Gerhard Kohlmaier: Die Freiheit des Marktes bewirkt die Versklavung des Menschen

29. Oktober 2010

In vielen Ländern Europas stößt die Verordnung von Sparkursen auf Widerstand. Sparkurse gegen die Menschen, Sparkurse, welche Sozialleistungen und Zukunftschancen der Menschen erheblich einschränken. Parallel dazu gibt es in zahlreichen Staaten einen politischen Rechtsruck. Auch in Österreich. Beides gibt zu bedenken, beides ist hingegen nicht verwunderlich.

Die Sparkurse sind Teil der neoliberalen Strategie. Zuerst propagiert man die Freiheit des Marktes, eine Freiheit, die sich wenige, vor allem große Konzerne und Banken insoferne zu nutze machen, als sie sich die Freiheit nehmen, die Märkte nach ihrem Gutdünken zu beherrschen. Je mehr sie wachsen, umso größer wird ihre Freiheit, weil sie unabhängig werden, Monopole bilden und letztlich die Politik für ihre Interessen einschalten. So werden sie frei, gemessen an der Willkür ihrer Entscheidungen, welche in erster Linie ihrem Macht- und Gewinnstreben dienen, die aber zu Lasten von all jenen gehen, die ihnen diesen Reichtum und diese Macht erarbeiten: den Arbeitnehmern. Letztere gewinnen in keiner Weise an Freiheit, im Gegenteil, sie werden abhängig und auf moderne Art und Weise versklavt. Natürlich könnten sie von ihren Verträgen zurücktreten, aber im Unterschied zu den Mächtigen und Reichen, welche das dann tun, wenn es ihnen noch mehr Vorteile bringt, haben die meisten Arbeitnehmer keine Alternativen. Ihre Freiheiten sind nämlich eingeschränkt, weil Monopolstellungen kaum mehr Wahlmöglichkeiten lassen, weil die herrschende Politik ihnen ihre Freiheiten nimmt, weil die Medien ihnen falsche Freiheiten, falsche Werte als erstrebenswert vorgaukeln. Die neoliberale Krisenbekämpfung sah zudem vor, alle Arbeitnehmer, ja sogar ganze Staaten, in ein weiteres Maß von Unfreiheit zu zwängen, indem die von den Neoliberalen allein verursachte Krise, vor der, ja selbst während dieser sie im übrigen kräftig profitierten, zur Krise von Staaten, von ganzen Volkswirtschaften, von allen Arbeitnehmern, allen Bürgern erklärt wurde. Und das Überraschende ist: Viele, allzu viele glauben tatsächlich, dass sie dafür eine Verantwortung tragen. Warum?

Wer ständig in Unfreiheit lebt, wer ständig von Institutionen, Arbeitgebern, Politikern abhängig ist, auf deren Entscheidungen er im Wesentlichen keinen Einfluss mehr hat, beginnt sich mit ihnen zu arrangieren. Der Unfreie nimmt sich seine vermeintliche Freiheit im Abwägen des geringeren Übels oder aber im Ausnützen von noch Schwächeren bzw. im Heraufbeschwören von Sündenböcken. Dazu kommt, dass viele Bürger sich überhaupt nicht vorstellen können, in welchem Maße sie ihre ureigensten Lebensinteressen vernachlässigen bzw. vernachlässigt haben und primär den Interessen der Mächtigen in die Hände arbeiten. Sie haben sich längst – unter kräftiger Mithilfe der Medien, die natürlich ebenfalls überwiegend in neoliberalen Händen sind –  einer Automatik der Lebensführung ausgeliefert, in der sie den Steuerungsmechanismen einer neoliberalen Politik und Wirtschaftsauffassung unterliegen und diese für das einzige Credo ihrer Lebensführung halten. Sie haben die Entscheidung über ihr eigenes Leben längst all jenen Institutionen, Konzernen und Politikern überlassen, welche sie tagtäglich in neue Abhängigkeiten zwingen, welche ihr Leben verwalten.

