Notwendige Korrekturen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU

17. Januar 2011

Falsche Weichenstellungen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik haben die Europäische Union in eine schwere Krise geführt. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde die Orientierung auf die Inflationsbekämpfung und die Verminderung der Staatsverschuldung gelegt. Wachstum und Beschäftigung sind dadurch auf der Strecke geblieben. Die rigorose Ausrichtung der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank auf die Preisstabilität hat dazu geführt, dass das Wirtschaftswachstum zurückgegangen und im Gegenzug die Arbeitslosigkeit gestiegen ist. Dieses Regime hat dem Finanzkapital genützt, da durch die damit einhergehende Lohnzurückhaltung die Gewinne der Unternehmen gesteigert wurden. Den ArbeitnehmerInnen blieb andererseits immer weniger vom wachsenden Kuchen, da die Lohnquote sank. Da dadurch auch die Nachfrage gezügelt wurde, erlebte der Binnenkonsum eine Flaute. Zugewinne konnten für das produktive Kapital in der Folge nur über ein Exportwachstum erzielt werden. Ein solcher Exportwachstum ist im internationalen Handelsgeflecht jedoch nur möglich, wenn Handelspartner dafür einen Importüberschuss in Kauf nehmen. Sowohl auf europäischer Ebene als auch international sind somit große Ungleichgewichte in der Handels- und Leistungsbilanz entstanden. Länder wie China oder Deutschland hatten riesige Exportüberschüsse zu verbuchen (siehe dazu auch Heiner Flassbeck, Die Markwirtschaft im 21. Jahrhundert, München 2010). Länder wie die USA oder die südeuropäischen Länder mussten hingegen hohe Importüberschüsse in Kauf nehmen. Aufgrund der besonderen Stellung des Dollars als Weltleitwährung war dies für die USA lange Zeit ganz gut verkraftbar. Da die mit der Leistungsbilanzschwäche verbundene Verschuldung jedoch in starkem Ausmaße durch die Privathaushalte getragen wurde, musste die durch Spekulation zu einer Immobilienblase aufgeheizte Situation jedoch schließlich zusammenbrechen. Vor allem da eine riesige Menge von Kapital, das aufgrund der Schwäche des produktiven Sektors und aufgrund der Privatisierung der sozialen Absicherung die Veranlagung durch Investment- und Pensionsfonds zunehmend auf den Finanzmärkten nach Alternativen für die Erzielung lukrativer Renditen war, von luziferischen Investmentbankern im Zusammenspiel mit windigen Hypothekeninstituten, unvorsichtigen Versicherungen und zum Komplizen herangezogenen Ratingagenturen dazu verlockt wurde, in dieses hasardierende Spiel einzusteigen. Die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise seit etwa 80 Jahren war die Folge.

