz unter Ausnutzung aller seiner Möglichkeiten aufzubauen.

Da eine hundertprozentige Erbschaftssteuer jedoch die emotionale Bindung an den elterlichen Besitz vollkommen außer Acht lässt und wohl ein zu großer Bruch mit dem gewohnten System der Vermögensweitergabe wäre, könnte eine Kompromisslösung in einem Modell bestehen, das deutlich weiter geht als die Vorschläge der GPA-djp: Neben einem Freibetrag von EUR 100.000,– für alle Vermögenswerte wird bei Immobilien, die als Eigenheim des Erblassers fungiert haben, bis zu einem Wert von EUR 300.000,– nur eine Erbschaftssteuer von 5% eingehoben, für alle anderen Vermögenswerte ein Steuersatz von 20%. Über dem Wert von EUR 300.000,– sollte der Steuersatz für die Erbschaftssteuer dann generell in mehreren Abstufungen von 20% auf 60% bei einem Wert von mehr EUR 1,000.000,– ansteigen. Diese Einnahmen des Staates sollten, wie oben angeregt, dazu verwendet werden, allen Staatsbürgern mit einem bestimmten Alter die gleiche Starthilfe für den Aufbau einer selbstbestimmten Existenz zur Verfügung zu stellen.

2 Responses to Erbschaft und Chancengleichheit

  1. Such a well written post.. Thnkx for sharing this post!

  2. Rodolfo Vontobel sagt:

    Sie haben offenbar Rawls‘ Theorie falsch verstanden. Dieses Missverständnis ist aber nachvollziehbar, wenn man die Grundfreiheiten auf klassisch-liberaler Weise interpretiert. Ich spreche hier nur zwei Punkte an.

    Unter den Grundfreiheiten fasst John Rawls nicht die wirtschaftlichen Freiheiten, vielmehr setzt er Chancengleichheit und das Differenzprinzip im Vorrang vor diesen Freiheiten. Der Grund wird beim Beispiel Eigentumsrechten klar. Er ist explizit für ein Recht auf persönlichen Eigentum, denn das erfordert sein Grundrecht auf persönliche Freiheit und für die persönliche Autonomie. Man muss bedenken, dass die Grundfreiheiten dazu dienen sollen, dass jeder Bürger seine Vorstellung des guten Lebens ausüben können soll, egal was für eine dieser hat. Recht auf bestimmtes Eigentum wie Privateigentum an Produktionsmittel oder sonstigen Ressourcen sind dafür nicht notwendig, das heisst die Frage nach Privateigentum an Produktionsmittel oder nach öffentlichen Eigentum ist eine indirekte Frage der Gerechtigkeit. Und zwar ist sie insofern indirekt, denn es stellt sich lediglich die Frage, welches Eigentumssystem die beste ist, Rawls‘ zwei Prinzipien gerecht zu werden. Er glaubt, das kann nur der liberale, demokratische Marktsozialismus oder ein Privateigentumssystem, das auf allen Bürgern verbreitet ist, sodass Konzentration von Kapital nicht möglich ist (die „property-owning democracy“, die vom Ökonomen James E. Meade aus seinem Werk „Liberty, Equality and Efficiency“ inspiriert war). In seinem Fokus auf das letzte System in seinen Büchern sagt er, dass u. a eine progressive Erbschaftssteuer nötig ist, damit nebst den gleichen Wert der politischen Freiheiten im ersten Gerechtigkeitsprinzip auch die Chancengleichheit erhalten bleibt. Die Konzentration von Privateigentum erachtete er als konfliktträchtig mit seiner Konzeption von Chancengleichheit. Er fordert aber keine Abschaffung der Erbschaft, denn ist prima facie kein zwingendes Problem, dass Erbschaften ungleich verlaufen, wenn diese Ungleichheit für das höchste soziales Minimum sorgt und anderweitig gesorgt wird.

    Sie scheinen noch eine andere, implizite Befürchtung zu haben, und zwar der, dass Recht auf Eigentum jede Steuer als eine Einschränkung sieht. Diese Annahme scheint nicht einmal bei anderen liberalen Theoretikern zu existieren, da sie wenn auch vielleicht weniger vorrangig aber auch öffentlichen Gütern für wichtig halten. Bei John Rawls kann Steuern auch nicht als eine Einschränkung sehen, denn seine grundlegende Ideen und Ausgangslage für die Frage der Verteilungsgerechtigkeit ist der, dass Menschen in einer Gesellschaft notwendigerweise unter einer sozialen Kooperation leben, in der man notwendigerweise gegenseitig voneinander profitiert. Aus dieser Ausgangslage stellt er sich die Frage, was die fairen Modalitäten und Regelungen einer sozialen Kooperation sind, worauf er schlussendlich den Urzustand als Argumentationsmuster liefert. Die fairen Modalitäten der sozialen Kooperation sind unter Rahmen- oder „Hintergrund“institutionen zu führen, die er mit der Verfahrensgerechtigkeit verbindet. Da es unmöglich ist, einzelne Verteilungskonstellation zu bewerten, da sie u. a immer (auch) ein Produkt von Institutionen sind, scheint es nützlicher, nach gerechten Institutionen zu suchen, von der man nachher ausgehen kann, darauf ergebe sich gerechte Verteilungen. Das heisst es braucht gemäss Chancengleichheit z. B öffentliche Bildungsinstitutionen, die im Hintergrund stehen damit unter diesem Rahmen normal sozial zusammengearbeitet wird. Die Erbschaftssteuer gehört auch zur Bedingung dazu, damit frühere verfahrensgerechte Verteilungen auch spätere Verteilungen als verfahrensgerecht gewährleisten können.

    Aus diesen zwei Punkten wird auch klar, dass er mit dem heutigen Kapitalismus mit Sozialstaat nicht zufrieden ist. Er sieht Kapitalismus im engeren Sinne als überhaupt nicht gerecht an, weshalb Gerechtigkeit laut ihm weitverbreiteten Kapitalbesitz erfordert statt die Konzentration des Kapitalbesitzes.

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