Ein freies Leben sieht anders aus, eine davon entscheidend geprägte Lebensqualität ebenso! Dort wo der einzige Sinn des Lebens im Streben nach Geld und nach Konsum vorgegaukelt wird, gehen andere Wertvorstellungen notgedrungen verloren: Solidarität, Identifikation mit dem eigenen Tun, Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und der Welt, wie sie von uns gestaltet oder besser gesagt verunstaltet wird.

Der sich nun in zahlreichen Ländern abzeichnende Widerstand ist daher in erster Linie kein Widerstand gegen das System, es ist kein Widerstand gegen das Wesen neoliberaler, ausbeuterischer, auf den Vorteil Weniger bedachter Politik. Es ist ein Widerstand gegen den Verlust der Scheinfreiheiten, die dem System immanent sind. Es ist ein Widerstand gegen den drohenden Verlust des Arrangements. Und letztlich ist es auch ein Widerstand gegen den vorgegebenen Sinn des Lebens, dessen Verlust für die Mehrheit der Menschen immer spürbarer wird, ohne dass sie einen Ersatz dafür parat haben. Das ist auch die Stunde der Rechten. Sie versprechen Scheinlösungen, sie liefern Sündenböcke, sie lenken von den wahren Gegebenheiten ab und hoffen auf diese Art und Weise selbst eine Monopolstellung erreichen zu können. So sehr sie von den derzeit Mächtigen vordergründig auch abgelehnt werden, so sehr haben sich diese längst mit ihnen arrangiert. Sie liefern nämlich den Stoff, aus dem die rechtsradikalen Träume entstehen, welche die Realität der Verhältnisse überdecken. Die immer schlechter werdenden Arbeitsbedingungen, die explodierenden atypischen Beschäftigungsverhältnisse, von denen viele Menschen nicht mehr leben können, die steigenden Ängste um den Arbeitsplatz bzw. der Verlust desselben, die Aushöhlung des Sozialsystems – das alles führt insbesondere bei jungen Menschen zu einer Hoffnungslosigkeit, aus welcher ihnen die rechten Politiker ein Entrinnen vorgaukeln.

So führt letztendlich die so sehr gerühmte Freiheit des Marktes zu einer besonders gefährlichen Form der Unfreiheit für die überwiegende Mehrheit der Menschen. Nur wenn es uns gelingt, dieses neoliberale Credo in seinen Grundfesten zu erschüttern, können wir wieder an Freiheit im Sinne einer Selbstbestimmung unseres Lebens gewinnen. Eine andere Steuerpolitik ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung, und gerade jetzt – in der Diskussion über neue Sparpakete für die Bevölkerung – muss eine Umverteilung von oben nach unten das erklärte Ziel sein. Aber auch unsere demokratischen Strukturen müssen überdacht werden, die Möglichkeiten der Einflussnahme auf das politische Geschehen ausgeweitet werden, sei es durch Willenskundgebungen auf der Straße, durch Streiks oder durch Volksabstimmungen, aber auch durch das Installieren neuer, effizienter Strukturmechanismen wie Wahlgemeinschaften, Zusammenschlüsse innerhalb der so genannten Zivilgesellschaft sowie eines neuen Verständnisses von Politik und Wirtschaft. Wir müssen uns zur Wehr setzen! Jetzt!

Dieser Artikel erfolgt mit freundlicher Gernehmigung der Steuerinitiative im ÖGB.


Erbschaft und Chancengleichheit

17. August 2010

In der liberalen Philosophie hat die Chancengleichheit den allerhöchsten Stellenwert in Bezug auf Gerechtigkeit. Zugleich aber wird der Schutz des Eigentums als die wesentlich Funktion des Staates angesehen. Wir sollten also erwarten können, dass beide Prinzipien miteinander kohärent sind. Aber ist dem tatsächlich so? Sind das Prinzip der Chancengleichheit und der zum unabdingbaren Grundwert erklärte Schutz des Eigentums wirklich gleichermaßen in einer Gesellschaft verwirklichbar?

