Hans Rosling: Der Darling der Neoliberalen

7. Dezember 2020

Der an Bauchspeichelkrebs verstorbene schwedische Mediziner Hans Rosling hat gemeinsam mit seiner Familie ein Buch verfasst mit dem Titel: Factfulness*. Voller „Fakten“ über verschiedene Aspekte der Entwicklung der Welt ist dieses Buch tatsächlich. Sein Motiv für das Buch und die zahllosen Vorträge, die er über viele Jahre hinweg gehalten hat: Die Menschen, die die Welt viel pessimistischer sehen, als sie in Wirklichkeit sei – vor allem in den wohlhabenden Ländern – durch Fakten aufklären. Rosling sagt, er hätte herausgefunden, dass die Mehrheit der Menschen, die Lage bei Armut, Bildung und Gesundheit wesentlich schlechter einschätzte, als die tatsächlichen Faktenlage sei. Seine Arbeit solle die Instinkte hinter diesem Pessimismus aufzeigen (Kluft, Negativität, Angst, Verallgemeinerung, Schuldzuweisung, Dringlichkeit usw.) und diese mit den Fakten konfrontieren, um so ein Umdenken auslösen.

Gibt es an dieser Aufgabe etwas auszusetzen? Nun, dass neoliberale Think Tanks in letzter Zeit die Arbeit von Rosling in höchsten Tönen loben, sollte zu denken geben. Und tatsächlich, wenn man bei Rosling genauer hinsieht, wird offensichtlich, dass einige Teile seiner Ergebnisse für ein zutiefst ideologisches Programm benutzt werden können. Mit der Betonung des Faktencharakters soll dies gerade verschleiert werden.

Rosling soll natürlich nicht mit der ideologischen Ausschlachtung durch die neoliberalen Denkfabriken gleichgesetzt werden. Sein Buch zeigt interessante Entwicklungen auf und fesselt durch die Schilderung seiner Erfahrungen als junger Arzt in Afrika und in einer Notaufnahme in Schweden. Einiges an seiner Kritik an der Medienlogik ist durchaus berechtigt. Selbstverständlich sind Medien davon getrieben, durch Dramatisierung Aufmerksamkeit zu erlangen. Und selbstverständlich darf man seine Augen nicht vor den Fakten verschließen, die Auskunft über globale Entwicklungen geben.

Rosling macht es mit einigen seiner Daten den Neoliberalen jedoch viel zu leicht, dass man ihn instrumentalisiert. Von dieser Schuld kann er nicht einfach freigesprochen werden. Er selbst stellt seine Fakten als Gegensatz zur Ideologie dar (z.B. amerikanisches Gesundheitssystem, Kuba). Tatsächlich erlangen Fakten erst im Rahmen der richtigen Ideologie ihre Bedeutsamkeit.

Roslings Methode

Sehen wir uns zwei Beispiele aus seinem Buch an, um die problematische Seite an seiner Arbeit aufzuzeigen. Seine erste Frage an das Publikum in seinen Vorträgen lautet: Wie viele Mädchen absolvieren heute die Grundschule in den Ländern mit niedrigem Einkommen? A: 20 Prozent; B: 40 Prozent; C: 60 Prozent? Die richtige Antwort ist C und das wird von den meisten falsch beantwortet. Wenn 60 Prozent der Mädchen in diesen Ländern die Grundschule absolvieren, dann ist ja alles gut. Moment mal! 60 Prozent ist der höchste Wert der möglichen Antworten. Ist das aber auch ein Wert, der als positiv zu bewerten ist? Nein, natürlich nicht. Zufriedenstellend wäre erst ein Wert über 95 Prozent. Wenn Rosling nur unbefriedigende Optionen abfragt,  suggeriert das: Ist  der höchste dieser Werte korrekt, dann steht es gut um unsere Welt. Außerdem lässt Rosling die Testpsychologie außer Acht: Wenn Menschen bei einer Antwort unsicher sind, wählen sie eher die mittlere Option. Das unterscheidet sie von dem von Rosling bemühten Zufallsgenerator Schimpanse.

Worauf sich Rosling sehr stark fokussiert, das ist, die Veränderungen zum Positiven hervorzuheben. Die Kindersterblichkeit ist gesunken, die Rate der geimpften Kinder ist gestiegen, die Lebenserwartung ist gestiegen, die extreme Armut hat abgenommen. Wenn etwas besser geworden ist, dann muss doch jeder zustimmen, dass unsere Welt sich positiv verändert hat. Das ist das, was die Neoliberalen an Roslings Arbeit schätzen. Sie es erlaubt ihnen, diese Entwicklung als Erfolg ihrer Ideologie darzustellen. Rosling betont jedoch, dass etwas, das sich verbessert hat, noch immer schlecht sein kann. Aus meiner Sicht gilt dies insbesondere für die globale Armut, wo es Verbesserungen gibt, aber die Mehrheit der Menschen noch immer in Armut lebt. Wie sieht das jedoch Rosling? Das zeigt das zweite Beispiel.

Armut und Reichtum im globalen Maßstab

Die dazugehörige Frage Roslings lautet: Wo lebt die Mehrheit der heutigen Weltbevölkerung? A: In Ländern mit geringem Pro-Kopf-Einkommen? B: In Ländern mit mittlerem Pro-Kopf-Einkommen? C: In Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen? Die richtige Antwort ist: 75 Prozent der Weltbevölkerung lebt in Ländern mit mittlerem Pro-Kopf-Einkommen. Hier ist überraschenderweise nicht der beste Wert die richtige Antwort. Der Clou dabei ist jedoch, wie Rosling diese Ländergruppen definiert. Er verteilt die Weltbevölkerung in vier Gruppen: Stufe 1: Pro-Kopf-Einkommen weniger als 2 Dollar pro Tag. Stufe 2: Pro-Kopf-Einkommen weniger als 8 Dollar pro Tag. Stufe 3: Pro-Kopf-Einkommen weniger als 32 Dollar pro Tag. Stufe 4: Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 32 Dollar pro Tag. Rund eine Milliarde Menschen lebt auf Stufe 1, rund drei Milliarden auf Stufe 2, rund zwei Milliarden auf Stude 3, rund eine auf Stufe 4. Indem er die beiden mittleren Stufen zusammenfasst, kommt Rosling zu dem Ergebnis, dass 75 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern mit mittlerem Pro-Kopf-Einkommen lebt.

Man kann ruhig eingestehen, dass sich der Anteil der Weltbevölkerung, der in extremer Armut lebt, also weniger als 2 Dollar am Tag zur Verfügung hat, in den letzten zwanzig Jahren deutlich verringert hat; Rosling sagt, dass er sich halbiert hat. Das bedeutet aber nicht, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung der Mittelschicht angehört und es daher keine Kluft zwischen Reich und Arm mehr gibt, wie uns Rosling suggerieren möchte. Nach den Maßstäben von reichen Ländern wie Schweden oder Österreich sind alle Menschen auf den Stufen 1 bis 3 arm! Mit weniger als tausend Dollar im Monat ist man hier kein Teil der Mittelschicht. Es hat Fortschritte bei der extremen Armut gegeben – keine Frage. Damit ist das Problem der Kluft zwischen Reich und Arm aber nicht aus der Welt geschafft. In der Reichenforschung, auf die Rosling überhaupt nicht eingeht, befasst man sich nicht mit Personen, die mehr als tausend Dollar im Monat verdienen. Erstens sieht man sich nicht das Einkommen, sondern das Vermögen an, weil hier die Kluft noch viel größer ist. Zweitens liegt das oberste 1 oder gar 0,1 Prozent in ganz anderen pekuniären Sphären als die von Rosling herangezogenen Grenzwerte: Es geht bei Reichtum um Multimillionäre und Milliardäre, die ihren Reichtum dafür nutzen können, Einfluss auf die Politik zu nehmen.

Der Heros der Neoliberalen

Die neoliberalen Think Tanks lieben an Rosling, dass er durch die geschickte Wahl seiner Abstufungen, es nahezulegen scheint, man müsse optimistisch auf die Welt blicken, da sie sich in eine gute Richtung entwickelt. Der höchst ideologische Charakter der Arbeit von Rosling liegt darin, dass er durch die geschickte Aufbereitung von Fakten neoliberale Denkfabriken mit jener Munition versorgt, die Kritik am ungerechten Zustand der Welt zum Schweigen  bringen soll. Das Aufzeigen von Ungerechtigkeit wird als ein Pessimismus diagnostiziert, der durch das Verbreiten der objektiven Fakten über die Welt geheilt werden kann. Wie schon oben gesagt: Rosling erlaubt dem Neoliberalismus, sich für die positive Entwicklung auf die Schulter zu klopfen.