Sowohl in den USA als auch in Europa  wurde das internationale Finanzsystem durch staatliche Rettungsaktionen für die Banken vor dem Zusammenbruch bewahrt. Nach dem Übergreifen der Finanzkrise auf die Realwirtschaft kamen die Staaten für kurze Zeit in einer vermeintlichen Renaissance des Keynesianismus ihrer Verpflichtung nach, durch umfangreiche Konjukturpakete Investitionsanreize zu schaffen und durch die Stützung der sozialen Sicherungssysteme zu verhindern, dass die Krise auch noch den Privatkonsum in den Keller fallen lässt und somit eine langwierige Rezession auf den Plan tritt. Doch schon nach kurzer Zeit erholten sich die Banken und anderen Finanzinstitutionen vom Schock der Krise und nahmen wieder ihre Retter ins Visier der neoliberalen Demontierung. So als wären nicht sie es gewesen, die die Weltwirtschaft an den Rande des Kollaps gebracht haben, brandmarkten sie die Staaten wegen der durch sie stark angestiegenen staatlichen Schulden als unverantwortliche Verschwender. Vor allem die Staaten Südeuropas, allen voran Griechenland, wurden mit perfiden Medienkampagnen unter Feuer gesetzt, um sich horrende Renditen auf dem Markt für Staatsanleihen zu sichern. Denn die Angst vor einem möglichen Staatsbankrott treibt die Zinsen für Staatsanleihen in die Höhe. Und die Gefahr, das geborgte Geld schließlich wegen tatsächlichem Bankrott zu verlieren, ist gering, da die EU-Staaten als Retter der Gläubiger auf den Plan treten. Anstatt nämlich die Ursache für das höhere Defizit in den südeuropäischen Staaten zu thematisieren (in Spanien liegt der Fall anders, da Spanien vor der Krise eine unterdurchschnittliche Verschuldung aufwies – hier ist das Platzen einer regionalen Immobilienblase verantwortlich), beschränkt sich die EU in Kooperation mit dem Internationalen Währungsfonds darauf, durch das Errichten eines monetären Schutzschirmes die Spekulation gegen die Defizitländer von der Erfolglosigkeit zu überzeugen. Die wahre Ursache für die hohen Defizite der südeuropäischen Staaten liegt nämlich nicht darin, dass diese Länder über ihre Verhältnisse gelebt haben, sondern an den innereuropäischen Ungleichgewichten bei der Leistungsbilanz. An dieser sind jedoch nicht nur die Defizitstaaten schuld, sondern auch die Überschussländer, allen voran Deutschland. Denn Deutschland verschafft sich seit der Währungsunion und seit der Einführung des Euro als gemeinsamer Währung Vorteile gegenüber diesen Staaten im Export, indem es nicht parallel zu der Zielinflationsrate von 2% für eine angemessene Steigerung der Löhne sorgt (Inflation + Produktionssteigerung). Deutschland profitiert somit von niedrigen Lohnstückkosten durch Handelszugewinne. Und es empfiehlt zu allem Überfluss den Defizitstaaten auch noch, es ihm gleichzutun und bei den Löhnen und Sozialleistungen zu sparen. Wenn die Defizitländer jedoch diesen Ratschlag tatsächlich befolgen und mit Deutschland beim Lohndumping und Sozialabbau gleichziehen, dann verliert einerseits Deutschland seinen Vorteil; zweitens wird dadurch ganz Europa in die Rezession gestürzt, da durch flächendeckendes Sparen ausgelöste ganz Europa erfassende Konsumflaute die Wirtschaft nicht wachsen kann.

Was sind hingegen die richtigen Weichenstellungen, die in der EU getroffen werden müssen, damit die Krise gut bewältigt und nachhaltiges Wirtschaftswachstum zum Wohle aller wieder erreicht werden kann (siehe dazu auch Jörg Huffschmid, Politische Ökonomie der Finanzmärkte, Hamburg 2002)?

  • Abkehr von der reinen Inflationsbekämpfung und Rückkehr zu einem Programm für Wachstum und Beschäftigung sowie antizyklische Konjunktursteuerung durch staatliche Investition
  • Strenge Regulierung der Finanzmärkte sowie Bekämpfung der Spekulation und Reduzierung der Wertpapierdynamik (z.B. Verbot von Leerverkäufen)
  • Regulierung des Bankensektors in Hinsicht auf die Rückkehr zu seinen Kernaufgaben (Investionsversorgung durch Kredite, langfristiger privater Vermögensaufbau)
  • Trennung von sozialen Sicherungssystemen und Kapitalmarkt durch Rückkehr zum Umlageverfahren
  • Stabilisierung der Wechselkurse und Schaffung von Währungskooperationen
  • Mehr Steuergerechtigkeit durch Vermögensbesteuerung, faire Besteuerung von Kapitalerträgen und Unternehmensgewinnen
  • Einführung einer Devisenumsatz- bzw. allgemeinen Finanztransaktionssteuer
  • Wiedereinführung von Kapitalverkehrskontrollen zum Schutz vor spekulativen Attacken
  • Förderung des Umbaus der Produktion auf ökologische Nachhaltigkeit

Stephan Schulmeister: Mitten in der Krise – Ein „New Deal“ für Europa:

17. Juni 2010

Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit, Armut und Klimawandel „im Ganzen“ bekämpfen.

Im – langsam untergehenden – Zeitalter des Neoliberalismus halten sich Ökonomen und Wirtschaftspolitiker bei der Diagnose von Problemen an zwei Grundsätze. Erstens: „Wo ein Problem in Erscheinung tritt, dort liegen auch seine Ursachen“. Zweitens: Jedes der großen Probleme wie Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit oder Klimawandel wird isoliert betrachtet und bedarf dementsprechend einer „Spezialtherapie“.