John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“, die Klimax der liberalen Weltanschauung im 20. Jahrhundert, kommt ausgehend vom Modell des Urzustands zur Konzeption einer gere chten Gesellschaft, die aus den liberalen Grundprinzipien ihre Postulate gewinnt. Denn Rawls kommt unter Voraussetzung dieses vermeintlich neutralen Modells zu dem Ergebnis, dass eine gerechte Gesellschaft zwei Prinzipien zu erfüllen habe:

  1. „Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System [von Freiheiten] für alle anderen verträglich ist.“ (TG 81)
  2. „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.“ (TG 81)

Das zweite Prinzip (=Differenzprinzip) bei Rawls impliziert zwar, dass eine gerechte Gesellschaft eine soziale Komponente haben muss. Da jedoch bei Rawls das erste Prinzip den Primat gegenüber dem zweiten genießt, sodass etwa die Grundfreiheit des Eigentumerwerbs und -besitzes der Verteilungsgerechtigkeit übergeordnet ist, und da das Differenzprinzip nur eine sehr schwache Ausprägung des sozialen Ausgleichs zulässt, führt die liberale Theorie der Gerechtigkeit dazu, dass zwar die Chancengleichheit als Prinzip beschworen wird, ihre Verwirklichung aber als mögliche Unfreiheit beschränkt wird.

Denn in einer Gesellschaft, die mit einem Erbschaftsrecht dafür Sorge trägt, dass der Schutz des Eigentums in der Form funktioniert, dass das Eigentum von einer Generation auf die nächste übergehen kann, muss mit Recht der Frage nachgegangen werden, welche Auswirkung dies auf die Chancengleichheit in einer solchen Gesellschaft hat. Chancengleichheit ist nämlich nur dann gegeben, wenn alle Mitglieder der Gesellschaft die gleiche Möglichkeit haben, die Chancen auf Entwicklung und Entfaltung zu ergreifen. Aber kann diese Möglichkeit in gleicher Weise gegeben sein, wenn der/die Eine in einer Familie groß wird, wo die finanziellen Ressourcen den Besuch von teuren Privatschulen und elitären Universitäten mit exorbitanten Studiengebühren ermöglichen – während der/die Andere in eine Familie hineingeboren ist, wo furchtbare Armut herrscht, sodass am Ende des Pflichtschulbesuchs in staatlichen Einrichtungen der Erwartungsdruck hoch ist, nun selbst einem Verdienst nachzugehen.

In einem gut entwickelten Sozialstaat wie Österreich wird gerne darauf verwiesen, dass der Besuch staatlicher Schuleinrichtungen gratis sei und ein ausgebautes Förder- und Stipendiensystem dafür sorge, dass alle die Möglichkeit hätten, höhere Bildung zu erwerben. Das soll nicht grundsätzlich bestritten werden. Dennoch sprechen alle Statistiken, die es zu diesem Thema gibt, eine deutliche Sprache: das Bildungssystem in Österreich ist sozial ziemlich undurchlässig! Nur ein geringer Teil der Kinder aus ArbeiterInnenhaushalten schließt ein Hochschulstudium ab – während AkademikerInnenkinder in hohem Ausmaß selbst auch ein Studium abschließen und in weiterer Folge höhergestellte Positionen inne haben.

Wer aus einer wohlhabenden Familie stammt, hat große Chancen im Schottengymnasium, oder gar in Salem zu maturieren, anschließend in Harvard oder Bologna den Master zu machen – und im höheren Management eines Unternehmens zu landen. Wer aus einer Hilfsarbeiterfamilie stammt, wird bestenfalls mit knapper Not die Pflichtschule abschließen und dann einer niederen Erwerbstätigkeit nachgehen, die durch häufige Phasen von Arbeitslosigkeit unterbrochen ist.