Dafür wird er von ihnen in den Olymp unter den Sachbuchautoren erhoben. Sie sind ihm unglaublich dankbar dafür, dass er nahelegt, der Feldzug für mehr Gerechtigkeit sei nicht mehr notwendig, weil sich die Welt ohnehin auf dem richtigen Weg befinde. Mit Roslings Abstufungen können sie behaupten, es gebe in den wohlhabenden Ländern gar keine Armut mehr. Niemand befindet sich hier auf Stufe 1 oder 2. Dies impliziere auch, mit den horrenden Auswüchsen des Reichtums müsse man sich nicht befassen. Rosling eilt ihnen hier leider zu Hilfe, indem er die Beschäftigung damit dem Instinkt der Kluft zuordnet, der einen Gegensatz dort suche, wo er nicht vorhanden sei. Dieser Instinkt übersehe nämlich, dass die Mehrheit der Menschheit (laut Roslings Abstufung) auf mittlerem Niveau lebe. Wie wir weiter oben aufgezeigt haben, geht dies auf die Definition der Abstufungen zurück. Zieht man andere Maßstäbe heran, die die Situation adäquater beschreiben, befindet sich die Mehrheit der Menschheit nach wie vor in Armut, lediglich die extreme Armut hat abgenommen; und der Reichtum bedroht Demokratie und Zusammenhalt der Gesellschaft.

Fakten und Ideologie

Die Aufgabe der Kritik von linker Seite ist es, dieses durchschaubare Manöver den neoliberalen Denkfabriken (und auch Rosling) nicht durchgehen zu lassen. Man muss die Menschen verstärkt darüber aufklären, dass nicht nur Fake News in die Irre führen.  Fakten können geschickt aufbereitet werden, sodass ihre ideologische Funktion übersehen wird. Fakten sind keine Garantie, auf der richtigen Seite zu stehen. Wir müssen verstärkt jene intellektuellen Kompetenzen vermitteln, die es erlauben zu durchschauen, wenn Fakten in den Dienst einer falschen Ideologie gestellt werden.

Wenn Neoliberale Fakten auf dem Präsentierteller feilbieten, kann man sich darauf verlassen, dass diese Fakten dem Zweck dienen, ihre Ideologie gegen Kritik zu immunisieren. Es wird dabei nicht der Schleier der Maya gelüftet, sondern es wird versucht, die Möglichkeiten des kritischen Denkens unter einer geschickt zusammengetragenen Faktensammlung zu ersticken.

Der Kampf gegen Ungleichheit muss weiterhin ganz oben auf der Agenda stehen.

*Hans Rosling, Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Berlin 2018.


Gerhard Zeiler: Leidenschaftlich rot. Darum mehr Sozialdemokratie

13. Dezember 2019

Der Medienmanager Gerhard Zeiler hat ein Buch über die Sozialdemokratie geschrieben. Von manchen wird es als Bewerbungsschreiben für die Funktion des Parteivorsitzenden angesehen. Er bestreitet dies entschieden.

Die Familie und Sinowatz

Stark ist das Buch, wenn er von seiner Familie erzählt, z.B. dem Großvater, der als gelernter Drucker von Jugend an in der Gewerkschaftsbewegung aktiv war und Tränen in den Augen hatte, als Franz Jonas zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Oder wenn er von der Vaterfigur Fred Sinowatz erzählt. Über dessen Credo sagt er: „Er nahm sich selbst nie wichtig, stellte immer das Resultat in den Vordergrund.“ (S. 45) Zu Unrecht sei Sinowatz unterschätzt worden, weil er darauf hinwies, dass „die Welt, in der wir leben, vielschichtig und komplex ist“. (S.49) Seine Einschätzungen zu anderen Persönlichkeiten wie Franz Vranitzky, Gerhard Schröder, Angela Merkel oder Emanuel Macron muss man nicht zu hundert Prozent teilen.

Man gut verstehen, wenn er nach der Schilderung seiner Teilnahme an Protesten gegen den Vietnam-Krieg konstatiert: „Es gab allerdings kein Ereignis, das mich mehr politisierte als der Putsch vom 11. September 1973 gegen die Regierung Salvador Allendes in Chile.“ (S. 42)

Vom Neoliberalismus infiziert

Aber warum übernimmt er dann neoliberale Ansichten, wo er doch das Ereignis beklagt, wo der Neoliberalismus seine hässlichste Fratze gezeigt hat? Unter dem Titel „Neudefinition der Staatsaufgaben“ stellt er beispielsweise die Überlegung an: „Auch im Sozialbereich sollten wir- vorsichtig – den Grundsatz überdenken, dass alle Sozialleistungen für jede Bürgerin und jeden Bürger gleich sein müssen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass gewisse Sozialleistungen, wie etwa Familienbeihilfen, nur für wirklich Bedürftige vorgesehen sind.“ (S. 162f.) Diese Haltung ist nicht sozialdemokratisch, sondern konservativ und neoliberal. Letztere wollen Sozialleistungen nur für jene, die sonst verhungern oder auf der Straße landen würden. Beim sozialdemokratischen Zugang steht beim Sozialsystem im Vordergrund, dass jene, die nicht auf Sozialleistungen angewiesen sind, diese durch ihre angemessene Steuerleistung finanzieren. Dass der neoliberale Virus noch nicht die völlige Kontrolle übernommen hat, zeigt das Bekenntnis von Zeiler zu einem progressiven Steuersystem, das auch Erbschaften besteuert. Allerdings ist diese Haltung kein sozialdemokratisches Alleinstellungsmerkmal, sondern im klassischen Liberalismus ebenfalls selbstverständlich.

Macron statt Corbyn

Den Kopf muss man schütteln, wenn er Macron für sein „fortschrittliches sozial-liberales Konzept“ (S. 115) lobt und der Corbyn der traditionalistischen Auffassung des „Zurück zur reinen Lehre“ bezichtigt (Ebd.). Zurück hinter das Godesberger Programm der SPD ist ein Schritt in die Zukunft der Sozialdemokratie, da der dritte Weg gezeigt hat, wer dem Kapitalismus Zugeständnisse macht, führt die Sozialdemokratie in die Bedeutungslosigkeit.

Ein Programm für die SPÖ

Große Teile des Buches befassen sich damit, der SPÖ programmatische Ratschläge zu erteilen. Gleich zu Beginn empfiehlt er seiner politischen Heimat die Verortung als „Partei der linken Mitte“ (S. 12), die sich auf Jugend und Frauen fokussiert, sowie unter Führung von Rendi-Wagner eine Minderheitsregierung von Kurz akzeptieren solle – wenn  bloß ein Nettomindestlohn von 1.700 Euro und eine CO2-Abgabe mit sozialem Ausgleich ungesetzt wird (S. 15).

Dazu muss erstens gesagt werden, die Rede von der politischen Mitte eine psychologische Funktion erfüllt: Die Angst vor den Extremen nehmen. Eigentlich gibt es, mit Isolde Charim gesprochen, die politische Mitte nicht. „Sie wird von jenen hergestellt, die sich durchsetzen.“

Zweitens ist ihm beizupflichten, dass gerade bei den Frauen und der Jugend die Chancen der SPÖ liegen. Schade also, dass Rendi-Wagner erstere als Wähler leider nicht genügend überzeugt hat.

Drittens: Pro und Contra für eine Minderheitsregierung Kurz sind reine strategische Spiele, die die SPÖ in der schwierigen aktuellen Situation nicht weiterbringen.

An späterer Stelle formuliert er als Grundpfeiler einer sozialdemokratischen Politik: 1. Zum Frieden in der Welt beitragen. 2. Der zunehmenden Ungleichheit entgegentreten. 3. Den fortschreitenden Klimawandel bekämpfen. 4. Die Digitalisierung aktiv gestalten. 5. Bildung für alle zu einem zentralen politischen Thema machen. 6. Das Thema Sicherheit nicht den Rechtspopulisten überlassen. 7. Für einen starken und effizienten Staat eintreten. 8. Für ein starkes Europa eintreten. Hier kann man durchaus ein Stück des Weges mit ihm gehen. Aber ein klares Veto steht an, wenn er sagt: „Es geht um die Reform des kapitalistischen Systems, nicht um seine Überwindung.“ (S. 31) Die vielen Jahre als Manager im Medienbetrieb hat ihn vergessen lassen, was er in der Sozialistischen Jugend gelernt hat.

Migration

Zur Migration stellt er zehn Thesen auf, denen die SPÖ zu folgen habe. Diese sind großteils eine Gratwanderung zwischen Humanismus und Populismus, da er sich zum Recht auf Einwanderung bekennt, aber ohne Bedenken unter Berufung auf Sarah Wagenknecht konstatiert: „Wer die Gastfreundschaft verletzt, hat das Gastrecht verloren.“ (S. 126) Bejaht er somit auch eine Abschiebung von Straffälligen nach Afghanistan? Die Forderung nach einem Marshallplan für Afrika verdient jedoch die uneingeschränkte Zustimmung.