Zwei Beispiele verdeutlichen diese „arbeitsteilige“ Sichtweise. Beispiel 1: Die Hauptgründe für hohe Haushaltsdefizite und steigende Staatsverschuldung sind übermäßige Staatsausgaben und die Ineffizienz der öffentlichen Verwaltung. Beispiel 2: Die Hauptursachen hoher Arbeitslosigkeit bestehen in übermäßigen Lohnkosten und überregulierten Arbeitsmärkten.

Diesen (Symptom)Diagnosen entsprechen die (Symptom)Therapien. Im Hinblick auf die Staatsfinanzen wird verordnet: Der Staat soll durch (Maastricht)Regeln zu Disziplin verhalten werden, er soll seinen Haushalt durch Sparen konsolidieren und sich durch umfassende Privatisierungen aus der Wirtschaft zurückziehen. Arbeitslosigkeit soll bekämpft werden durch Reduktion der Reallöhne, durch geringere Lohnnebenkosten, durch „Senkung der Anreize zur Arbeitslosigkeit“ (Kürzung von Arbeitslosengeld, etc.), sowie durch die Schaffung atypischer Beschäftigungsverhältnisse.
Tatsächlich sind die großen Probleme wie Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit in der Verteilung von Einkommen, Vermögen und (damit) der Entfaltungschancen oder die Umweltverschlechterung gemeinsam angewachsen in einem langen Entwicklungsprozess. Dieser Prozess wurde immer stärker von neoliberalen Leitlinien geprägt, verbunden mit einer Verlagerung der kapitalistischen „Kernenergie“, des Profitstrebens, von real- zu finanzwirtschaftlichen Aktivitäten.
Strategien zur Bewältigung der gesellschaftlichen Hauptprobleme müssen diese Transformation vom Realkapitalismus der 1950er bis 1970er Jahre zum Finanzkapitalismus der vergangenen drei Jahrzehnte berücksichtigen, also eingebettet sein in den Prozess des polit-ökonomischen Entwicklungszyklus. Seine letzte Talsohle wurde durch die große Depression der 1930er Jahre und den Zweiten Weltkrieg geprägt. Das Lernen aus der Krise ermöglichte die realkapitalistische Prosperitätsphase: Anhaltende Vollbeschäftigung und der stetige Ausbau des Sozialstaats stärkten Gewerkschaften und Sozialdemokratie, gleichzeitig „drifteten“ die Intellektuellen nach links, die Vermögenden gerieten gesellschaftspolitisch in die Defensive, die Losungen des Neoliberalismus wurden für sie (wieder) attraktiv. Die schrittweise „Ent-Fesselung“ der Finanzmärkte nach neoliberaler Rezeptur seit Anfang der 1970er Jahre verlagerte das Gewinnstreben von Real- zu Finanzinvestitionen und prägte so die finanzkapitalistische Abschwungsphase der vergangenen drei Jahrzehnte.
Während der Realkapitalismus durch seinen Erfolg zu Grunde gegangen war, geht nun der Finanzkapitalismus an seinem Misserfolg zu Grunde – die Krise ist die große Frucht nach neoliberaler Blüte. Fazit: Das Ende der Sackgasse ist erreicht und damit der Anfang einer neuen Talsohle im „langen Zyklus“.
Um möglichst frühzeitig aus der Krise zu lernen und diese so zu verkürzen, bedarf es eines wirtschafts- und sozialpolitischen Gesamtkonzepts, insbesondere für die EU. Denn in Europa hat sich der „neoliberale Smog“ in den Köpfen der Eliten besonders stark ausgebreitet. Gleichzeitig verstärkt die Krise die Spannungen innerhalb der Union, was wiederum alte Feindbilder zum Leben erweckt, innerhalb der einzelnen Länder (Inländer versus Ausländer) ebenso wie zwischen den Ländern (Mitteleuropa versus „Club Med“). In einer hartnäckigen Krise wird sich auch manches Gespenst der europäischen Geschichte wieder beleben lassen.
Fazit: Ein „New Deal“ für Europa ist nicht nur zur Bewältigung der ökonomischen Hauptprobleme „im Ganzen“ nötig, sondern auch zur Stärkung des sozialen und europäischen Zusammenhalts.

