Die unerträgliche Langeweile des Kompromisses

10. März 2025

Ausgewählte Kritikpunkte am Regierungsprogramm 2025-2029 von ÖVP, SPÖ und Neos

Die gute Nachricht ist, dass wir eine Regierung ohne Beteiligung und Kanzlerschaft der FPÖ haben. Bis es so weit war, hat es so lange wie noch nie gedauert. Die schlechte Nachricht ist, dass dies schließlich nur deshalb doch noch möglich wurde, weil alle Beteiligten Kompromisse eingingen, um sich auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen. Große Reformvorhaben waren auf dieser Basis nicht möglich.

Fehlende Steuergerechtigkeit

Für die Sozialdemokratie hat das zur Folge, dass das Regierungsprogramm keine wesentlichen Impulse für eine gerechtere Verteilung setzt. Es konnte mit Mühe eine erweiterte Bankenabgabe, ein Beitrag von Energiekonzernen aus ihren Übergewinnen sowie ein höherer Beitrag von Immobilienkonzernen bei der Grunderwerbssteuer durchgesetzt werden.

Die von der SPÖ im Wahlkampf geforderten Beiträge von den sehr Vermögenden, d.h. eine Vermögens- sowie eine Erbschaftssteuer kommen nicht. Insbesondere die Ablehnung einer Erbschaftssteuer durch die Koalitionspartner ist unverständlich, da diese kein leninistisches Enteignungsprogramm ist, sondern eine klassische Forderung des Liberalismus. Da die Erbschaftssteuer von den Erben zu bezahlen wäre, träfe sie also leistungsloses Einkommen, was daher seit jeher eine liberale Forderung ist. Außerdem wären die Freibeträge so hoch, dass die ererbte Wohnung oder das vermachte Einfamilienhaus nicht davon betroffen wäre. Auch bei Familienunternehmen wäre sichergestellt, dass im Erbfalle die Fortführung des Unternehmens nicht gefährdet wäre. Da sich jedoch die Koalitionspartner der SPÖ darauf versteifen, dass Vermögende auf keinen Fall einen gerechteren Beitrag zu unserem Steuersystem leisten, wird leider darauf verzichtet, von dieser Seite einen wertvollen Beitrag zur Budgetkonsolidierung zu erhalten.

Weil ein EU-Sanktionsverfahren unbedingt vermieden werden soll, muss also die breite Mehrheit der Bevölkerung den Großteil der Einsparungen von 6,4 Milliarden 2025 und 8,7 Milliarden 2026 stemmen. Die Banken sollen rund 500 Millionen, die Energiekonzerne rund 200 Mio., große Immobilientransaktionen bei der Grunderwerbssteuer ebenfalls rund 200 Mio. zu diesem Budgetpfad beitragen. Welchen Beitrag eine Widmungsabgabe und die Anhebung der Stiftungseingangssteuer und des Stiftungseingangssteueräquivalents auf 3,5 Prozent sowie der Zwischensteuer auf Stiftungen auf 27,5 Prozent leisten sollen, ist nicht genau budgetiert. Das Gleiche gilt auch für die Betrugsbekämpfung durch einen verbesserten Informationsaustausch, wo Steuerschlupflöcher durch eine Expert:innenkommission geschlossen werden sollen.

Obwohl mit dem AK-Wirtschaftsexperten Markus Marterbauer erfreulicherweise ein solider Keynesianer, der durch das Studium von Thomas Piketty auch stärker Umverteilungsmaßnahmen in den Blick genommen hat, im Finanzministerium sitzt, darf man keine großen Fortschritte bei der Steuergerechtigkeit erwarten. Die Koalitionspartner ÖVP und Neos werden diesbezüglich nichts zulassen. Wie das laufen wird, hat sein Vorstoß bei einer Sonderabgabe für Stromerzeuger gezeigt. Diese Pläne wurden sofort von den Koalitionspartnern abgewürgt.

Dass Wohnen leistbarer werden soll und gegen etwas gegen die Teuerung unternommen werden soll, ist natürlich zu begrüßen. Ob hier aber tatsächlich wirksame Instrumente zum Einsatz kommen werden, bleibt offen. Beispielsweise fehlt bisher bei der Mietpreisbremse eine notwendige Regulierung im freien Bereich, die allerdings 2028 kommen soll.

