Der „six pack“ zur Economic Governance: Ein neoliberaler Coup der Europäischen Kommission gegen die Demokratie

23. Mai 2011

Aufgrund der (vermeintlich) schweren Schuldenkrise einiger südeuropäischer Länder wie Griechenland, Portugal und Spanien hat die Europäische Kommission im Schnellverfahren einige Änderungen und Ergänzungen zur „Economic  Governance“, d.h. zur Haushalts- und Budgetpolitik  bzw. genauer zu den Maßnahmen, die bei übermäßigem Defizit oder wirtschaftlichem Ungleichgewicht ergriffen werden können, in die Wege geleitet. In den Ausschüssen des Europäischen Parlaments werden derzeit insgesamt sechs Gesetzesvorschläge zu diesem Thema verhandelt, die am 8. Juni im Plenum des Europäischen Parlaments und eine Woche später vom Rat beschlossen werden sollen. Vier davon beschäftigen sich mit Defiziten und Schulden und sollen den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt stärken. Zwei weitere Gesetzesvorschläge fordern zum ersten Mal die Überwachung gesamtwirtschaftlicher Ungleichgewichte. Bei diesen Entwürfen für Verordnungen handelt es sich somit entweder um Verschärfungen der bisherigen VO zu den Artikeln 121, 126 oder 136 AEUV oder um neue Verordnungen zu diesen Artikeln (COM [2010] 522, 523, 524, 525, 526, 527).

Hier die Zielsetzungen der Vorschläge laut Parlament im Überblick:

  • Die Kommission soll nationale Defizite in Zukunft besser überwachen und sanktionieren können.
  • Staaten, die ihre Bilanzen mit falschen Statistiken oder Berichten schönen, sollen eine Strafe von 0,5 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts bezahlen.
  • Wenn Staaten auf EU-Empfehlungen zum Abbau hoher Defizite oder Handelsüberschüsse nicht reagieren, sollen Strafen dafür früher greifen als bisher. Bei der ersten Mahnung werden 0,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fällig, danach 0,3 Prozent.

Begründet wird die Notwendigkeit solcher Maßnahmen damit, dass makroökonomische Ungleichgewichte und hohe Staatsdefizite Europa in die Krise geführt hätten. Um den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu stärken, soll daher die Schuldengrenze (60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) wichtiger werden. Bisher lag der Fokus mehr auf der Neuverschuldungsgrenze (drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr).

Neu ist aber auch die folgende Änderung im Verhältnis von Kommission und Rat: Abstimmungen über Sanktionen für Verstöße gegen diese Regeln (Strafzahlungen von 0,2 bis 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) sollen einer neuen Logik folgen: Bisher musste eine qualifizierte Mehrheit im Rat Sanktionen zustimmen, in Zukunft soll eine qualifizierte Mehrheit notwendig sein, um Sanktionen abzulehnen. Damit würde ein halbautomatischer Sanktionsprozess eingeführt, der es unwahrscheinlich macht, dass eine Ablehnung zeitgerecht erfolgen kann.

Auch sollen Indikatoren für wirtschaftliche Ungleichgewichte strenger überwacht werden. Wenn Ungleichgewichte erkannt werden, sollen Empfehlungen ausgesprochen werden, um sie abzubauen. Werden die Empfehlungen von den Mitgliedsstaaten nicht beachtet, soll es ähnlich wie beim Stabilitäts- und Wachstumspakt zu Sanktionen kommen.

Bei diesem Punkt horchen natürlich die Europarechtler sofort auf: Einige von diesen sind schon zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Änderungen nicht rechtskonform seien, da die in den Verordnungen vorgesehenen Maßnahmen nicht von den entsprechenden Artikeln über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) abgedeckt seien (z.B. Stefan Griller, Walter Obwexer).

Schwerer als die rechtliche Fragwürdigkeit wiegt jedoch, was diese Verordnungen für die Mitgliedstaaten der Union und ihre Wirtschaftspolitik bedeuten. Wenn diese Verordnungen wie vorgesehen beschlossen werden, dann hat zukünftig die Europäische Kommission einen gewichtigen Einfluss auf die Haushalts- und Budgetpolitik der Mitgliedstaaten und kann diese auf ein Sparprogramm verpflichten. Selbst in einer Wirtschaftskrise, wie wir sie in Europa gerade erlebt haben, können die MS künftig nicht mehr autonom einen progressiven wirtschaftlichen Kurs festlegen, um aus einer solchen Krise durch gezielte Investitionen „herauszuwachsen“. Denn die EU-Kommission hat dann die Möglichkeit, die Mitgliedstaaten auch in einer solchen Situation durch Sanktionen zu einem Sparkurs zu verpflichten und sogar (indirekt) Druck auf die Lohnpolitik  in den betroffenen Staaten auszuüben.