Hauptthesen des Essays

Ich möchte in diesem Papier folgende Thesen begründen und ihre Bedeutung am Beispiel der Konsolidierung der Staatsfinanzen erläutern.

These 1: Die „gängigen“ Symptomdiagnosen und -therapien sind eingebettet in die neoliberale Welt-Anschauung und damit Teil der langfristigen „Produktion“ der großen Probleme Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit, Armut und Umweltverschlechterung. Die Leugnung des „Gemeinschaftlichen“ („there is no such thing as society“), die Diskreditierung des Staates als „Feind der Bürger“ (er ist auch „unser Verein“), die Vernachlässigung der Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Umwelt und in den sozialen Zusammenhalt, all dies hat den Unternehmen und Arbeitnehmern schweren Schaden zugefügt. Noch größer war der Schaden für die Produzierenden durch die „Ent-Fesselung“ der Finanzmärkte und damit durch die Verlagerung des Gewinnstrebens von real- zu finanzwirtschaftlichen Aktivitäten.

These 2: Diese Entwicklung war unvermeidlich. Denn der Neoliberalismus ist die Ideologie im Interesse des Finanzkapitals, nicht des Realkapitals. Die Losungen gegen Sozialstaat und Gewerkschaften haben die Unternehmer(vertreter) schon vor langer Zeit dazu „verführt“, den Neoliberalismus als „ihre“ Ideologie zu „adoptieren“. Dies hat ihnen sehr geschadet, besonders den Klein- und Mittelbetrieben. Gleichzeitig haben die anwachsenden Probleme und ihre „Behandlung“ durch „sparpolitische“ Schwächung des Sozialstaats und „Atypisierung“ der Beschäftigung das Verhältnis zwischen den Sozialpartnern verschlechtert. Die Interessen des Finanzkapitals können sie nicht als ihren gemeinsamen Gegner erkennen, weil (fast) jeder selbst Finanzkapital besitzt.

These 3: Eine Essenz des Finanzkapitalismus besteht darin, dass Finanzaktiva „geschaffen“ werden, die keine realwirtschaftliche Deckung haben. Zunächst geschah dies durch Aktienbooms, dann durch Kreditvergabe an nahezu mittellose „Häuslbauer“. Als der „fiktive“ Charakter der Finanzforderungen durch den Verfall von Aktienkursen und Immobilienpreisen offenbar wurde, begann sich der Staat als „Ersatzbank“ zu betätigen, nahm Geld auf und gab es den richtigen Banken – das Problem unzureichender Deckung wurde nur verschoben. Wenn nun EZB und EU durch Schaffung eines Rettungsfonds Griechenland, und danach Portugal und Spanien und Italien beistehen, wird das Problem weiter geschoben. Eine nachhaltige Lösung kann nur darin bestehen, dass die Staaten in die Lage versetzt werden, ihre Schulden zu bedienen. Dies setzt ein stabiles und merkliches Wirtschaftswachstum voraus, also eine Verlagerung des Gewinnstrebens von der Finanz- zur Realwirtschaft, einen „New Deal“ als nachhaltigen „Anschub“ und eine Abkehr vom „Weltbild“ der letzten Jahrzehnte.

These 4: Die schwierigste Phase der großen Krise liegt nicht hinter uns, sondern vor uns. Ein neuerlicher Rückgang der Aktienkurse bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit, leeren Staatskassen und zunehmendem Zweifel an der realen Deckung der Staatschulden wird ohne kluge Gegensteuerung dazu führen, dass alle Sektoren versuchen, ihre Lage durch Sparen abzusichern: Unternehmer, Haushalte, Ausland und Staat. Das ist der Stoff, aus dem ökonomische Depressionen gemacht sind. In einer solchen Situation muss der Staat der Realwirtschaft nachhaltige Impulse geben, gleichzeitig aber auch seine Finanzlage stabilisieren. Dafür gibt es nur einen Weg: Er muss den Einkommensstärksten, insbesondere den Besitzern großer Finanzvermögen, spürbare Konsolidierungsbeiträge abverlangen, und zwar nicht aus sozialen, sondern aus „technisch-makroökonomischen“ Gründen: Die „Finanzrentiers“ reagieren darauf nicht mit einer Einschränkung ihres Konsums, sondern ihres Sparens.