Auf Menschenrechte wird gepfiffen

Beim Thema Asyl ist das Regierungsprogramm durchgehend rechts geframt. Wer von irregulärer Migration spricht, der ist den Rechtsextremen auf dem Leim gegangen. Es fehlt nicht viel und man kann gleich von Remigration sprechen.

Daher ist es kein Wunder, dass die von der ÖVP geprägten Pläne menschenrechtlich mehr als bedenklich sind. So sollen z.B. die Asylanträge im Inland auf null reduziert werden, indem man sich auf eine Notfallklausel beruft. Auch der Familiennachzug soll mit sofortiger Wirkung vorübergehend gestoppt werden. Es ist mehr als fragwürdig, dass dies im Einklang mit Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) möglich ist.

Weiters sollen Rückkehrverfahrenszentren geschaffen werden. Ist hier der Unterschied tatsächlich so groß zur Beschilderung von Traiskirchen mit „Ausreisezentrum“, wie sie von Kickl im Jahre 2019 vorgenommen wurde? All diese Forderungen verstärken einen Diskurs, der Flüchtlinge nur mehr als Gefahr für Leib und Leben wahrnehmen lässt, die Problematik, die hinter Flucht steckt, aber kaum mehr erkennen lässt.

Einzig beim Thema Integration gibt es ein paar Lichtblicke, wie z.B. die bessere Integration in den Arbeitsmarkt. Ob allerdings die Bestrafung von Eltern, die angeblich zu wenig mit der Schule kooperieren, der richtige Weg ist, darf bezweifelt werden.

AK-Einschätzung

Zu allen anderen Kapiteln im Regierungsprogramm möchte ich an dieser Stelle nicht Stellung nehmen. Es sei nur erwähnt, dass bei der Bekämpfung des Klimawandels kein besonderer Ehrgeiz an den Tag gelegt wird. Einige Maßnahmen sind völlig unverständlich, z.B. die Abschaffung der Umsatzsteuerbefreiung für PV-Anlagen und die Einbeziehung von Elektrofahrzeugen in die motorbezogene Versicherungssteuer. Man kann sich über die weiteren Kapitel gut durch die Einschätzung der Arbeiterkammer informieren: https://wien.arbeiterkammer.at/service/presse/AK-Einschaetzung-Regierungsprogramm.pdf


Der ÖVP-Spin von der normalen Mitte ist selbst Extremismus

5. Juli 2023

In einem Standard-Kommentar am 3.Juli beschwört Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner eine „normal denkende Mehrheit der Mitte“, die von einem lauten Rand auf Twitter übertönt werde. Für diese normal denkende Mitte wolle sie Kante zeigen. Was das mit Leitfaden des Landes Niederösterreich, der festgelegt hat, dass „Genderstern“, „Gender-Gap“ oder „Genderdoppelpunkt“ keine Verwendung in der niederösterreichischen Landesverwaltung finden, zu tun hat, erschließt sich dem Leser des Kommentars nicht unmittelbar. Die wichtige Frage, die sich dazu stellt, lautet: Liegt, wer die normale Mitte beschwört, selbst mit seinem Diskurs in der Mitte? Die Antwort lautet: Nein, ganz und gar nicht. Diejenigen, die die eigenen Ansichten nicht teilen, zum abweichlerischen Rand zu erklären, macht einen selbst nicht zur Mitte, sondern lässt einen selbst in den Extremismus abdriften. Schauen wir uns das näher an.