SPÖ neu

Im letzten Teil geht er explizit auf das politische Programm für eine neue SPÖ ein: 1. Die SPÖ ist die Schutzpartei der sozial Schwächeren, die Partei des sozialen Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit. Gleich der erste Teil ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Der Begriff „sozial Schwache“ ist erstens schlecht gewählt, weil die damit gemeinten nicht „sozial“ schwach sind, sondern aufgrund prekärer finanzieller Verhältnisse einer adäquaten gesellschaftlichen Teilhabe verlustig gehen. Selbstverständlich muss die Sozialdemokratie für die damit gemeinten da sein – denn sonst ist es niemand. Aber das eigentliche Ziel der Sozialdemokratie ist, dass Menschen nicht unter solchen Bedingungen leben müssen. Wenn er im Kampf gegen Armut einen gesetzlichen Mindestlohn fordert, wünscht man sich, er könnte sich mit seinem Großvater darüber austauschen, warum das Aufgabe von Gewerkschaft und Sozialpartnerschaft ist.

Verstanden hat Zeiler allerdings, warum die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht das Allheilmittel für ein Sozialsystem der Zukunft bereithält.

  1. Die SPÖ steht im Kampf gegen den Klimawandel … an vorderster Front. „Denn wenn die SPÖ sich nicht in die erste Reihe des Kampfes gegen den Klimawandel stellt, wird sie – völlig zu Recht – keine Option für die Jugend bei künftigen Wahlgängen mehr sein.“ (S. 150f.) In diesem Punkt ist im vollkommen zuzustimmen.
  2. Die SPÖ ist eine wirtschaftsfreundliche Partei („Weil man die Kuh, die man melken will, nicht schlachten soll.“) Geschickt greift Zeiler hier auf Anton Benya zurück, um zu kaschieren, dass seine Ansichten in diesem Punkt wie die eines WKÖ-Funktionärs klingen: für Arbeitszeitflexibilisierung, gegen Ladenschlusszeiten. Den Slogan „Menschen statt Konzerne“ erachtet der Manager eines internationalen Medienkonzerns als „falsche Polarisierung“ (S. 154), die keine Wählerstimmen bringt. Die SPÖ möge durchaus eine „wirtschaftsfreundliche“ Partei sein – aber gewiss darf sie dem Kapitalismus nicht freundlich gesinnt sein.
  3. Die SPÖ ist … die Partei der Bildungsreformen. Die gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen und die Ganztagsschule sind langjährige Forderungen der Sozialdemokratie. Die Forderung nach einem zweiten verpflichtenden Kindergartenjahr ist unter den PädagogInnen weit verbreitet, aber kein „sine qua non“ sozialdemokratischer Bildungspolitik.
  4. Die SPÖ steht für Sicherheit und den Kampf gegen Kriminalität. Da von rechter Seite die Angst vor Kriminalität erfolgreich instrumentalisiert wird, sieht sich Zeiler genötigt, zu behaupten: „Zum Begriff Sicherheit muss sich die Sozialdemokratie ohne Wenn und Aber bekennen.“ (S. 157) Hier gibt das Sprichwort zu bedenken: „Warum zum Schmiedl gehen, wenn man den Schmied haben kann?“
  5. Es ist eine Neudefinition der Staatsaufgaben und auch der Staatsaufgaben erforderlich. Zu diesem Punkt wurde schon an früherer Stelle angemerkt, dass sich hier ein deutlicher Ausfluss von neoliberaler Ideologie bemerkbar macht. Der Staat ist für die Sozialdemokratie eben nicht auf die Schutz- und Kontrollfunktion zu reduzieren. Kurz blitzt bei Zeiler auch ein Keynesianisches Momentum auf, wenn er den „Investitionsauftrag“ (S. 161) des Staates einmahnt.

Schlussfolgerung

Kurz vor dem Ende fordert Zeiler: „Die SPÖ muss wieder Selbstbewusstsein ausstrahlen und mit einer Portion Optimismus die Zukunft gestalten wollen. Will sie Wahlen gewinnen, muss sie die Debatte über die Zukunft führen.“ (S. 164) Leider muss man aufgrund seiner Ausführungen in diesem Buch zu dem Schluss kommen: Er wäre wohl nicht der Richtige an der Spitze, da er in erster Linie das wiederholt, was wir schon so oft von den Vertretern des dritten Weges gehört haben.

 

Zeiler_BuchGerhard Zeiler

Leidenschaftlich rot. Darum mehr Sozialdemokratie

167 Seiten. EUR 22,–

Brandstätter. Wien 2019.


Messi, Ronaldo und Co: Woher kommt die Gier?

11. Dezember 2016

football_leaksStars wie Lionel Messi und Cristiano Ronaldo erhalten 27 Millionen Euro oder mehr von ihren Fußballclubs. Dazu kommen Werbeeinnahmen in etwa gleicher Höhe. Letzterer soll 20 Autos in seiner Garage stehen haben: darunter ein Bugatti Veyron, ein Lamborghini Aventador, ein Audi RS6 Avant (das Dienstauto), ein Ferrari usw. Man sollte also meinen, dass Menschen wie Messi und Ronaldo auch nach Abzug der Steuern ein Leben in Saus und Braus genießen können. Der Anreiz der Steuerhinterziehung sollte bei ihnen keine Rolle spielen.

 

Und doch wurde Messi im Juli 2016 zu 21 Monaten bedingter Haftstrafe verurteilt, weil sein Vater und er über Scheinfirmen in Belize und Uruguay zwischen 2007 und 2009 Steuern in Höhe von insgesamt 4,16 Millionen Euro hinterzogen haben sollen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann auch Ronaldo ein ähnliches Urteil ereilen wird. Denn die in Zeitungen wie Falter und „Der Spiegel“ veröffentlichten Enthüllungen von Football-Leaks versichern glaubhaft, dass Ronaldo mit Hilfe seines Beraters Jorge Mendes über eine Briefkastenfirma auf den British Virgin Islands viele Jahre lang lukrative Werbeeinnahmen an den spanischen Steuerbehörden vorbeigeschleust hat.

 

FC Barcelona und Real Madrid verfügen über eine treue und begeisterte Anhängerschaft. Woche für Woche sind das Camp Nou und das Estadio Santiago Bernabéu mit 80.000 bis 100.000 BesucherInnen gefüllt. Spanien und damit auch Katalonien leiden seit 2008 unter den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosigkeit, vor allem unter den Jugendlichen, ist sehr hoch in Spanien. Trotzdem sind die Stadien voll und Ticketpreise von 50 Euro aufwärts (für den El Classico noch weit mehr) schrecken die Fans nicht ab. Auch die Fanartikel der beiden Klubs sind hoch begehrt. Für ein Originalfußballtrikot der beiden Mannschaften muss man etwa 78 Euro hinlegen. Die Situation in den Heimatländern der beiden Stars ist noch schlimmer. In Portugal wandern viele junge Menschen aus, weil sie in ihrem Land keine Perspektive für sich sehen können. Und Argentinien leidet auch viele Jahre nach der schweren Rezession 1998/99 an den Folgen der Bestrafung durch die Finanzmärkte – als sich das Land 2014 weigerte, alle Schulden zu bedienen.

 

Messi und Ronaldo könnten also dankbar sein, dass das Schicksal es gut mit ihnen meinte und ihnen mit einer herausstechenden Fußballbegabung den Weg in den Reichtum ebnete. Da sie mehr verdienen, als sie bei allem Hang zum Luxus jemals werden ausgeben können, sollten sie mit Freuden einen guten Teil ihres Verdienstes für ihre Steuerleistung hergeben – damit der Staat jene unterstützen kann, die nicht mit ihrem Talent gesegnet sind. Warum ist das nicht so? Warum lassen sie sich von ihren Beratern Konstruktionen aufschwatzen, wie sie ihre Steuerleistung aus den Werbeeinnahmen gegen Null senken? Warum möchten sie nicht nur der weltbeste Fußballer sein, sondern auch ein As bei der Steuervermeidung?

 

Ich denke, hier hat die Philosophie des Neoliberalismus ganze Arbeit geleistet. Das Prinzip des gnadenlosen Wettbewerbs und des Strebens nach dem individuellen Triumph in der Konkurrenz um die höchsten Profite hat einen Sieg auf allen Linien eingefahren. Ronaldo und Co möchten nicht nur stets Torschützenkönig und Weltfußballer des Jahres sein, sondern auch die Liste der reichsten Fußballerspieler anführen. Wer in diesem Wettstreit durch Steuerehrlichkeit einen Wettbewerbsnachteil einräumt, ist gefährdet, dass die Siegerstraße in eine Sackgasse mündet. Und so treibt sie nicht die Freude am Spiel an, das beide mit ihren fußballerischen Künsten so unglaublich bereichern könnten, sondern der Wettbewerb um die Krone, wer den höchsten Profit einstreichen kann.