These 5: Mit einem Teil dieser Mittel sollen jene Probleme energisch angegangen werden, die in den vergangenen 20 Jahren vernachlässigt wurden. Dazu gehören insbesondere die Verbesserung der Umweltbedingungen, von einer „generalstabsmäßigen“ thermischen Gebäudesanierung über die Erneuerung der Energieversorgung bis zur Ökologisierung von Industrieprodukten wie der Förderung von Elektroautos (all dies würde den Unternehmen zusätzliche Aufträge bringen). Ein weiterer Schwerpunkt besteht in massiven Investitionen ins Bildungswesen (einschließlich Vorschulbereich), insbesondere zur Verbesserung der Qualifikation von Kindern mit Migrationshintergrund und der Bedingungen an den Universitäten. Den dritten Schwerpunkt bilden alle Maßnahmen zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts, von einer Verbesserung der Entfaltungschancen junger Menschen (insbesondere im Bereich Wohnen und Arbeit) über eine aktive Armutsbekämpfung bis zu einer Organisation der Altenbetreuung, welche den Standards eines modernen Sozialstaats entspricht.

These 6: Es liegt im eigenen Interesse der Besitzer der (großen) Finanzvermögen, in der jetzigen Situation spürbare Konsolidierungsbeiträge zu leisten, um dem Staat eine nachhaltige Ankurbelung der Realwirtschaft zu ermöglichen. Für die „Reichen an Geld“ (Rentiers) ist dies viel wichtiger als für die „Reichen an Realkapital“ (Unternehmer), da erstere den größten Teil der Staatsanleihen halten (direkt oder indirekt in Form von Investitions- oder Pensionsfonds). Die „Deckung“ der Staatsanleihen besteht nämlich im künftigen Wirtschaftswachstum und den daraus erfließenden Staatseinnahmen sowie den dadurch vermiedenen Sozialausgaben.

These 7: Wenn die „Reichen an Geld“ darauf bestehen, dass der Staat seine Schulden an sie durch eine wachstumsdämpfende Verringerung der Staatsausgaben abzahlt, dann verlangen sie eine logische Unmöglichkeit. Den Arbeitnehmern muss nämlich zuerst die Chance gegeben werden, gemeinsam mit den Unternehmern die Schulden des Staates gegenüber den „Reichen an Geld“ abzutragen. Wenn nicht, wäre ein partieller Staatsbankrott, im „optimalen“ Fall eine gemeinsam von allen EU-Staaten koordinierte Umschuldung (= Ausgleichsverfahren) unvermeidlich. Dann werden die „Finanzrentiers“ viel mehr verlieren als wenn sie jetzt kräftig zur Konsolidierung beitragen.

These 8: Das politische Haupthindernis für eine Stärkung der Realwirtschaft besteht darin, dass Unternehmen/Unternehmer wie Arbeitnehmer auch (kleine) „Reiche an Geld“ sind. In ihrer Eigenschaft als „Finanzrentiers“ werden sie sich gegen Konsolidierungsbeiträge wehren (die großen wie SIEMENS ebenso wie die „kleinen Sparer“). Sie begreifen nicht, dass ihre Beiträge als Teil einer expansiven Gesamtstrategie ihnen selbst in ihrer Eigenschaft als Unternehmer oder Arbeitnehmer nützen würden.

These 9: Ist der „Schock“ am Beginn einer Krise vorbei, so regieren die Eliten mit dem Versuch, das Unangenehme zu verleugnen oder zu verdrängen. Gleichzeitig steigt das Bedürfnis nach Sicherheit. Beides stärkt die Tendenz, zum „status quo ante“ zurückzukehren, also jene Bedingungen wieder herzustellen, welche vor der Krise herrschten. Dieses paradoxe Verhaltensmuster – es haben ja eben diese Bedingungen zum Heranwachsen der Krise beigetragen – steht einem Lernen aus der Krise entgegen. Die Abkehr der Eliten von ihren unter „Schockeinwirkung“ gemachten Reformversprechen und der Übergang zu „Wir machen weiter wie vorher“, verdeutlicht dieses Lernhemmung. Genau deshalb vertieft sich die Systemkrise und verstärkt den „Leidensdruck“ – allerdings bei den sozial Schwachen und nicht bei den (ökonomischen) Eliten, deren Nach-Denken eine Überwindung der Krise ermöglichen würde. Überdies sind Tempo und Gründlichkeit des Lernens bei den ökonomischen Eliten aus einem zweiten Grund schwach ausgeprägt: Es fällt ihnen besonders schwer, sich von der alten Weltanschauung und den darauf basierenden Modellen zu lösen.