Stocker

Der Generalsekretär der Volkspartei, Christian Stocker, demonstriert seine Verhaltensauffälligkeit neuerdings gerne in Aussendungen zum neuen SPÖ-Vorsitzenden Andreas Babler, Diesen nennt.er Stamokap-Marxist, weil Babler in seinen jungen Jahren in der Sozialistischen Jugend der Theorie des Staatssozialismus nahestand. Bablers Forderung nach Tempo 100 auf der Autobahn entspreche „ganz dem marxistischen Weltbild des Neo-SPÖ-Vorsitzenden“, so Stocker weiter. Wo im Werk von Karl Marx Aussagen zum Thema Tempolimit zu finden seien, bleibt uns Stocker jedoch schuldig. Inhaltlich brauche man sich mit den Vorschlägen Bablers nicht weiter auseinandersetzen, da sie mit ihrer ideologischen Einordnung hinreichend widerlegt scheinen. Im Büro des neuen SPÖ Vorsitzenden Andreas Babler standen laut ÖVP, die auf Zeitungsberichte aus dem Jahr 2022 verweist, eine Lenin- und eine Marx-Büste – somit ist für die ÖVP bewiesen, dass Babler ein Linksextremist ist. Mit Vorschlägen wie Vermögenssteuern, Tempolimit oder Arbeitszeitverkürzung muss man sich nicht weiter auseinandersetzen, das ist alles einfach Ausfluss von Marxismus-Leninismus. Wer so argumentiert, steht nicht in der Mitte, sondern weit rechts außen. Wer sich als die Normaldenkenden den anderen am Rand gegenüberstellt, ist gefährlich nahe am Framing des Nationalsozialismus, der dem gesunden deutschen Volkskörper die Parasiten gegenübergestellt hat. Kein Wunder, dass auch FPÖ-Obmann Herbert Kickl ebenfalls gerne die Normalen für sich beansprucht.

Sachslehner und Mahrer

Die Wiener ÖVP versucht Generalsekretär Stocker hinsichtlich des angeblichen Linksextremismus der SPÖ noch zu toppen. Sie lässt im Gemeinderat aufhorchen mit der Forderung eines Marxismus-Checks bei Förderungen durch die Stadt Wien. Federführend bei diesem Antrag ist die Abgeordnete Laura Sachslehner, die auf Twitter seit vielen Jahren beweist, dass sie vieles sein mag, aber gewiss nicht die gesellschaftliche Mitte. Als Generalsekretärin war sie schließlich selbst Bundeskanzler Karl Nehammer zu extrem, sodass sie von Stocker abgelöst wurde. Ebenfalls mit im Boot ist ÖVP Wien-Chef Karl Mahrer, der seit Monaten einen Feldzug gegen die SPÖ führt wegen dem Brunnenmarkt. Im Antrag der ÖVP wird verlangt, dass künftig alle Fördernehmer und Kooperationspartner darauf überprüft werden, ob womöglich eine marxistisch-leninistische bzw. eine kommunistische weltanschauliche Grundlage vorhanden und eine Verbreitung linksextremer Ideologie möglich ist. Auch an den Schulen solle die Aufklärung über die „gefährliche Ideologie des Marxismus“ verstärkt werden. Die Wiener ÖVP muss man mit Recht fragen, ob sie ebenso Checks auf Faschismus und Rechtsextremismus andenkt – oder nur linke Ideologien als Bedrohungen betrachtet, die abgewehrt werden müssen. Bei Fr. Sachslehner und Hr. Mahrer kann man leider davon ausgehen, dass ihnen nur Bedrohungen von linker Seite gewärtig sind.