 

Es ist an der Zeit, dass der Neoliberalismus nicht länger unsere Köpfe und Herzen vergiftet.


Soll die Linke einen EU-Austritt fordern?

4. Dezember 2016

Während Rechtspopulisten seit vielen Jahren den Austritt aus der EU und die Rückkehr zum Nationalismus propagieren, hat die Linke bisher bei aller Kritik an der neoliberalen Ausprägung die Europäische Einigung grundsätzlich begrüßt. Neuerdings werden aber die Stimmen in der linksliberalen Zivilgesellschaft lauter, die hier ein Umdenken fordern.

 

Was ist von dieser Wendung der Linken zu halten? Zunächst einmal sollte festgehalten werden, dass die Unzufriedenheit mit dem Weg, den die EU seit 25 Jahren eingeschlagen hat, mit Recht gigantische Ausmaße angenommen hat. Nach der Finanzkrise ist kurz die Hoffnung aufgeflammt, dass die neoliberale Hegemonie zu Ende ist und sich eine Neuorientierung ankündigt. Aber schon bald haben wieder neoliberale Rezepte die Krisenpolitik der EU beherrscht. Statt die Finanzmärkte in geregelte Bahnen zu lenken und zur Förderung des Wohlfahrtsstaates zurückzukehren, schrieb die EU Austerität und Schuldenbremse auf ihre Fahnen. Dass die Krise gefährlichen Auswüchsen der Finanzspekulation zu verdanken war, geriet schnell in Vergessenheit. Ein neuer Schuldiger wurde an den Pranger gestellt: die verschuldeten Staatshaushaeuxitlte.

 

Die Frustration der Linken über diese Entwicklung ist nur allzu verständlich. Den Höhepunkt erreichte der Sündenpfad der EU, als sie der links dominierten griechischen Regierung ein Programm aufzwang, mit dem diese Verrat an den WählerInnen beging und ihre Versprechen mit Füßen trat. Alle Hoffnungen, dass die EU in absehbarer Zeit einen Weg der Solidarität und im Interesse seiner BürgerInnen einschlagen könnte, liegen darnieder. Bleibt der Linke also nur noch der Weg, so wie die Rechtspopulisten und Nationalisten der EU generell den Rücken zu kehren? Um diese Frage mit Ja zu beantworten, ist es notwendig, die Idee der europäischen Einigung pauschal als Fehler anzusehen.

 

Aber ist die Idee der Europäischen Gemeinschaft grundsätzlich falsch? Ist es nicht vielmehr so, dass es in einem Zeitalter, in dem transnationale Konzerne die globalisierte Wirtschaft beherrschen, sinnvoll ist, auf politischer Ebene transnational zu operieren, um diese in die Schranken zu weisen? Ist das Problem nicht von der Gestalt, dass die Idee, eine transnationale politischen Institution zu schaffen, zu begrüßen ist, seine realpolitische Ausprägung durch den dominierenden Einfluss von konzernnahen Lobbying jedoch einen Verrat an der guten Idee darstellt?

 

Wenn man mir in diesem Punkt zustimmt, dann muss man zu dem Ergebnis kommen, dass nicht der Austritt aus der EU anzupeilen ist (der ist ohnehin von den Rechten so stark besetzt, dass ein linkes Reframing aussichtslos erscheint), sondern weiterhin eine demokratische und solidarische Reform der EU, die von unten kommt, das Ziel sein sollte.


Ist der Kapitalismus am Ende (3)

1. Dezember 2016

Im dritten Teil seines Buches möchte Mason seinen LeserInnen zeigen, wie der Übergang in den Postkapitalismus gelingen kann. Mason greift auf zwei historische Beispiele großer Übergänge zurück, um für die Planung dieser Transition Leitlinien aufzustellen: Aufstieg des Kapitalismus in der Neuzeit und die Sowjetunion. „Bei vernetzungder Planung des Übergangs von einem Wirtschaftssystem zu einem anderen können wir uns also nur auf Erfahrungen mit zwei sehr unterschiedlichen Vorgängen stützen: dem Aufstieg des Kapitalismus und dem Zusammenbruch der Sowjetunion.“ (S.284)

 

Ende der Sowjetunion und Cyberstalinismus

Die Geschichte der Sowjetunion von der russischen Revolution 1917 bis zum Zusammenbruch 1989 hat bei Mason die wesentlich schlechteren Karten, um als Modell des Übergangs in den Postkapitalismus zu dienen. Mit der Planwirtschaft hätten die russischen Revolutionäre auf ein Pferd gesetzt, dass durch Supercomputer heute umsetzbar wäre, aber durch die Einschränkung individueller Freiheiten nicht empfehlenswert sei. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Umsetzung eines „Cyberstalinismus“, wie sie etwa von Paul Cockshott und Allin Cottrell entwickelt wurden, sind für Mason abschreckend. „Ihr Modell ist der bisher beste Beleg dafür, dass jeder Versuch, den Postkapitalismus durch staatliche Planung und Unterdrückung des Markts zu erreichen, zum Scheitern verurteilt ist“ (S.302), schreibt er.

 

Shakespeare und der Aufstieg des Kapitalismus

Ein besseres Modell der Transition ist für Mason der langsame Aufstieg des Kapitalismus in der Neuzeit, wie er sich z.B. in den Dramen von Shakespeare widerspiegelt. Denn daran zeige sich, wie verschiedene Ebenen zusammenwirken, um diesen Übergang möglich zu machen. Vier Faktoren hätten den Ausschlag gegeben, warum das System der Verpflichtungen des Feudalismus der kapitalistischen Produktion weichen musste: Die landwirtschaftlichen Flächen wurden nicht effizient genutzt; die Pestepidemie führt zu einem Rückgang der Bevölkerung und daher zu einem Druck auf die Produktivität; die Eroberung Amerikas erschließt dem Abendland neue Reichtümer und Siedlungsraum; die Druckerpresse revolutioniert den Zugang zu Wissen und Bildung.

 

Klimawandel, Demografie und Migration

Wenn es nicht eine Menge drängender Probleme gäbe, die schnell einer Lösung bedürfen, könnte man sich mit dem Übergang Zeit lassen. Welcher Art sind diese Herausforderungen? Nun, Mason hält für die dringendsten Herausforderungen unserer Zeit den Klimawandel, die demografische Entwicklung, die Staatsverschuldung und die Migration. „Gäbe es den Klimawandel nicht, so könnte man sich einen Übergang zum Postkapitalismus vorstellen, der durch graduelle, spontane Entwicklung des wirtschaftlichen Austauschs außerhalb des Marktes und der Allemendeproduktion vorangetrieben wird … Die äußeren Schocks machen jedoch zentralisierte, strategische und rasche Eingriffe erforderlich.“ (S.334f.) Hinsichtlich des Klimawandels kann man Mason zustimmen, dass uns die Zeit davonläuft und der Kapitalismus in seiner neoliberalen Ausprägung zu langsam reagiert.

 

Beim Thema alternde Gesellschaft und Staatsverschuldung folgt Mason den Diagnosen neoliberaler Propheten – die im Interesse des Finanzkapitals die staatliche Pensionsvorsorge und den Staat krank reden –, obwohl er sonst dem Neoliberalismus wenig Zuneigung entgegenbringt. Z.B. bleibt er beim Thema Pensionssicherung auf die Entwicklung in Gestalt der demografischen Abhängigkeitsquote fixiert, statt etwa progressive Ansätze wie die wirtschaftliche Abhängigkeitsquote heranzuziehen: Das Verhältnis der Über-65-Jährigen zum Rest der Bevölkerung ist nicht entscheidend, sondern wie das Verhältnis von Beitragszahlern und Leistungsempfängern aussieht. Selbstverständlich kann man jedoch Mason beipflichten, dass die Automatisierung eine Bedrohung für die Finanzierung des Sozialstaates darstellt, wenn dieser zu einem großen Arbeitsplatzverlust führt. Und ein neoliberales Regime der Umverteilung von den Löhnen zu den Gewinnen und der steuerlichen Entlastung der Vermögenden treibt die Staatsverschuldung in die Höhe.