These 10: In einer hartnäckigen Krise nimmt die Tendenz des „Rette sich wer kann“ auch im Verhältnis der Länder zueinander zu. Mehrere Faktoren werden die „Zentrifugalkräfte“ in der EU stärken: Die Länder haben umso weniger Möglichkeit, die Folgen der Krise zu bekämpfen, je geringer ihr wirtschaftliches Entwicklungsniveau und je „prekärer“ daher die soziale Lage der Menschen ist. Denn diese Länder zahlen für die öffentlichen Schulden viel höhere Zinsen als die „reichen“ Länder wie Deutschland. Auch sind die einzelnen EU-Länder durch ein „Gefangenendilemma“ quasi gelähmt: Betreibt jedes einzelne Land eine expansive Politik, so fließen gut 50% der Impulse ins Ausland. Machen alle EU-Länder dies gemeinsam, so stärken sie sich wechselseitig. Gleichzeitig muss die expansive Gesamtstrategie in den Ländern mit (hohen) Leistungsbilanzüberschüssen und relativ günstiger Lage der Staatsfinanzen stärker ausgeprägt sein als in den „Problemländern“. Fazit: Gebraucht wird das Konzept eines koordinierten „New Deal“ für Europa und ein „leadership“ der PolitikerInnen, dieses umzusetzen.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem neuen Buch von Stephan Schulmeister, den ich hier freundlicherweise abdrucken durfte.

Stephan Schulmeister
Mitten in der großen Krise. Ein »New Deal« für Europa

Picus Verlag
Edition Gesellschaftskritik, Band 7
160 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-85452-586-8
9,90 Euro inkl. MWSt.

Der Titel ist auch in der Buchhandlung des ÖGB Verlags erhältlich.


Jetzt zu sparen wäre völlig verkehrt!

13. Juni 2010

Mitten in den Nachwehen der schwersten Wirtschaftskrise seit mehr als 75 Jahren wollen immer mehr europäische Regierungen strenge Sparprogramme zur Reduktion des Budgetdefizits ihrer Länder beschließen. Bevor ich darauf eingehe, was aus volkswirtschaftlicher Sicht von diesen Absichten zuhalten ist, werde ich kurz auf die Ereignisse eingehen, die überhaupt zu der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise geführt haben.

Die Ursachen der Krise
In den Jahren nach dem Platzen der Blase der New Economy im Jahre 2000 begannen die Immobilienpreise in den USA stark anzusteigen, da der Finanzsektor in großem Maße Kredite an den amerikanischen Mittelstand vergab, dessen Einkommen aus Arbeit in diesen Jahren jedoch stets gesunken war. Um seinen Lebensstandard und den gewohnten Konsum aufrecht zu erhalten, war dieser Mittelstand darauf angewiesen, in immer größerem Ausmaß Schulden zu machen. Da die Immobilienpreise stetig stiegen, bekamen die Hausbesitzer immer höhere Hypothekarkredite angeboten. Auch die Kreditkartenanbieter gewährten großzügige Einkaufsrahmen, damit die Steigerung des Konsums am Laufen gehalten wurde. Sowohl den Hypothekaranbietern, als auch den Kreditkartenfirmen musste bewusst sein, dass dies nicht auf Dauer gutgehen konnte, wenn die Arbeitseinkommen nicht stiegen. Hinzu kam, dass der Finanzsektor diese Hypothekensdarlehen, insbesondere die von zweitklassigen, also besonders risikobehafteten Schuldnern (= subprime), deren Immobilien zu mehr als 80% belehnt waren, in konplizierte Wertpapieren verpackt hatten, von Ratingagenturen sehr wohlwollend bewerten ließen und weltweit auf den Finanzmärkten angeboten hatten. Da diese Wertpapiere von den Ratingagenturen oftmals sogar mit einem AAA ausgezeichnet wurden und aufgrund der steigenden Gewinne der Unternehmen Kapital im Überfluss auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten war, verkauften sich diese Papiere wie die warmen Semmeln. Sogar die privaten Pensionsversicherungen griffen fleissig zu, da ihnen diese Anlagen als sicher erschienen. Als schließlich die Steigerung der Immobilienpreise ein Ende fand, fiel das Ganze wie ein Kartenhaus zusammen: Hypothekenschuldner konnten aufgrund des Wertverlustes ihre Darlehen nicht mehr bedienen, sodass ihre Häuser zwangsversteigert wurden. Dies brachte eine ungeheure Lawine ins Rollen, da dadurch die Immobilienpreise im schneller sanken, wodurch immer noch mehr Hausbesitzer ins Straucheln kamen und ihre Häuser verloren.