Der ÖGB, der DGB, der Europäische Gewerkschaftsbund und einige NGOs (z.B. Attac) haben deshalb massiv Kritik an diesen Plänen geübt  und die Kommission dazu aufgefordert, die fraglichen Vorhaben entsprechend abzuändern. Insbesondere fordern sie, dass die autonome Lohnpolitik auch in Zukunft gewährleistet wird. Aber auch die Möglichkeiten der MS, durch einen gezielten Wachstumskurs Defizite intelligent und nachhaltig zu bekämpfen, möchten die Gewerkschaften nicht durch einen dogmatischen verordneten Sparkurs (Austerity Governance) der Kommission in Gefahr bringen lassen.

Es ist deshalb dringend notwendig, dass auf breiter Front durch die Gewerkschaften und die Zivilgesellschaft  Aufklärung der Bevölkerung über die Bedeutung dieser Pläne für die wirtschaftliche Zukunft erfolgt und anschließend ein breiter Widerstand gegen diese Pläne organisiert wird (siehe bspw. www.oureurope.org), um die Umsetzung dieser Verordnungen zu verhindern.


Die Ursachen für Schuldenkrise Portugals und wie sie wirklich gelöst werden kann

2. Mai 2011

In den letzten Wochen ging die folgende Horrormeldung durch die Presse: Das portugiesische Statistikamt hat das Budgetdefizit des Landes für das Jahr 2010 nach oben korrigiert. Wie die Behörde mitteilte, betrug die Neuverschuldung im vergangenen Jahr 9,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) statt der bisher angenommenen 8,6 Prozent. Die gesamte Staatsschuld lag demnach bei 93 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, was fast 160,4 Milliarden Euro entspricht. Portugal verhandelt deshalb derzeit mit der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über ein Hilfspaket im Umfang von rund 80 Milliarden Euro. Im Gegenzug soll das Land bis Mitte Mai ein umfangreiches Sparpaket vorlegen.

Keine Frage, diese Zahlen sind sehr beunruhigend. Aber in allen Meldungen zur Schuldenkrise Portugals fehlt eine differenzierte Analyse dessen, wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte. Der Tenor der Kommentare beschränkt sich darauf, so wie im Falle von Griechenland, dem Land eine unverantwortliche Verschwendung bei den Ausgaben vorzuhalten, die sich das Land einfach nicht leisten könne. Deshalb wird als einziges Rezept gegen die hohen Schulden und das erschreckende Budgetdefizit ein rigoroses Sparpaket von den Europäisches Institutionen und dem IWF gefordert. In der öffentlichen Verwaltung, im Sozialsystem und bei den Löhnen soll der Gürtel enger geschnallt werden, damit Portugal seine Schulden und das Budgetdefizit reduzieren kann.

Hält dieses obligatorische Rezept der neoliberal geprägten Institutionen für die Länder Südeuropas aber einer detaillierten Analyse Stand, wenn man sich eingehender mit den Ursachen für das Budgetdefizit auseinandersetzt und außerdem den volkswirtschaftlichen Erfahrungsschatz im Umgang mit Krisen heranzieht? Wie wir im Folgenden zeigen werden, ist die Antwort eindeutig nein.

Sehen wir uns an, wie es in den südeuropäischen Ländern zu dem hohen Defizit gekommen ist. Dazu müssen wir zur Einführung der Europäischen Währungsunion zurückkehren. Seit 1999 besteht die EWU und seit 1. Jänner 2002 gibt es den Euro als einheitliche Währung in den beteiligten Ländern. Vor der Einführung einer gemeinsamen Währung konnte jedes Land, wenn es im Wettbewerb zurückblieb, weil es bei den Lohnstückkosten nicht mithalten konnte, durch eine Abwertung seiner Währung diesen Nachteil wieder ausgleichen. Mit Einführung des Euro besteht diese Möglichkeit nicht mehr, sodass sich vor allem Unterschiede bei Lohnentwicklung und Inflation sehr stark auf die Wettbewerbsfähigkeit und in weiterer Folge auf das Handelsbilanzsaldo der EWU-Mitglieder auswirken. Länder wie Deutschland, Österreich und die Niederlande konnten durch sehr moderate Lohnentwicklung bei gleichzeitig hoher Produktivitätssteigerung gegenüber den südeuropäischen Ländern Griechenland, Spanien, Portugal und Italien deutliche Wettbewerbsvorteile erringen, die sich positiv in der Handelsbilanz dieser Länder niederschlugen. Während die ersteren Staaten deutliche Überschüsse erzielen konnten, haben die letzteren seit vielen Jahren ein großes Minus zu verbuchen. Da diese Überschüsse in D, A und NL jedoch nur den Erfolgen im Export geschuldet sind, während die Inlandsnachfrage stagnierte, haben sich diese Erfolge nur in den Gewinnen, aber nicht in den Löhnen widergespiegelt. In GR, SP und P hingegen gab es eine hohe Inlandsnachfrage, die jedoch aufgrund der niedrigen Wettbewerbsfähigkeit der einheimischen Industrie die Importe aus dem Ausland anheizte. In Portugal beträgt daher das Leistungsbilanzsaldo seit Jahren gut -10% des BIP. Auf diese Weise kann kein Land ein ausgeglichenes Budget erzielen, selbst wenn die öffentlichen Ausgaben moderat gehalten werden.