Neumayer

Auch der Generalsekretär der Industriellenvereinigung, Christoph Neumayer, befindet in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Presse“, dass aktuell tendenziell die Ränder gestärkt und „die politische Mitte an Zuspruch verliert“. Während die SPÖ unter Babler linkspopulistisch unterwegs sei, verteidige die Industriellenvereinigung standhaft den Mittelstand. „Mittelstand“, was ist das? Ist das die Mitte? Mittelstand mag zwar so ähnlich klingen wie Mittelschicht, ist aber nicht damit gleichzusetzen. Denn eigentlich geht der Begriff Mittelstand auf das mittelständische Unternehmen zurück, das dadurch gekennzeichnet ist, dass es nicht mehr als 500 Beschäftigte und nicht mehr als 50 Mio. Euro Jahresumsatz hat. Im ÖVP-Umfeld sollte man ergänzend zu dieser Bedeutungsherkunft jedoch nicht auf das historische Faible für eine ständisch organisierte Gesellschaft vergessen. Immerhin hat der Austrofaschismus unter Dollfuß und Schuschnigg seine diktatorische Verfassung gerne hinter dem Begriff Ständestaat verborgen. Wenn die Industriellenvereinigung den Mittelstand verteidigt, zielt sie also eigentlich nicht auf die Mittelschicht ab – auch wenn sich diese mitgemeint wähnen soll, sondern auf einen Stand, der zwischen Elite und Pöbel stehend, objektiv zwar ökonomisch dem Pöbel nähersteht, aber die Privilegien der Elite verteidigt, weil er sich mit dieser ideologisch verbunden fühlt. Diesem nebulösen Konstrukt dient dann z.B. eine Kampagne wie jene zur sogenannten „Schnüffelsteuer“: Vermögenssteuern sind böse, weil sie einerseits den armen Häuslbauern in die Tasche greifen und andererseits für ihre Einhebung in der Schmucklade nach Wertgegenständen schnüffeln müssen. Die Daten aus der Ökonomie zur ungleichen Vermögensverteilung und die unrühmliche Platzierung Österreichs im OECD-Ranking bei der Vermögensbesteuerung haben da keinen Platz. Das Bild vom unverschämten Eindringen in die Privatsphäre soll negative Abwehrgefühle mit dem Thema Vermögenssteuer verbinden, um eine Ablehnung zu erreichen.

Eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung geht für die Industriellenvereinigung natürlich auch nicht – wo kommen wir denn hin, wenn jahrzehntelange Produktivitätszuwächse an die Arbeitnehmer:innen weitergegeben werden. Eine Reservearmee von Arbeitslosen ist für die Eigentümer von Unternehmen usnverzichtbar, um den Druck aufrecht zu erhalten, der die Arbeitnehmer:innen davon abhält, offensiv Forderungen nach besserer Bezahlung zu erheben. Argumentativ vorgeschoben wir ein Arbeitskräftemangel, der es unmöglich mache, dass der Einzelne weniger arbeite. Natürlich hat auch das alles nichts mit Mitte zu tun, sondern ist ein alter Abwehrreflex, der die Profite der Kapitalistenklasse gegen die Begehrlichkeiten der Beschäftigten absichern soll. Treffender als mittig wird ist diese Haltung mit reaktionär zu titulieren.


Was sind die Eckpunkte einer sozialdemokratischen Haltung bei den Themen Asyl, Flucht und Migration

21. Juni 2023

Asyl, Flucht und Migration sind keine Themen, wo ich mich fachlich sofort zu Hause fühle. Es ist kein Bereich, wo ich auf Anhieb davon ausgehe, dass ich über die nötige Expertise verfüge. Aber die schrecklichen Bilder aus dem Mittelmeer, als ein Fischkutter mit rund 750 Flüchtlingen vor dem Pelopones sank, haben mich dazu bewogen, ausgehend von meinem Wertekanon und den Prinzipien, die ich als zutiefst sozialdemokratisch ansehe, mich dennoch zu getrauen, einige Gedanken zu diesem Themenkomplex anzustellen. Diese Bilder, die wir zu sehen bekamen, möchte ich nicht mehr sehen müssen.

  1. Asyl ist ein Menschenrecht

Aus Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ergibt sich, dass Flüchtlinge das Recht haben, Asyl zu suchen und zu genießen. Im Speziellen hat die Genfer Flüchtlingskonvention dieses Recht festgeschrieben. Außerdem ist der Schutz vor Abschiebung in ein Land, wo man aus politischen oder religiösen Gründen verfolgt wird, ein Menschenrecht, das sich unter anderem in der Europäischen Menschenrechtskonvention wiederfindet. Jeder Staat muss somit Personen Schutz gewähren, denen in ihrem Herkunftsland Verfolgung droht. An diesem Grundsatz darf nicht gerüttelt werden – was bei ÖVP und FPÖ leider durchaus anzutreffen ist. ÖVP-Klubchef August Wöginger hat beispielsweise im November 2022 eine Debatte über die Überarbeitung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) losgetreten. Burgenlands ÖVP-Chef Christian Sagartz, der auch stellvertretender Vorsitzender im Menschenrechtsausschusses des Europäischen Parlaments ist, hat zusätzlich eine Überarbeitung der Genfer Flüchtlingskonvention gefordert. Und FPÖ-Chef Herbert Kickl hat schon im Jänner 2019 die Forderung aufgestellt, „das Recht müsse der Politik folgen“ – und damit dezidiert das Asylrecht im Rahmen der Menschenrechtskonvention gemeint. Solche Ansinnen sind aus sozialdemokratischer Sicht entschieden zurückzuweisen. Eine Abkehr von diesem Menschenrecht wäre ein Rückfall in die Barbarei. Man möchte sich nicht vorstellen, wie es weitergeht, wurde durch die Einschränkung des Asylrechts erst eine Lücke in das Bollwerk der Menschenrechte geschlagen.

