Auswege aus der Krise der Demokratie

9. Juli 2010

Seit 1945 ist Österreich nach dem Sieg der Alliierten über die nationalsozialistische Diktatur wieder eine demokratische Republik. Es gibt also allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen auf Ebene der Kommunen, der Länder und des Bundes, durch die die Bevölkerung ihre politischen Repräsentanten bestimmt.

Wird damit der Idee von Demokratie als „Herrschaft des Volkes“, welches die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes ist, also Genüge geleistet? Nun, zur Vorstellung von Demokratie im modernen Sinne gehört neben den obengenannten Wahlkriterien auch, dass Meinungs- und Pressefreiheit sowie Koalitionsfreiheit gewährleistet ist und eine Gewaltentrennung zwischen Legislative, Exekutive und Jurisprudenz gegeben ist. In der westlichen Hemisphäre erfüllen die meisten Staaten, darunter auch Österreich,  diese Kriterien. Also nochmals die Frage: Steht es somit mit der Demokratie in Österreich zum Besten? Wenn wir uns mit den obigen formalen Kriterien begnügen, dann ist diese Frage mit einem eindeutigen Ja zu beantworten. Wenn wir uns jedoch auf die ursprüngliche Bedeutung besinnen und zugleich das Zustandekommen von Gesetzen auf nationaler und vor allem europäischer Ebene ins Visier nehmen, dann müssen wir zu zweifeln beginnen. Denn Demokratie in seiner wörtlichen Bedeutung benennt, dass die Herrschaft vom Volke auszugehen hat, d.h. die Gesetzgebung eines Staates soll den Willen des Volkes zum Ausdruck bringen. Wirft man nun aber einen genauen Blick darauf, welche Beschlüsse die Volksvertreter sowie die durch diese gestützten Regierungen auf nationaler und europäischer Ebene (wo inzwischen etwa 80% aller Gesetze festgelegt werden) in den letzten 25 bis 30 Jahren getroffen haben, dann wird man nicht unbedingt zu dem Ergebnis gelangen, dass diese im Interesse des „Volkes“ sind. Vielmehr wird man den Eindruck gewinnen, dass viele dieser politischen Weichenstellungen die Anliegen einer einflussreichen Minderheit widerspiegeln. Denn durch umfassendes Lobbying und mediale Hegemonie nehmen z.B. Großkonzerne und die im Dienste des Finanzkapitalismus agierenden Think Tanks neoliberaler Eliten Einfluss auf die Volksvertreter, um den Partialinteressen ihrer Auftraggeber zur Zustimmung zu verhelfen. Und darin, dass nicht die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung, sondern die Intentionen einer meinungsbestimmenden Minderheit die politische Entscheidungsfindung dominieren, besteht die fundamentale Krise der Demokratie in der Gegenwart.

Da Krise begrifflich immer schon auch als Chance gesehen werden muss, stellt sich uns nun die Frage, wie diese Mängel der politischen Mitbestimmung der Mehrheit der Bevölkerung behoben werden können. Nun, hier sind mehrere grundlegende Ansätze für eine Verbesserung unseres demokratischen Systems denkbar.

Erstens sollten die Möglichkeiten der direkten Demokratie, die uns durch die Entwicklung der neuen Medien eröffnet wurden, stärker genutzt werden. Denn alle 4 bis 5 Jahre zu wählen und gelegentlich eine Volksabstimmung abzuhalten, ist nicht die ultima ratio demokratischer Partizipation. Das System der repräsentativen Demokratie wurde entwickelt, als Nationalstaaten von mehreren bis hunderte Millionen Einwohnern nach einer Möglichkeit Ausschau hielten, wie sie ihre Bevölkerung an der Auswahl ihrer politischen Repräsentanten teilhaben lassen können, ohne die Möglichkeit des antiken Athen zu haben. Denn im klassischen Athen fanden sich die Bürger regelmäßig  zu gemeinsamen Versammlungen zusammen, um alle wesentlichen Entscheidungen in ihrer Stadt in öffentlichen Abstimmungen zu treffen. Dies war möglich in einer Stadt von etwa 30.000 stimmberechtigten Bürgern, von denen bei wichtigen Entscheidungen zumindest  6000 Männer (in Athen durften ja keine Frauen, Sklaven und Ausländer an diesen Versammlungen teilnehmen) anwesend sein mussten. In einem Land wie den Vereinigten Staaten von Amerika, wo über eine riesige Fläche verstreut viele Millionen Menschen lebten, war eine solche Form der Partizipation nach dem Unabhängigkeitskrieg, als die USA ihr System der demokratischen Repräsentation entwickelte, technisch unmöglich. Somit wurde das bis heute bestehende, komplizierte repräsentative Wahlverfahren entworfen, das eine demokratische Mitbestimmung der Bevölkerung unter diesen geografischen Umständen ermöglichte.