Und etwa zwischen 50 und 60 erbt der Spross aus einer wohlhabenden Familie wertvollen Immobilienbesitz, maßgebliche Unternehmensbeteiligungen und einiges an Geldvermögen. Für die eigenen Nachkommen ist also ein Finanzpolster gelegt, sodass sie ebenfalls die beste Ausbildung bekommen können.

Der Spross aus der Unterschichtfamilie schafft es gerade irgendwie, dass seine Eltern während ihrer letzten Lebensphase eine einigermaßen ausreichende Pflege bekommen. Am Ende muss er meist noch etwas drauflegen, wenn er ihnen nach dem Tod ein würdevolles Begräbnis zukommen lassen will. Zu erben gibt es in meisten Fällen nichts – eher noch sind Schulden von nicht abgezahlten Krediten vorhanden. Den eigenen Kindern wird in dieser Situation nahegelegt, möglichst frühzeitig von der Ausbildung in die Erwerbstätigkeit umzusatteln, da die finanziellen Mittel für den Besuch einer höheren Bildungseinrichtung nicht vorhanden sind. Und damit sind wir wieder am Ausgangspunkt der vermeintlichen Chancengleichheit.

Zusammenfassend muss somit der Schluss gezogen werden, dass das Erbschaftssystem in einer Gesellschaft dafür Sorge trägt, dass sich die ungleiche Verteilung von Chancen über Generationen hinweg fortsetzt. Erst durch die Einführung einer praktisch hundertprozentigen Erbschaftssteuer könnte also die Voraussetzung dafür geschaffen werden, dass jeder Bürger die gleiche Chance für eine erfolgreiche Entwicklung erhält. Denn mit einem bestimmten Alter (z.B. mit 21 Jahren) könnte durch diese Einnahmen jeder Staatsbürger die gleiche Summe erhalten (die sich aus der Summe der Erbschaftssteuereinnahmen des Vorjahres ergibt, geteilt durch die Anzahl der Staatsbürger, die diesem Jahr das entsprechende Alter erreichen), die es ihm ermöglicht, entweder eine gute Ausbildung zu finanzieren, den Sprung in die Selbstständigkeit zu wagen oder längere Zeit auf Reisen zu gehen und die Welt kennenzulernen, – oder natürlich auch, unsinnige Konsumausgaben zu tätigen. Mit einer solchen Starthilfe hätte nun tatsächlich  jeder Staatsbürger die gleiche Chance, sich eine selbstbestimmte Existenz unter Ausnutzung aller seiner Möglichkeiten aufzubauen.

Da eine hundertprozentige Erbschaftssteuer jedoch die emotionale Bindung an den elterlichen Besitz vollkommen außer Acht lässt und wohl ein zu großer Bruch mit dem gewohnten System der Vermögensweitergabe wäre, könnte eine Kompromisslösung in einem Modell bestehen, das deutlich weiter geht als die Vorschläge der GPA-djp: Neben einem Freibetrag von EUR 100.000,– für alle Vermögenswerte wird bei Immobilien, die als Eigenheim des Erblassers fungiert haben, bis zu einem Wert von EUR 300.000,– nur eine Erbschaftssteuer von 5% eingehoben, für alle anderen Vermögenswerte ein Steuersatz von 20%. Über dem Wert von EUR 300.000,– sollte der Steuersatz für die Erbschaftssteuer dann generell in mehreren Abstufungen von 20% auf 60% bei einem Wert von mehr EUR 1,000.000,– ansteigen. Diese Einnahmen des Staates sollten, wie oben angeregt, dazu verwendet werden, allen Staatsbürgern mit einem bestimmten Alter die gleiche Starthilfe für den Aufbau einer selbstbestimmten Existenz zur Verfügung zu stellen.