2. Niemand flieht freiwillig

Gründe für eine Flucht können sehr unterschiedlich sein. Meist sind es Krieg und Gewalt, die Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Immer dabei ist die Angst um das eigene Leben, um das Leben und das Wohlergehen der Kinder, der Familie oder von Freunden. Nicht alle Fluchtgründe fallen unter die Genfer Flüchtlingskonvention. Wer aufgrund der Verfolgung wegen seiner Rasse, seiner Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung flüchtet, für den gilt das Asylrecht nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Dieses haben wir in Punkt 1 außer Frage gestellt. Aber auch wer wegen Krieg und Gewalt, Hunger oder Umweltzerstörung und den Folgen des Klimawandels flieht, hat einen guten Grund. Man darf nicht die Augen davor verschließen, dass auch Fluchtursachen, die nicht von der Genfer Flüchtlingskonvention abgedeckt sind, ihre Berechtigung haben. Es ist schon richtig, dass die Fluchtursachen in den Herkunftsländern bekämpft werden müssen. Das geht nicht von heute auf morgen – und ganz ehrlich, die Bemühungen der meisten Länder, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu beseitigen, sind mehr als überschaubar. Selbst, wenn sich das in absehbarer Zeit ändern sollte, haben aber jene nichts davon, die aufgrund unerträglicher Bedingungen schon den Weg der Flucht eingeschlagen haben, weil sie sich woanders bessere Lebensbedingungen erwarten.  Dorthin zu gehen, wo ein besseres Leben möglich ist, das sollte einem nicht verwehrt werden. Pushbacks durch die Frontex, das Ruanda-Modell, unüberwindliche Zäune an den Außengrenzen der EU, eine Küstenwache, die einem sinkenden Schiff nicht zu Hilfe eilt, sondern zur Küste eines anderen Landes abschleppen möchte – all das sind keine Vorgehensweisen, mit der eine Sozialdemokratie ihre Freude haben kann. Vielmehr ergibt sich aus diesem Grundsatz:

3. Legale Migration muss ermöglicht werden

Damit sind wir bei dem Punkt angelangt, wo sich auch die Sozialdemokratie schwer tut. Denn Migration ist durchaus etwas, was zu einer Belastung einer Gesellschaft werden kann. Das hat die Geschichte immer wieder gezeigt. Die Angst der Beschäftigten vor einer Verdrängung am Arbeitsmarkt ist nicht unbegründet. Arbeitgeber wittern selbstverständlich die Chance, durch Migrant:innen billigere Arbeitskräfte zu bekommen bzw. Druck bei den bestehenden Arbeitskräften aufzubauen, es künftig billiger zu geben. Die Sozialdemokratie darf darauf jedoch nicht mit einer restriktiven Haltung bei der Migration reagieren, sondern sie muss für rechtliche Rahmenbedingungen sorgen, die einen Verdrängungswettbewerb durch billigere Arbeitskräfte verunmöglichen.