Mit der Entwicklung der neuen Medien befinden wir uns heute in einer ganz anderen Situation. Das Internet erlaubt Verfahren der direkten demokratischen Partizipation von Millionen von Menschen, die praktisch simultan sind. Das System der repräsentativen Demokratie mit seinem Wahlsystem ist also nicht mehr state of the art. Wenn diese Möglichkeiten bisher ungenutzt bleiben, dann kann das nur daran liegen, dass einflussreiche Gruppen der Gesellschaft kein Interesse daran haben, dass diese neuen Formen der demokratischen Partizipation umgesetzt werden. Denn diese Formen der unmittelbaren und direkten Mitbestimmung wären mit einem signifikanten Machtverlust dieser hegemonialen Meinungsbildner verbunden.

Zweitens müsste das System der lobbyistischen Einflussnahme auf die politischen Repräsentanten transparent gemacht werden und einer strengen Regulierung unterworfen werden, damit die Wähler wieder sicher sein können, dass die von ihnen gewählten Repräsentanten ihre Interessen und nicht die einer meinungsbildenden Elite wahrnehmen. Lobbying darf nicht länger hinter verschlossenen Türen vor sich gehen und sich somit der Kontrolle durch die Öffentlichkeit entziehen. Die Sichtbarmachung der Beeinflussung durch Lobbying sollte auch durch eine andere Form des politischen Mandats ergänzt werden. Denn das System des freien Mandats entzieht die Repräsentanten nach erfolgter Wahl der Kontrolle durch ihre Wähler. Daher ist ein System des imperativen Mandats anzudenken, das die Mandatare darauf verpflichtet, die Aufträge ihrer Wähler auch tatsächlich wahrzunehmen. Bei Verletzung dieser Pflicht muss eine umgehende Absetzung eines Abgeordneten möglich sein.

Drittens ist es notwendig, dass die politischen Institutionen selbst, vor allem die Parteien, stärker von einer breiten demokratischen Partizipation geprägt werden. Denn zur Demokratie gehört nicht nur ein demokratisches Wahlverfahren, das einen möglichst großen Teil der Bevölkerung das Wahlrecht gibt. Die zur Wahl stehenden politischen Repräsentationsvereinigungen sollten sich selbst durch eine breit angelegte demokratische Kultur der Entscheidungsfindung und Mandatarauswahl auszeichnen. Denn nur wenn die Organe der politischen Repräsentation selbst über eine breite demokratische Partizipation verfügen, ist eine wirklich funktionierende Demokratie gewährleistet. Das heißt, dass Politik nicht einer Elite von Berufspolitikern überlassen werden darf, die in einem autopoietischen Prozess ein System immer nur das selbstreferentielle Eigeninteresses reproduziert. Vielmehr ist es notwendig, dass sich ein breiter Querschnitt der Bevölkerung im System der politischen Repräsentation durch Parteien  und zivilgesellschaftliche Organisationen einbringt. Dazu müssen die Parteien von den derzeit bestehenden Formen der Auswahl von Repräsentanten abgehen, da  sie eine solche breit angelegte Teilhabe der Bevölkerung kaum ermöglichen, sondern nur Personen Zugang haben, die die Mühen des langen Weges durch den parteipolitischen Funktionärsapparat auf sich nehmen.


Sozialdemokratie und Macht

13. April 2010

Macht wird von vielen sozialdemokratischen  Vertretern, die keine Regierungsverantwortung tragen, oft negativ gesehen – als etwas, das missbraucht wird, um rücksichtslos seine egoistischen Interessen zu verfolgen. Macht wird somit als etwas betrachtet, das leicht zum Selbstzweck wird und damit moralisch nicht unbefleckt bleiben kann. Da Macht als Selbstzweck die wahren Werte der sozialen und ökonomischen Emanzipation der Werktätigen außer Acht lässt, kann sie ethisch nur diskreditiert werden. Macht wird nicht nur als Selbstzweck, sondern auch als Mittel der herrschenden Klasse der Kapitaleigner betrachtet, die Mehrheit der ihre Arbeitskraft verkaufenden Menschen davon abzuhalten, ihre wahren Interessen zu erkennen und zu verfolgen. Macht ist somit ein Werkzeug, um die in ihrer Entfremdung über die eigenen Möglichkeiten in Unwissenheit befangene Mehrheit in einer lähmenden Ohnmacht verharren zu lassen.