 

Das „Projekt Null“

Das alles wäre ein gutes Thema für einen eigenen Artikel, ist aber nicht ausschlaggebend für eine Beurteilung der Bedeutung von Masons Buch. Deshalb wende ich mich dem Schlusskapitel zu, wo Mason seine Leitlinien vorstellt, wie die Transition in eine postkapitalistische Gesellschaft in Angriff genommen werden sollte. Er nennt dies „Projekt Null“. Wohin dieses Projekt führen soll, ist klar: „Seine Ziele sind eine Energieversorgung mit Null-Emissionen, die Erzeugung von Maschinen, Produkten und Dienstleistungen mit Null-Grenzkosten und die weitgehende Beseitigung der Arbeit.“ (S.340)

 

Die Leitlinien, denen es folgen soll, bleiben sehr abstrakt und blutleer. Das erste Prinzip lautet: Vorschläge im kleinen Maßstab testen und daraus eine „soziale Technologie“ entwickeln. Das zweite Prinzip fordert: ökologische Nachhaltigkeit des Wachstums. Das dritte Prinzip beinhaltet die menschliche Transition durch Ausnützung der Netzwerke. Das vierte Prinzip lautet: „Das Problem muss aus allen Richtungen in Angriff genommen werden.“ (S.342) Nicht nur Staaten, Unternehmen und politische Parteien, sondern auch der Einzelne oder „Schwärme von Individuen“ könnten die Veränderungen vorantreiben. „Das fünfte Prinzip für einen erfolgreichen Übergang zum Postkapitalismus lautet, dass wir die Wirkung der Information maximieren müssen.“ (S.343)

 

Bevor etwas praktisch umgesetzt wird, sollte es anhand einer Computersimulation durchgespielt werden. Die aktuellen volkswirtschaftlichen Simulationen seien noch mit einer Modelleisenbahn vergleichbar. Durch ein Netzwerk, wo eine quelloffene Simulation des gegenwärtigen Wirtschaftssystems erstellt wird, könnte sich das rasch ändern. „Sind wir erst einmal in der Lage, die wirtschaftliche Realität auf diese Art zu erfassen, so können wir einschneidende Veränderungen nachvollziehbar planen“ (S.348), ist Mason optimistisch, dass der Übergang in den Postkapitalismus durch Befragung von Supercomputern auf nicht im Blindflug erfolgen muss. Wo liegt da aber der große Unterschied zu den „Cyberstalinisten“, die Mason ablehnt?

 

Als schwierigste Aufgabe verortet Mason die Neugestaltung des Staats. Einen positiven Beitrag zum Postkapitalismus erwartet sich Mason nicht. „Im Postkapitalismus wird sich der Staat eher wie die Belegschaft der Wikipedia-Stiftung verhalten …“ (S.349), so lautet seine Vorstellung. Seine Hauptaufgabe bestehe in der Förderung neuer Technologien und von neuen Geschäftsmodellen. Außerdem solle er die Infrastruktur planen und koordinieren sowie das Problem der Verschuldung lösen. Wie soll der letzte Punkt umgesetzt werden? „Die Staaten müssen die Inflation ankurbeln, die Zinsen unterhalb der Inflationsrate halten und den Bürgern die Möglichkeit nehmen, ihr Geld in nichtfinanzielle Vermögenswerte zu investieren oder ins Ausland zu bringen.“ (S.351)

 

Die kollaborative Arbeit müsse ausgeweitet werden, dennoch dürften wir „den Verzicht auf den Gewinnzweck nicht zu einem Fetisch machen“ (S.353). Die weiteren Schritte möchte ich kursorisch zusammenfassen: Allmendeproduktion fördern, Niedriglohnunternehmen erschweren, die Rechte der Beschäftigten stärken, bestimmte Geschäftsmodelle verbieten, Monopole verbieten und zerschlagen, die Marktkräfte verschwinden lassen, den Finanzsektor vergesellschaften, die Zentralbanken verstaatlichen und einer demokratischen Kontrolle unterziehen. Für vielfältige Innovationen benötigten wir einen großen Privatsektor abseits der Finanzbranche.

 

Ein ganz besonderes Herzensanliegen ist Mason die staatliche Grundsicherung für alle. „Auf diese Art würden die Kosten der Automatisierung vergesellschaftet.“ (S.362) Und was für den Einzelnen noch wichtiger ist: „Ein mit den Einnahmen aus der Besteuerung der Marktwirtschaft finanziertes Grundeinkommen eröffnet den Menschen die Möglichkeit, sich eine Position in der Nicht-Marktwirtschaft zu sichern.“ (S.363)

 

Auf diese Weise können das Netzwerk entfesselt werden und die Arbeit zum Spiel werden, bevor überhaupt an Bedeutung verliert, da die Reproduktionskosten der Arbeitskraft rasant fallen“ (S.367). Wenn es so weit ist, kann der Staat zurückgebaut werden. „Was geschieht mit dem Staat? Er verliert im Lauf der Zeit vermutlich an Einfluss – und schließlich übernimmt die Gesellschaft seine Funktionen.“ (S.369).

 

Die herrschende Elite

Damit es mit dem Übergang zum Postkapitalismus losgehen kann, müssten wir nur noch „das Eine Prozent“, die herrschende Elite zum Mitmachen bewegen. Wie gedenkt Mason, die Elite dazu zu bewegen? Wie will er ihr die Beteiligung schmackhaft machen? Nun, er schreibt: „Was geschieht mit dem Einen Prozent? Es wird ärmer und daher glücklicher.“ (S.369) Aktuell leide die Elite selbst massiv unter den Bedingungen, die es durch die Herrschaft des Neoliberalismus geschaffen hat. „Denn es ist kein Honigschlecken, reich zu sein.“ (Ebd.) Sie schickten ihre Kinder auf teure Privatschulen, wo sie völlig uniform herauskommen – egal, was auf ihren Sweatshirts draufsteht. Dass sie sich an immer mehr Orten der Welt hinter Elektrozäunen verschanzen müssen und damit selbst zu Gefangenen werden, erwähnt Mason an dieser Stelle gar nicht erst. Die Gefahr, so Mason, sei, dass sie den Glauben an die Möglichkeit einer liberalen Gesellschaft verlieren und zu zynischen Oligarchen werden. Aber er hat noch Hoffnung, die Elite auf seine Seite zu ziehen. Und so endet sein Buch mit den Sätzen: „Das eine Prozent droht den Glauben an das System zu verlieren, das schon bald einer unverhohlenen Oligarchie weichen könnte. Aber es gibt auch eine gute Nachricht. Die 99 Prozent eilen ihm zu Hilfe. Der Postkapitalismus wird euch befreien.“ (S.371)

 

Resümee

Mit seinem dritten Teil kann Mason die Erwartungen, die er geweckt hat, nicht erfüllen. Die Stärke seines Buches ist nicht, dass er seinen LeserInnen einen überzeugenden Leitfaden in die Hände gibt, welche Schritte zu setzen sind, um den Postkapitalismus zu verwirklichen. Die Stärke seines Buches liegt darin, dass er eine Fülle von Argumentationen liefert, wieso der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte sein wird und durch das Zusammenspiel von technologischer und gesellschaftlicher Entwicklung einer neuen Form der Gestaltung der wirtschaftlichen Gestaltung weichen wird.

 

Damit ist er auch für die Interessenvertretung der Arbeitnehmerinnen  höchst interessant. Denn mit Mason halten die Gewerkschaften etwas in Händen, das die aktuell verbreitete Angst der ArbeitnehmerInnen vor der Automatisierung und Digitalisierung – aufgrund drohenden Verlustes des Arbeitsplatzes – gegen die herrschende Elite selbst wendet: Mit dem Fortschreiten der Informationstechnologie könnten nicht nur viele Arbeitsplätze verloren gehen, sondern die UnternehmerInnen könnten die Grundlage ihres Profits verlieren.


Ist der Kapitalismus am Ende? (2)

28. November 2016

Um zu zeigen, dass die Entwicklung der Informationstechnologie das Ende des Kapitalismus einleitet, greift Mason auf die Arbeitswerttheorie zurück. Die Debatte, woher der Wert der Produkte und Dienstleistungen kommt, hat eine lange Tradition in der Ökonomie. Sie geht auf Adam Smith zurück. Dieser schrieb 1776 in seinem Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“: „Nicht mit Gold oder Silber, sondern mit Arbeit wurde aller Reichtum dieser Welt letztlich erworben. Und sein Wert ist für die Besitzer, die ihn gegen neue Güter austauschen möchten, genau gleich der Arbeitsmenge, die sie damit kaufen oder über die sie mit seiner Hilfe verfügen können.“ Die Untergrundgewerkschaften erreichte diese Idee über die Gedanken von David Ricardo. Also nicht der Grenznutzen von Angebot und Nachfrage, wie iindustrie_4_0n der hegemonialen Konzeption der Neoklassik (z.B. Léon Walras) angenommen, bestimmen laut Mason den Wert der Produkte, sondern in den Worten von Marx „die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“. Warum ist das für Mason so wichtig? Nun, damit hat er den Maßstab in der Hand, der das revolutionäre Potential der neuen Technologien aufzeigt.