Und die Folgen für die Weltwirtschaft
Viele Banken rund um den Globus saßen nun auf jenen Wertpapieren, in denen verpackt die Hypothekarsdarlehen schlummerten, die nun nicht mehr einzubringen waren. Da die Banken in Folge des Immobiliendesasters nicht von einander wussten, wie viele dieser Papieren sie jeweils in ihren Portfolios hatten, misstrauten die Banken einander immer mehr. Somit stiegen die Interbankenzinsen stark an und die gegenseitige Kreditvergabe kam praktisch zum Erliegen. Im Sommer 2008 gerieten schließlich einige große amerikanische Investmentbanken in massive Zahlungsschwierigkeiten und sie mussten vom Staat gerettet werden. Lediglich Lehmann Brothers wurde die nötige Finanzspritze verweigert, sodass Lehmann Brothers im Herbst 2008 insolvent wurde. Das versetze die ganze Finanzwelt in eine helle Panik. In einer konzerdierten globalen Aktion retteten die Regierungen der USA, Europas und Asiens das Finanzsystem durch staatliche Garantien in gigantischem Ausmaß.

Da jedoch trotz der massiven staatlichen Hilfspakete die Kreditvergabe mehr oder weniger zum Erliegen gekommen war, griff die Finanzkrise nun auf die gesamte Wirtschaft über. Weltweit brachen die Aufträge in der Industrie ein und die Exporte der Industriegüter gingen stark zurück, sodass die Weltwirtschaft in eine schwere Rezession gestürzt wurde. So sank z.B. in Österreich das BIP um 3,4% und die Arbeitslosigkeit stieg trotz Konjunkturpaketen und weiterer arbeitsmarktpolitischer Begleitaktionen (z.B. Kurzarbeit) deutlich an: Nach einer erfreulichen Arbeitslosenrate von 5,7% 2008 stieg sie auf über 7,2% 2009 und wird 2010 etwa 7,7% betragen.

Die Krisenbekämpfung
Durch die staatlichen Hilfspakete für die Banken und die Konjunkturpakete zur Ankurbelung des Konsums sowie die steigenden Sozialausgaben für die gestiegene Arbeitslosigkeit ist die Verschuldung des österreichischen Staatshaushaltes deutlich, aber nicht dramatisch gestiegen: Nach einigen Jahren, in denen das Defizit stets unter einem Prozent lag, stieg das Defizit 2009 auf 3,5% an, 2010 wird es voraussichtlich 4,7% betragen. Wenn Österreich den Kurs von 2009 und 2010 hinsichtlich der konjukturellen Ankurbelung beibehält, dann wird die Gesamtverschuldung bis 2013 auf etwa 70% des BIPs steigen (zum Vergleich: im langjährigen internationalen Vergleich stieg das Defizits nach einer Krise um durchschnittlich 86%).

Aktuell gibt es erste zarte Anzeichen der wirtschaftlichen Erholung: Die Wirtschaft wächst 2010 wieder langsam und die Arbeitslosigkeit ist in Östereich seit Mai nicht mehr weiter angestiegen. Das Wirtschaftswachstum wird 2010 und 2011 ca. 1,5% betragen. Wie aus der Volkswirtschaftslehre bekannt ist, reicht ein solches Wachstum nicht aus, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Erst wenn wieder ein stabiles Wachstum von mehr als 2% gegeben ist, kann die Arbeitslosigkeit dauerhaft reduziert werden. Also ist aus Sicht der Arbeitnehmervertreter erst dann die Krise wirklich bewältigt. Das wäre in Österreich frühestens 2013 der Fall.