Natürlich können auch kulturelle Unterschiede zum Problem werden. Aber nur dann, wenn die Integration nicht gelingt und Migrant:innen sich in der neuen Heimat nicht aufgenommen fühlen. Wenn Integration nicht gelingt und Migrant:innen mit dem Wertekanon des Aufnahmelandes nicht im Einklang sind, dann wird gern gesagt: Die Migrant:innen sind nicht gewillt, sich einzufügen und die sogenannten abendländisch-europäischen Werte anzunehmen. Da macht man es sich aber zu einfach. Zum Misslingen von Integration gehören zwei Seiten. Wer beispielsweise Asylwerber:innen über längere Zeiträume in Heimen absondert und den Einstieg in die Erwerbstätigkeit verweigert, darf sich nicht wundern, wenn die Integration nur schleppend vorankommt. Zu einer gelungenen Integration gehört also unbedingt eine Willkommenskultur. Denn nur der, der willkommen ist, kann sich für das Neue öffnen, das ihm in einer fremden Kultur abverlangt wird. Das Beispiel Traiskirchen unter Bürgermeister Andreas Babler zeigt, dass ein gelingendes Zusammenleben auch unter widrigsten Umständen möglich ist und das größte Erstaufnahmezentrum Österreichs keine „gmahde Wiesn“ für die FPÖ sein muss.

Die SPÖ ist also gut beraten, nicht zu versuchen, ÖVP und FPÖ bei diesem Thema rechts zu überholen. Dass man auch in der SPÖ von „irregulärer Migration“ spricht, mag zwar sachlich nicht falsch sein, folgt aber dem Framing der Rechten, die Migration als Bedrohung darstellen möchten, um die Angst in der Bevölkerung zu verstärken. Steigt man darauf ein, hat man auf dem diskursiven Feld mit einer humanen Haltung von Anfang an das Nachsehen. Natürlich ist es nicht wünschenswert, wenn, wie 2015, Flüchtlingsströme schwer kontrollierbare Ausmaße annehmen. Aufgabe der Politik ist es daher dafür zu sorgen, dass legale Wege der Migration geschaffen werden.


Quo vadis SPÖ?

15. Juni 2023

Ich habe hier vor ein paar Monaten einen Nachruf auf die SPÖ verfasst. Inzwischen hat sich viel geändert. Ausgelöst durch Andreas Babler fegt eine Basisbewegung durch die Partei und eröffnet die Chance einer Erneuerung, sodass die SPÖ von einer „Sitzung“ wieder zur Bewegung wird. Und entgegen den kühnsten Erwartungen ist Babler nach einem holprigen Prozess der Entscheidungsfindung zum neuen Vorsitzenden der SPÖ gewählt worden.

Was sind die nächsten Schritte, die die Partei auf dem Weg der Erneuerung setzen muss?

Demokratisierung und Mitbestimmung

Die SPÖ muss mit Demokratie und Mitbestimmung durchflutet werden. Die Mitglieder müssen die Möglichkeit haben, den/die Vorsitzende auf allen Ebenen zu wählen. Ebenso müssen die Mitglieder in wichtige Entscheidungen, z.B. eine Koalition, eingebunden werden. Der Trend des letzten Jahrzehntes, wo durch Statutenreformen der Weg zu weniger Mitbestimmung eingeschlagen wurde, muss radikal umgedreht werden. Eine Sozialdemokratie muss nicht nur für die Interessen der Mehrheit der Menschen da sein, sondern auch mit ihnen gemeinsam ihre Ziele umsetzen. Nur so kann sie wirklich Stärke entwickeln.

Ideologische Aufrüstung

In der SPÖ müssen Funktionäre und Funktionärinnen sattelfest sein, wenn sie mit Begriffen wie Marxismus und Kommunismus konfrontiert werden. In unserer Partei sollte souverän Einspruch erhoben werden können, wenn bürgerliche Medien undifferenziert Marx mit dem stalinistischen Terrorregime gleichsetzen. In der SPÖ sollte das Wissen vorhanden sein, dass der Begriff Kommunismus im „Kommunistischen Manifest“ nicht mit dem gleichzusetzen ist, was die Sowjetdiktatur daraus gemacht hat. Maßgebliche Denker:innen innerhalb der Sozialdemokratie, wie Otto Bauer und Rosa Luxemburg, haben gezeigt, dass man Sozialdemokratie marxistisch verstehen kann, ohne deshalb dem Bolschewismus unkritisch gegenüber stehen zu müssen.