 

Informationstechnologie

Wenn durch die moderne Technologie die Herstellungskosten wegen des Einsatzes von Maschinen und Robotern gegen Null gehen, verliere der Kapitalismus die entscheidende Grundlage seines Funktionierens, nämlich die Quelle des Profits. „Eine auf Wissen beruhende Volkswirtschaft kann aufgrund ihrer Tendenz zu kostenlosen Produkten und schwachen Eigentumsrechten keine kapitalistische Volkswirtschaft mehr sein“ (S.234), ist die Schlussfolgerung von Mason.

 

Konzerne wie Apple, Amazon und Google versuchten zwar in einem letzten Aufbäumen durch Monopolbildung und Aneignung der in der Kommunikation mit den KundInnen anfallenden Daten einen Informationskapitalismus am Leben zu erhalten. „Der Kapitalismus beginnt, sich in einen Verteidigungsmechanismus gegen die Peer-Produktion zu verwandeln, indem er Informationsmonopole errichtet, eine Schwächung der Lohnbeziehung zulässt und irrationale, auf der Nutzung fossiler Energieträger beruhende Geschäftsmodelle verfolgt.“ (S.195) Letztlich, ist Mason überzeugt, sei dieser Versuch jedoch zum Scheitern verurteilt, weil gegen das Anwachsen von kostenlosem Wissen, z.B. durch Wikipedia, nicht anzukommen sei.

 

Das vernetzte Individuum

„Die nächste Frage ist: Wer wird dafür sorgen, dass diese Welt Wirklichkeit wird?“ (S.235) Der Marxismus sah in der Arbeiterklasse den unbewussten Agenten, der dem Kapitalismus den Dolchstoß versetzen wird. Mit André Gorz stimmt Mason darin überein, dass die Arbeiterklasse diese Erwartungen nicht erfüllt hat und auch nicht mehr erfüllen kann. „Im Jahr 1980 verkündete der französische Philosoph André Gorz, die Arbeiterklasse sei tot. Sie sei als soziale Gruppe gespalten und kulturell enteignet worden und spiele als Agent des gesellschaftlichen Fortschritts keine Rolle mehr.“ (S.237) Mit dem Neoliberalismus sei die Macht der Gewerkschaften und die gesellschaftliche Stellung der ArbeitnehmerInnen einfach so geschwächt worden, dass dem Kapitalismus von dieser Seite keine Gefahr mehr drohe.

 

Allerdings habe der Neoliberalismus übersehen, dass die Informationstheorie global vernetzte Individuen hervorgebracht hat, die Zugang zu einem schier unerschöpflichen Wissen haben. Selbst in China, wo die ArbeiterInnen noch immer unter sklavenhaften Bedingungen produzieren müssen, seien „digitale Rebellen“ anzutreffen. „Dank des Smartphones trägt jeder chinesische Arbeiter das Internetcafé in seinem Blaumann mit sich herum.“ (S.278) Die Unzufriedenheit dieser gut vernetzten Individuen über die größer werdende Ungleichheit und die Zunahme prekärer Arbeit, so Mason, nehme weltweit stark zu. Eine Vielzahl von Protestbewegungen, z.B. der arabische Frühling, zeige das Potential der Rebellion auf. „Die Sehnsucht nach einem radikalen wirtschaftlichen Kurswechsel ist groß“ (S.280), beurteilt Mason die Sprengkraft der Widerstandsbewegungen. „Die nächste Frage ist: Was müssen wir tun, um ihn herbeizuführen?“ (Ebd.)

 

Wie Mason diese Frage im dritten und unbefriedigendsten Teil seines Buches auflöst, werde ich im nächsten Blogartikel behandeln.


Ist der Kapitalismus am Ende? (1)

27. November 2016

Nach langer Pause melde ich mich mit meinem Blog wieder zurück. Der heutige Artikel soll der Auftakt zu einer Serie sein, die sich mit der Frage beschäftigt: Wie wird eine Gesellschaft in Zukunft aussehen, die die Transformation der Automatisierung und Digitalisierung der Arbeitswelt durchgemacht hat?

 

Im ersten Teil werde ich mich mit den Grundideen befassen, die der englische Journalist Paul Mason in seinem Buch „Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie“ entwickelt hat (deutsche Ausgabe bei Suhrkamp, 2016). Die Grundthese seines Buches ist: „Der Kapitalismus ist masonein komplexes, anpassungsfähiges System, das jedoch an die Grenzen seiner Anpassungsfähigkeit gestoßen ist.“ (S.14) Daher stehe der Übergang in den Postkapitalismus an. Möglich werde eine postkapitalistische Gesellschaft durch die technologische Revolution der letzten Jahrzehnte, insbesondere durch die Entwicklung der Informationstechnologie. Wie kommt er zu dieser Ansicht? Seine Begründung ist ähnlich wie die von Jeremy Rifkin in dem Buch „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“. Mit den Worten Masons: „Die Informationstechnologie ist möglicherweise nicht mit einer Marktwirtschaft vereinbar, zumindest nicht mit einer Wirtschaft, die in erster Linie von den Marktkräften reguliert wird.“ (S.55) Rifkin wird übrigens von Mason erwähnt, aber als Autor für die Flughafenbuchhandlung angetan, obwohl sein Einfluss auf die Grundideen von Mason deutlich erkennbar ist.

 

Kondratjew

Bevor Mason am Ende seines Buches zu zeigen versucht, wie dieser Übergang durch die Möglichkeiten der neuen Technologie angegangen werden kann, zieht sein Buch einen großen Bogen durch die Geschichte der letzten 500 Jahre. Den Anfang macht die heute weitgehend ignorierte Theorie eines russischen Ökonomen zu den langen Wellen der Konjunktur: Nikolai Kondratjew. Mason fasst Kondratjews Grundidee wie folgt zusammen: „Kondratjews Theorie besagt, dass sich jeder lange Zyklus aus einem Aufschwung von etwa 25 Jahren, der durch die Entwicklung neuer Technologien und einem hohen Kapitaleinsatz ermöglicht wird, und einem etwa gleich langen Abschwung zusammensetzt, der mit einer tiefen Rezession endet.“ (S.64) Im Wesentlichen übernimmt Mason von Kondratjew das Konzept der langen Wellen der Konjunktur. Und er teilt jene Ansicht Kondratjew, die diesem im Stalinismus das Leben gekostet hat: „Der Kapitalismus … würde an keiner Krise zugrunde gehen, sondern mit Mutationen darauf reagieren und sich immer von Neuem anpassen“ (S.63). Der entscheidende Unterschied zu Kondratjew ist, dass Mason zu dem Ergebnis kommt, das nach einigen Zyklen des Auf und Ab der Kapitalismus doch an seine Grenzen stoßen werde.

 

Marx

Und an dieser Stelle kommt Marx ins Spiel. Masons Verhältnis zur Marxschen Theorie ist ambivalent. Er schreibt: „Der Marxismus ist sowohl eine Geschichtstheorie als auch eine Krisentheorie. Er ist eine wunderbare Geschichtstheorie … Als Theorie der Krise ist der Marxismus allerdings mangelhaft.“ (S.83) An der Geschichtstheorie des Marxismus schätzt Mason, wie dieser die Dynamik des Kapitalismus erklärt. „Richtig verstanden, erklärt die von Marx entwickelte Krisentheorie besser als Kondratjews Zyklentheorie, was hinter den großen Mutationen des Kapitalismus steckt – und warum er schließlich möglicherweise die Fähigkeit verliert, sich durch Veränderung anzupassen.“ (S.85)

 

An der Krisentheorie der Marxisten bemängelt Mason, dass der Marxismus zu schnell den Zusammenbruch des Kapitalismus erwartet. Marx, so Mason, „unterschätzte die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus“. (S.84) Marx und seine SchülerInnen gingen vorschnell davon aus, dass das Grundgesetz des Kapitalismus von der „Tendenz sinkender Profitraten“ bald zum Zusammenbruch des Kapitalismus durch eine der üblichen Krisen führe. „Ende des 19. Jahrhunderts kündigten die Marxisten den Untergang des Kapitalismus an, doch ihre Prognose erwies sich als falsch.“ (S.89f.) Die Abfolge der Kondratjew-Zyklen seit 1780 habe bewiesen, so Mason, dass der Kapitalismus neue Technologien, neue Geschäftsmodelle oder neue Absatzmärkte Krisen bewältigen können.