Dass einerseits der reale existierende Sozialismus im Stalinismus die Machtübernahme des Proletariats in Form eines millionenfach tödlichen Terrors verwirklichte, unter dem außerdem noch viel mehr Menschen großes Leid ertragen, dass andererseits in den westeuropäischen Demokratien, in denen die Sozialdemokratie über längere Zeit Regierungsverantwortung innehatte, die dadurch erlangte Macht nach einiger Zeit nicht vorwiegend der gesellschaftlichen Umgestaltung, sondern für die Ausweitung des Einflusses über die personelle Besetzung von wichtigen Bereichen des Wirtschaftsleben genützt wurde, hat natürlich die Skepsis gegenüber der Macht als Verhängnis für die sozialdemokratischen Grundwerte noch verstärkt.

Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass Macht ein unumgänglicher politischer Faktor ist. Ohne Macht ist keine politische Gestaltung möglich. Und Macht ist nicht an und für sich schlecht, sondern wird zu etwas Gutem oder Schlechtem aufgrund der Zielsetzungen, die mit Hilfe von Macht verfolgt werden. Denn genau so wie die Möglichkeit des Missbrauchs, der rein egoistischen Nutzung besteht, besteht genau so auch die Möglichkeit, die Macht dafür zu nützen, das Gute und Richtige zu tun. Vielmehr kann das Gute sogar nur dann verwirklicht werden, wenn es über die dazu nötige Macht verfügt. Das Gute, das ohnmächtig ist, kann sich nur auf einen zahnlosen Moralismus beschränken, der nicht gefordert ist, sich praktisch zu bewähren.

Macht braucht selbstverständlich Kontrolle, damit Missbrauch unterbunden werden kann. Aber gerade eine solche Kontrollmöglichkeit ist zunächst Mal eine Frage der Macht. Um Kontrollfunktionen innerhalb unseres demokratischen Systems auszuüben, muss sich eine politische Strömung über Wahlen erst die dafür notwendigen Mehrheiten sichern. Die Macht sollte deshalb freilich nicht in den Händen von technokratischen Eliten liegen, sondern muss aus der Mitte der Werktätigen entspringen, die die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Diesbezüglich ist in den letzten 20 Jahren vieles falsch gelaufen. Das Programm eines elitären und antiegalitären  Neoliberalismus, der im Interesse einer Minderheit von Vermögenden und Besitzenden gegen die Mehrheit der werktätigen Bevölkerung  durch geschickten Lobbyismus und mit der Drohung einer strafenden Hand der Finanzmärkte als übergeordnetem Richter die die Hegemonie in Österreich und Westeuropa erlangte, bestimmte über viele Jahre hinweg die politische und ökonomische Gestaltung unserer Gesellschaft zum Nachteil für die Mehrheit der Menschen.

Deshalb hat die Sozialdemokratie Macht mehr denn je nötig, um die neoliberale Hegemonie der Kapital- und Eigentümerinteressen zurückzudrängen. In einer Koalition mit einer sich bürgerlich nennenden Partei von Kapital- und Industrielobbyisten wird der Sozialdemokratie dieses Vorhaben nicht gelingen. Sie muss daher in den nächsten Wahlen eine absolute Mehrheit anstreben, um die dadurch erreichte Macht der alleinigen Regierungsverantwortung und parlamentarischen Mehrheitsfähigkeit dafür zu nutzen, dass endlich wieder die Interessen der Mehrheit der Werktätigen die Gestaltung der Zukunft dieses Landes bestimmt.

Wenn die Sozialdemokratie endlich dazu bereit ist, jene Menschen überzeugend zu vertreten, deren Interessen sie auf ihre Fahnen und in ihr Programm geschrieben hat, dann sollte das auch möglich sein – denn die Werktätigen sind die überwiegende Mehrheit in diesem und allen anderen Ländern. Sie müssen nur davon überzeugt werden, dass die Sozialdemokratie ihre Interessen wahrnimmt.