Die SPÖ sollte auch ihre Haltung nach 1945 überdenken, dem Marxismus völlig abzuschwören und sich auf die Zähmung kapitalistischer Auswüchse zu beschränken. Es ist für eine Sozialdemokratie wichtig, bei der Betrachtung von Gesellschaft und Ökonomie die marxistische Brille aufzusetzen. Denn eine wahre Sozialdemokratie zeichnet aus, dass sie das Ziel der gesellschaftlichen Veränderung, der Aufhebung des Kapitalismus und der Überwindung des Gegensatzes zwischen Arbeit und Kapital im Auge behält. Denn nur dann können Reformen wirklich im Dienste der konkreten Verbesserung der Lebensbedingungen von 95 Prozent der Menschen stehen – was ja stets der Anspruch der Sozialdemokratie war und ist. Herausforderungen wir der Armut oder der Klimaerhitzung kann nur durch einen „system change“ begegnet werden.

Reformen und Revolution sind auch keine unüberwindbaren Gegensätze – wie es leider von vielen in der Bernsteindebatte der SPD gesehen wurde -, sondern erstere sollten in Hinblick auf Letzteres entwickelt werden. Wobei man beim Begriff der Revolution wohl weniger auf Lenin und Trotzki, sondern mehr auf den des Wissenschaftstheoretikers Thomas S. Kuhn (The Structure of Scientific Revolutions) zurückgreifen sollte.

Klare und mutige Kommunikation

Der SPÖ weht gerade viel Gegenwind entgegen. Aufgrund der fehlerhaften Bekanntgabe des Wahlergebnisses am Parteitag ergießt sich von allen Seiten Spott und Hohn über sie. Die bürgerlichen Parteien überhäufen aus Angst vor einer erstarkten SPÖ den neuen Vorsitzenden Andreas Babler mit ihren Schmutzkampagnen, für die wahrscheinlich schon während des Landtagswahlkampfes in NÖ Material gesammelt wurde. Auch innerparteilich ist noch nicht auf allen Ebenen Ruhe eingekehrt – es wird etwas Zeit brauchen, bis die Gräben, die sich über Jahre aufgetan haben, ganz zugeschüttet sind.

Vor allem die Medien im Privatbesitz kennen kein Halten, um gegen die SPÖ und ihren neuen Vorsitzenden ins Feld zu ziehen. Die Eigentümer:innen dieser Medien wollen ihr Vermögen vor gerechterer Besteuerung schützen und lassen deshalb ihre Redaktionen aufmarschieren. Das war zu erwarten. Die zuletzt präsentierten Daten der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB) zur Vermögenskonzentration in Österreich (HFCS) zeigen einmal mehr, dass Vermögen so ungleich verteilt ist, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet ist.

Vom Gegenwind darf sich die Partei nicht entmutigen lassen, auch wenn Umfragen in den nächsten Wochen wenig erfreulich ausfallen sollten. Mit mutiger, klarer und leidenschaftlicher Kommunikation sind die Menschen für die SPÖ zu gewinnen – das hat die Team Basis-Kampagne deutlich gezeigt. Wenn die Wähler:innen klar erkennen können, wofür die SPÖ steht, werden sie dieser auch wieder vermehrt ihre Stimme geben. Internationale politikwissenschaftliche Studien, z.B. jene der Universität Oxford (Trade-offs of social democratic party strategies in a pluralized issue space: a conjoint analysis), zeigen auch, dass die Sozialdemokratie keine Angst vor linken Positionen haben muss.


Hannes Androsch: Was jetzt zu tun ist

22. Januar 2021

Der ehemalige Finanzminister und Industrielle Hannes Androsch hat mit Unterstützung von Bernhard Ecker ein Buch zur Politik in der Corona-Krise verfasst: Was jetzt zu tun ist.* Das Buch soll Antworten auf die aktuellen Herausforderungen geben. Auf rund 140 Seiten nimmt er wichtige Themen in den Blick und er benennt die Versäumnisse der Regierung. Um es gleich vorneweg zu sagen, die Stärke des Buches liegt dort, wo Androsch die Fehler der Regierungspolitik scharf ins Visier nimmt – vorrangig im Umgang mit der Corona-Pandemie.