 

Neoliberalismus

Erst mit dem Neoliberalismus gerät für Mason der Kapitalismus in eine Situation, wo er in der Krisenbewältigung versagt. Davon, und warum es nicht die Arbeiterklasse ist, die bei Mason dem Kapitalismus den Garaus machen wird, möchte ich das nächste Mal sprechen. An dieser Stelle will darauf mit den Worten Masons neugierig machen: „Die alte Linke wollte die Zerstörung der Marktmechanismen erzwingen. Den entsprechenden Druck sollte die Arbeiterklasse an der Wahlurne oder auf den Barrikaden ausüben. […] Wie sich herausstellt, wird der Kapitalismus nicht durch einen Sturmangriff überwunden werden. Stattdessen wird er durch etwas Dynamischeres ersetzt werden, durch etwas, das sich fast unbemerkt im alten System entwickelt …“ (S.15)


Attac fordert: Steueroasen trocken legen!

24. Juli 2012

21 bis 32 Billionen Dollar liegen unversteuert in Steueroasen

Eine Studie des Tax Justice Networks (TJN) deckt auf, dass Reiche weltweit Steuern in Höhe der zusammengezählten Bruttoinlandsprodukte (BIP) von Japan und den USA hinterziehen. Das sind weltweit 280 Milliarden Euro. Besonders sogenannte Entwicklungsländer und ölreiche Länder sind von Steuerflucht betroffen. Die Hinterziehung dieser riesigen Summen macht deutlich, welche Ressourcen zur Überwindung der Krise aufgrund der Untätigkeit der Politik brach liegen.

Auch Österreich ist eine Steueroase

Auf der Liste des TJN-Netzwerks der Steueroasen befindet sich Österreich u. a. aufgrund des strengen Bankgeheimnisses an 17. Stelle. Österreich befindet sich damit in „guter“ Gesellschaft mit Ländern wie Liechtenstein, den Cayman Islands oder den Bermudas.

„Seit Jahren blockiert Österreich mit seinem Bankgeheimnis die Überarbeitung der EU-Zinsrichtlinie und hintertreibt so den Kampf gegen internationale Steuerflucht“, erklärt Gerhard Zahler-Treiber, Steuerexperte von Attac Österreich. „Die Absicht dahinter ist offensichtlich: Österreich will seine eigene Position als Zufluchtsland von nicht korrekt versteuertem Geld weiter festigen.“ Auch die im europäischen Vergleich niedrige Besteuerung von Vermögen trägt zu diesem Status bei.

Attac fordert Steuerpakt

Lösungen müssen international sowie auf europäischer Ebene gefunden werden. „Sie liegen auf der Hand: Es ist notwendig, für Europa ein einheitliches Steuersystem zu schaffen, das umverteilend wirkt und nicht – wie in der aktuellen Situation – die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter vergrößert. Es braucht einen Steuerpakt für Europa!“, sagt Gerhard Zahler-Treiber weiter. Dazu braucht es Transparenzregeln für die Finanzmärkte, so dass nachvollziehbar wird, welche Transaktionen überhaupt stattfinden und wo Geld am Staat vorbeigeschmuggelt wird. In Zeiten, wo das Kapital fast ausschließlich über das Internet von Bank zu Bank „reist“, ist das viel leichter zu kontrollieren als beim klassischen Geldkoffer. „Bei Nichtkooperation von Steueroasen muss entweder der Kapitalein- und -austritt kräftig besteuert oder den Banken, die in Steueroasen operieren, die Teilnahme am internationalen Kapitalverkehr verweigert werden. Finanztransaktionssteuer und eine einheitliche Besteuerung von großen Vermögen sind außerdem notwendig um den Steuerwettbewerb nach unten zu stoppen“, so Gerhard Zahler-Treiber abschließend.


Kritik am Fiskalpakt ist keine Revolte gegen Faymann

15. Mai 2012

In den letzten Wochen hat sich in der SPÖ ein zunehmender Widerstand gegen den Fiskalpakt entwickelt. Nachdem an der Basis von Junger Generation und Gewerkschaft schon seit Längerem Unzufriedenheit wegen der Zustimmung der Parteispitze herrschte, kam es am Wiener Landesparteitag am 28. April zu einer intensiven Debatte über den Fiskalpakt, die dazu führte, dass ein Antrag zur Ablehnung des Fiskalpaktes der Jungen Generation zwar keine Mehrheit, aber dennoch beachtlichen Zuspruch fand. Der Wahlsieg von François Hollande führte dann endgültig auch bei einigen Nationalratsgeordneten zum Umdenken. Vom Klubchef der ÖVP, Karlheinz Kopf, wurde diese Entwicklung in einem Standard-Interview vom 12. Mai hämisch als Revolte gegen den Bundesparteiobmann Werner Faymann dargestellt, da Faymann als Vertreter Österreichs dem Fiskalpakt im Europäischen Rat der Regierungschefs zugestimmt hatte. Das ist eine böswillige Verdrehung der Tatsachen durch den politischen Gegner, die leider auch innerhalb der SPÖ einige Sympathisanten findet.

Der Fiskalpakt wird von vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Attac sowie von Gewerkschaftern und von der Arbeiterkammer jedoch nicht bekämpft, um dem Bundeskanzler zu opponieren, sondern weil er ökonomisch unsinnig und demokratiepolitisch höchst bedenklich ist. Mit der Einrichtung einer dauerhaften Schuldenbremse und automatischen Korrekturmechanismen bei Überschreitung der Defizitkriterien würde der Fiskalpakt neoliberale Spielregeln manifestieren, die zu weniger Wachstum und in der Folge längerfristig sogar zu höheren Schulden führen. Außerdem ist der Fiskalpakt demokratiepolitisch desaströs, da er am europäischen Gemeinschaftsrecht vorbei die nationalen Parlamente in Budgetfragen entmachtet und die Europäische Kommission faktisch zum Gesetzgeber in der Wirtschaftspolitik macht.

Dass sich also in der SPÖ Widerstand gegen diese autoritäre Entwicklung der Europäischen Institutionen im Interesse der neoliberalen Elite regt, ist ein Zeichen dafür, dass es in der SPÖ noch Kräfte gibt, die ihre Verantwortung für die Interessen der Mehrheit der Menschen in Österreich ernst nehmen und sich nicht kampflos dem Lobbyismus der neoliberalen Elite geschlagen geben. Deshalb darf diese Initiative im Dienste einer wachstumsfördernden Wirtschaftspolitik und für ein demokratischer gestaltetes Europa nicht als Revolte gegen einen Spitzenpolitiker verkannt werden. Sie sollte vielmehr als das gesehen werden, was sie ist: ein Angebot an die Führung der SPÖ, gemeinsam den Weg in ein gerechteres, solidarischeres und demokratischeres Europa einzuschlagen, indem dem neoliberalen Spardogma sozialdemokratische Konzepte für mehr Wachstum und Beschäftigung entgegengesetzt werden.


Warum wir den Fiskalpakt ablehnen sollten

9. Mai 2012

1. Was ist der Fiskalpakt?

Der Fiskalpakt ist ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen 25 Mitgliedstaaten der EU (alle außer Großbritannien und Tschechien), der unter anderem vorsieht, dass alle Unterzeichnerstaaten bis zum 1. Januar 2014 sogenannte Schuldenbremsen einführen. Diese Schuldenbremse ist in einigen Punkten schärfer als die in Österreich auf einfachgesetzlicher Ebene bereits beschlossene „Schuldenbremse“ und soll sie auf  dauerhaft gelten.

Die Möglichkeit, Budgetpolitik zu gestalten, wird einschneidend beschnitten, der Vertrag legt sich auf fortwährende einseitige Sparpolitik fest, mit vielen Automatismen, die Gestaltungsmöglichkeiten der Regierung und des Parlamentes drastisch beschneiden. Andererseits wird insbesondere der Europäischen Kommission ein großer Spielraum bei der Ausgestaltung der Regeln gegeben, ebenso wie bei der Interpretation, wann Mitgliedstaaten von einem ausgeglichenen Haushalt abweichen. Letzteres insbesondere dadurch, dass im Vertrag festgelegt ist, dass Staaten die Grenze eines strukturellen – konjunkturbereinigten – Defizits von maximal 0,5% des BIP einhalten müssen. Die Berechnung des strukturellen Defizits ist allerdings auch unter ÖkonomInnen sehr umstritten, es gibt viele verschiedene Berechnungsarten, die je nach den benutzten Annahmen in ihrem Ergebnis weit voneinander abweichen können.

Der Vertrag ist so gestaltet, dass kein Staat einseitig austreten kann, auch wenn er es will. In Österreich liegt der Vertrag derzeit zur Abstimmung im Parlament, es wurde jedoch noch kein Zeitplan für die Behandlung bekanntgegeben.