2008 kam dann die Finanz- und Wirtschaftskrise hinzu, die zu einem starken Einbruch der weltweiten Nachfrage führte und alle Staaten mit niedrigeren Steuernahmen und höheren Ausgaben für Bankenrettung, staatliche Investitionen zur Konjukturbelebung  und für die soziale Absicherung der gestiegenen Arbeitslosigkeit zusätzlich belastete. Während Länder wie Deutschland und Österreich aufgrund der Wettbewerbsvorteile in der Folge relativ gut durch die Krise kamen, führten diese Entwicklungen wegen des noch deutlicheren Auseinanderklaffens zwischen Einnahmen und Ausgaben in den südeuropäischen Ländern zu einer wahren Explosion des Defizits. Selbst Spanien, das vor der Finanzkrise sogar Budgetüberschüsse erzielte (jedoch nicht wegen der hohen Wettbewerbsfähigkeit seiner Industrie, sondern aufgrund eines gigantischen Immobilienbooms), musste die rasante Zunahme der Verschuldung binnen kurzer Zeit feststellen.

Da diese Verschuldung in den südeuropäischen Staaten im Unterschied zu Japan, das sich seit vielen Jahren in einer hartnäckigen Deflation befindet, gegenüber dem Ausland besteht, geraten diese Staaten ins Visier der internationalen Kapitalgeber. Diese verlangen, dass diese Staaten hohe Zinsen auf ihre Staatsanleihen zahlen und tiefe Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben vornehmen, d.h. bei den Gehältern der Beamten und bei den Sozialausgaben sparen, um das Defizit zu reduzieren und somit das Vertrauen der Finanzmärkte wiederherzustellen. Die anderen Staaten der Europäischen Union dürfen dabei Schützenhilfe leisten, indem sie den Eurorettungsschirm mit garantierter Hilfeleistung in Milliardenhöhe spannen.

Was geschieht, wenn diese Forderungen der Finanzmarktlobby, der Europäischen Kommission und des Internationalen Währungsfonds erfüllt werden? Wird sich dadurch das Defizit von Staaten wie Portugal tatsächlich reduzieren? Werden die südeuropäischen Staaten durch diese solidarische Hilfsaktion der EU vor dem Ruin gerettet und der Euro als starke Währung gesichert? Nein, letzen Endes werden die Staatsschulden der betroffenen Länder noch höher werden, da die Sparmaßnahmen die innerstaatliche Nachfrage und den Konsum verringern, was sich negativ auf die Staatseinnahmen auswirkt. Damit wird eine weitere Welle eingeleitet werden, die dem „Patienten“ endgültig den Garaus machen könnte. Vom Rettungsplan profitieren hingegen die Finanzinvestoren, die bestens an den Risikoaufschlägen für die Staatsanleihen verdienen und in Wirklichkeit kein Risiko eingehen, da die anderen EU-Staaten mit ihren Geldern für den Rettungsschirm für die Rückzahlung der Schulden garantieren.

Welche Maßnahmen sollten ergriffen werden, damit Länder wie Portugal tatsächlich langfristig ihre Schulden reduzieren können? Nun, dafür sind mehrere Weichenstellungen in betroffenen Ländern und auf europäischer Ebene notwendig. Auf nationaler Ebene ist zunächst vorrangig, dass die Nachfrage stabil gehalten und dabei die Staatseinnahmen nach Möglichkeit erhöht werden können. Dies kann durch Steuererhöhungen, die nicht die breite Masse, sondern die bisher von Steuerprivilegien profitierende Bezieher von hohen Einkommen betreffen geschehen. Insbesondere sollten die südeuropäischen Länder der ausgeprägten Steuerhinterziehung und Schattenwirtschaft den Kampf ansagen. Um die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen zu gewährleisten, sollten die Lohnsteigerungen eine niedrig  gehaltene Inflation nur wenig überschreiten.

Auf europäischer Ebene ist eine wirtschaftspolitische Harmonisierung dringlich umzusetzen, damit nicht länger ausgeprägte Handelsungleichgewichte die Defizitländer in die Zwickmühle bringen. Dazu muss der europäische Stabilitätspakt von der alleinigen Fixierung auf die Bekämpfung der Inflation abrücken und jene Länder, die sich durch Lohnzurückhaltung Wettbewerbsvorteile verschaffen, genau so ächten wie die Defizitsünder. Anzustreben ist für die Eurozone auch ein Ausgleichsmechanismus für sich aufschaukelnde Leistungsbilanzunterschiede, damit diese nicht einzelne Staaten in die Schuldenfalle treiben. Diesem Zweck könnte auch eine auf europäischer Ebene eingeführte Finanztransaktionssteuer dienen.