Aber dann kam mit der Griechenlandkrise die Sparwut
Nun ist es jedoch so, dass in Folge der Griechenlandkrise und der größeren Budgetprobleme von Portugal, Spanien und Italien die neoliberale Propaganda die Angst vor der Überschuldung der europäischen Staaten schürt. Vor allem in den konservativ (mit)regierten Staaten grasiert seitdem das Sparfieber. Schon 2011 soll deshalb mit dem Sparen begonnen werden, um schnellstmöglich wieder die Maastrichtgrenzen von 3% Neuverschuldung und 60% Gesamtverschuldung einzuhalten. Deutschland beispielsweise  hat, obwohl das Land vor der Krise budgetär gut dastand und auch in der Krisebekämpfung keine große Schuldenlast aufgebaut hat, ein 80 Milliarden Euro Sparpaket beschlossen, das in jedem Fall sich auch auf die anderen Eu-Staaten konjunkturschwächend auswirken wird.

Auch der österreichische Finanzminister mischt hier kräftig mit: Er möchte bis 2013 das Ziel von 2,7% Neuverschuldung erreichen. Dazu soll zu 60% bei den Ausgaben eingespart werden und 40% sollen über zusätzliche Einnahmen ins Budget fließen. Der Rahmen für die Einsparungen wurde im Parlament bereits fixiert, die genauen Festlegungen erfolgen dann im Herbst. Bei den zusätzlichen Einnahmen bestehen zwischen den Regierungsparteien sehr unterschiedliche Vorstellungen: Während die ÖVP unter dem Titel „ökologische Steuerreform“ auf Massensteuern setzt, will die SPÖ mit vermögensbezogenen Steuern jene verstärkt zur Kasse bitten, die in den letzten 20 Jahren von Steuererleichterungen besonders profitiert hatten: die Vermögenden. Auf die sehr konträren Ansätze bei den Einnahmen möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen, obwohl natürlich auch diese sehr unterschiedliche Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum hätten.

Die fatalen Folgen des Sparens
An dieser Stelle werde ich mich vielmehr auf die Sparpläne und deren makroökonomischen Folgen konzentrieren. Wenn nun die Regierungen die Sparpakete, die überall in Europa für 2011 geschnürt werden, in die Tat umsetzen, um die durch die Krisenbekämpfung gestiegenen Budgetdefizite schnellstmöglich abzubauen, dann wird dies das zarte Pflänzchen Konjunktur in Europa ersticken. Vor allem im Falle von Österreich ist ein solches Sparprogramm ganz sicher nicht notwendig, da die Verschuldung keine Bedrohung darstellt. Budgetdefizite steigen nach einer Wirtschaftskrise durch die notwendigen Konjunkturbelebungsmaßnahmen stets an: der Staat gibt mehr aus, um die fehlende Investitionstätigkeit der Unternehmen auszugleichen und die sozialen Folgen der Krise durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen abzuferdern. Wenn sich die Wirtschaft nach einigen Jahren nachhaltig erholt hat, d.h. wenn die Wirtschaft wieder stetig um mehr als 2% wächst, lässt sich das aufgebaute Defizit durch die steuerlichen Mehreinnahmen, die eine Hochkonjunktur mit sich bringt, ohne Probleme wieder reduzieren – wie es auch früher immer wieder gemacht wurde. Wird dieser Konjunkturaufschwung jedoch durch staatliche Sparmaßnahmen und eine inflationsphobische Reaktion der europäischen Notenbank abgewürgt, bevor er sich stabilisiert hat, dann ist das Wirtschaftswachstum für viele Jahre mehr als gefährdet. Vielmehr ist damit eine langwierige Rezession und die nächste Krise vorprogrammiert.

Deshalb müssen alle vernünftigen Kräfte europaweit in einer gemeinsamen Aktion diese um sich greifende Sparwut verhindern und dafür sorgen, dass die konjunkturbelebenden Maßnahmen so lange fortgesetzt werden, wie die Folgen der Krise auf dem Arbeitsmarkt noch spürbar sind.