2. Warum sollten wir den Fiskalpakt ablehnen?

Der Fiskalpakt ist ein massiver Angriff auf Demokratie und soziale Errungenschaften. Insbesondere wird das „Königsrecht“ der Parlamente – das Recht, den eigenen Haushalt zu gestalten – massiv eingeschränkt und teilweise auf die nicht gewählte EU-Kommission übertragen. Rechte der Legislative sollen auf eine Institution der (europäischen) Exekutive übertragen werden – das ist demokratisch mehr als fragwürdig.

Die „Schuldenbremse“ des Fiskalpakts wirkt effektiv als „Haushaltsdeckel“, der den Druck steigert, mehr Sozialabbau durchzusetzen, Löhne im öffentlichen Sektor zu senken und öffentliche Investitionen zurückzufahren. Sinnvolle öffentliche Ausgaben sollen gekürzt werden, während gleichzeitig die Banken mit Milliarden gerettet werden. Mehr noch, es ist vorgesehen, dass bei Überschreiten des Defizits automatisch Ausgabenkürzungen einsetzen sollen und dass eine neue Institution geschaffen werden muss, die die permanente Sparpolitik – einseitige Kürzungspolitik – überwacht. Wie das genau zu geschehen hat, ist im Vertrag sehr vage formuliert („löst automatisch einen Korrekturmechanismus aus“), aber der Europäischen Kommission wird das Recht gegeben – wohl erst nach Beschluss des Fiskalpaktes – dazu Vorschläge vorzulegen. Die Staaten verpflichten sich aber auf jeden Fall, diese Vorschläge in nationales Recht umzusetzen. Falls sie dies nicht tun, droht eine Klage beim Europäischen Gerichtshof mit möglichen Strafzahlungen.

Außerdem ist ein späterer Ausstieg aus dem Fiskalpakt nicht vorgesehen: Der Vertrag enthält keine Kündigungsklausel. Er kann daher nur einstimmig von allen Unterzeichnerstaaten aufgehoben werden. Somit schreibt der Vertrag die einseitige Spar- und Kürzungspolitik für auf Dauer fest.

3. Der Fiskalvertrag ist undemokratisch

Der Fiskalvertrag beschränkt das wichtigste Recht der nationalen Parlamente: das Haushaltsrecht. Das Haushaltsrecht ist deshalb so zentral, weil die Entscheidung über die Einnahmen („Wer bezahlt wie viel Steuern?“) und die Ausgaben („Wofür wird Geld ausgegeben und wofür nicht?“) das Zusammenleben der Gesellschaft maßgeblich prägt.

Die Einschränkungen des Haushaltsrechts durch den Fiskalpakt geschehen zum einen über starre Regeln (z.B. die „Schuldenbremse“) und automatische Sanktionen bei Verfehlungen. Zum anderen erhält die nicht demokratisch gewählte Europäische Kommission ein großes Mitspracherecht: Alle Länder, die im sogenannten Defizitverfahren sind – wie auch Österreich – müssen ihre Haushaltsprogramme und Strukturreformprogramme künftig von der Kommission und dem Rat genehmigen lassen. Das heißt, die Kommission bekommt ein Vetorecht: Wenn ihr die Wirtschaftspolitik, die die österreichische Regierung und das österreichische Parlament vorschlagen, nicht passt, kann sie diese ablehnen!

Für Österreich bedeutet der Fiskalpakt faktisch, dass wesentliche Prinzipien unserer Verfassung – hinsichtlich der Gestaltung des Budgets – de facto außer Kraft gesetzt werden.

4. Der Fiskalpakt ist unsozial

Die meisten Euroländer sind verschuldet, weil sie über zu wenig Steuermittel verfügen – insbesondere die Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen wurden in den letzten Jahren drastisch gesenkt, auch durch den Steuersenkungswettbewerb innerhalb der Europäischen Union.

Der Fiskalvertrag ändert an diesen Ursachen der Verschuldung gar nichts, da er sich nur auf die Ausgabenseite bezieht und dort drastische Kürzungen verlangt. Diese treffen in aller Regel überwiegend die Bevölkerung am unteren Ende der Einkommensskala. Soziale Ungleichheit wird mit dem Fiskalvertrag somit weiter verschärft.

Bei Abweichung vom ausgeglichenen Haushalt muss ein automatischer Korrekturmechanismus greifen, d.h. wohl automatische Ausgabenkürzungen, wobei absehbar ist, dass diese ebenfalls vor allem die Sozialausgaben betreffen werden.

5. Der Fiskalpakt wirkt anti-europäisch

Der Vertrag selbst wirkt anti-europäisch, es sich um einen Vertrag außerhalb der EU-Verträge handelt, an dem nicht alle EU-Mitgliedstaaten teilnehmen. Der Fiskalpakt steht somit im Widerspruch zum EU-Recht. Außerdem sollte die europäische Integration laut dem Vertrag von Lissabon zu einem demokratischen und sozial gerechteren Europa führen – genau dem widerspricht jedoch der Fiskalpakt.

6. Der Fiskalpakt ist kein geeignetes Werkzeug, um die Krise zu überwinden

Der Fiskalvertrag zwingt alle Staaten zu einer Politik der Ausgabenkürzung und Privatisierung. Doch die Eurokrise wurde nicht dadurch verursacht, dass die Staaten „über ihre Verhältnisse“ gelebt und beispielsweise zu viel für Sozialleistungen ausgegeben haben. Vielmehr gaben die Staaten in der Finanzkrise Milliarden zur Rettung der Banken und zur Stützung der Konjunktur aus. Dadurch explodierten die Schulden.

Das Beispiel Griechenland zeigt noch dazu sehr deutlich, dass die Schulden eines Landes sogar noch steigen, wenn eine rigide Kürzungspolitik, wie sie im Fiskalvertrag vorgesehen ist, die wirtschaftliche Krise durch Einkommensausfälle noch verschärft. Wenn die Haushalte weniger Geld haben, gehen Unternehmen pleite und die Arbeitslosigkeit steigt. In weiterer Folge nimmt der Staat weniger Steuern ein und er hat mehr Ausgaben. Der Fiskalvertrag ist damit auch ökonomisch unsinnig.

7. Der Fiskalpakt führt zu Kürzungen und Privatisierungen

Der Fiskalvertrag sieht vor, dass alle Unterzeichnerstaaten bis zum 1. Januar 2014 Schuldenbremsen und automatische Korrekturmechanismen mit strenger Überwachung eingeführt haben und zwar möglichst in ihrer nationalen Verfassungen verankert. Wer dies nicht macht, kann dafür vor dem Europäischen Gerichtshof mit hohen Geldbußen belangt werden. Wird die Schuldenbremse – ein strukturelles Defizit von maximal 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – nicht eingehalten, werden automatisch Ausgaben gekürzt.

Länder, die im Defizitverfahren sind, wie derzeit auch Österreich, müssen einen Plan vorlegen, wie sie das Defizit reduzieren wollen. Der Plan muss von der Europäischen Kommission und dem Rat genehmigt werden. Diese Gremien werden nur Maßnahmen billigen, die ihrer rigiden Spardoktrin folgen.

Für Länder mit einem Schuldenstand von über 60 Prozent des BIP gilt das gleiche; sie sind außerdem verpflichtet, alle über diesen Wert hinausgehenden Schulden um 5 Prozent pro Jahr abzubauen. Für viele Länder heißt das, dass sie künftig Haushaltsüberschüsse erzielen müssen, was nur mit noch stärkeren Ausgabenkürzungen und mit der Privatisierung öffentlicher Unternehmen erreichbar ist.

8. Alternativen zur Überwindung der Krise

Statt die Krise mit Einschränkungen der Ausgaben bewältigen zu wollen, wie es der Fiskalpakt vorsieht, ist eine Anpassung der Einnahmen zur Verringerung der Schulden wesentlich sinnvoller. Die negativen Effekte der Kürzungspolitik, Verarmung bis hin zur Verelendung breiter Bevölkerungsschichten bleiben aus, wenn die Hauptlast der Krisenkosten von den hohen EinkommensbezieherInnen und Vermögenden getragen wird.

Denkbare wirksame Maßnahmen sind beispielsweise eine EU-weite Vermögensabgabe, die Wiedereinführung der Erbschaftssteuer, höhere Steuern auf Kapitalerträge und die Einführung der Finanztransaktionssteuer.

Um eine weitere Verschärfung der Krise zu verhindern, müssen außerdem die Finanzmärkte reguliert werden, damit diese nicht mehr gegen einzelne Staaten spekulieren können bzw. nicht durch notwendige Rettungsmaßnahen für Banken die Staatsschulden belasten können.

 

Fazit:

Wir sollten den Fiskalpakt (zumindest in der aktuellen Form) ablehnen und mit Frankreich den Weg einer Neuverhandlung einschlagen.