Schon in der Einleitung zählt er zahlreiche Fehler der Regierung auf: „Autoritäre Maßnahmen wie etwa die gesetzwidrige Schließung der Bundesgärten in Wien während des Shutdowns, die gerichtlich wieder aufgehobenen drakonischen Strafen für Spaziergänger oder der vehemente Wunsch von ÖVP-Politikern nach Handyüberwachung …“ (S. 8). Auch die Vorgänge in Ischgl sowie die Aushebelung des Rechtsanspruchs auf Entschädigung im Epidemiegesetz werden genannt. Insbesondere die durch bürokratische Mühlen nur langsam erfolgten Hilfen für die Unternehmen sowie das unsolidarische Verhalten auf europäischer Ebene sind Androsch ein Dorn im Auge.

Sozialdemokratie, Steuern und Schulden

Das Buch will aber nicht nur Kritik üben, sondern auch Antworten geben auf die brennenden Themen der Zeit: Bildung, Digitalisierung, Klima, Migration, EU und Weltordnung. An seiner Partei, der Sozialdemokratie bemängelt der ehemalige Spitzenpolitiker, dass sie keine Antworten auf die Fragen des 21. Jahrhunderts habe und die Nachwuchsarbeit vernachlässigt habe. Der 82-Jährige konstatiert, dass die Sozialdemokratie „zu einer bewahrenden und beharrenden strukturkonservativen Erscheinung geworden“ sei. „Sie ist keine Bewegung mehr, weil sie sich nicht bewegt und dadurch nichts bewegt.“ (S. 98) Darin liegt natürlich viel Wahres. Und dass eine Stimme aus der Vergangenheit, wie die seine, auch heute viel Gehör findet, ist kein gutes Zeichen. Wenn die österreichische Sozialdemokratie auf eine Stimme aus der Vergangenheit hören soll, dann ist es der Aufruf, der an sie beim Hainfelder Einigungsparteigang oder am Linzer Parteitag 1926 an sie ergeht.

Sind die Antworten des ehemaligen SPÖ-Finanzministers, der heute viel mehr in der Industriellenvereinigung zu Hause ist als in der Sozialdemokratie, tatsächlich auf der Höhe der Zeit – und mehr als nur abgenutzte Schlagworte? Er will die SPÖ auf ihre alten humanistischen Werte verpflichten: „Frieden, Freiheit, Toleranz, Rechtstaatlichkeit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte, der Marktwirtschaft und der sozialen Sicherheit“ (S. 100). Was hier sogleich auffällt, das ist, dass von den Grundwerten der SPÖ (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität) von Androsch an dieser Stelle nur die Freiheit genannt wird. 1890 oder 1926 hätte niemand auf die humanitären Werte verwiesen, sondern auf das große Ziel einer Gesellschaft jenseits der Ausbeutung.

Kann es sein, dass der Großindustrielle Androsch, der ein Vermögen von rund 290 Millionen besitzt, mit den einigen Grundwerten Probleme hat? Der SPÖ-Forderung nach einer Vermögenssteuer, von ihr Millionärssteuer genannt, kann er wenig abgewinnen. Bei seiner Argumentation gegen diese Pläne bedient er sich reichlich aus dem Fundus der Industriellenvereinigung. „Angesichts einer Rekordsteuerbelastung kann man mit neuen Abgaben, die das Wirtschaftswachstum behindern, nur negative Effekte auslösen. Vielmehr geht es darum, die so genannten Strömungsgrößen der Wirtschaft in Bewegung zu bringen und nicht bloß Bestandsgrößen umzuverteilen … Oder anders formuliert: Wer den Acker besteuert, schmälert die Grundlage des Wirtschaftens. Besser ist es, den Ertrag und damit den Nutzen zu besteuern“ (S. 138 f.), scheibt Androsch Seine Argumentation mag für das Zeitalter der industriellen Revolution zutreffend sein, im Zeitalter von Daten-, Plattform- und Überwachungskapitalismus, der mit einer ausgeprägten Refeudalisierung einhergeht, offenbart der Multimillionär damit nur seine ideologischen Scheuklappen beim Thema Umverteilung. Dass über viele Jahrzehnte eine ungeheure Ungleichheit beim Vermögen entstanden ist, ist für ihn kein Anlass, steuerliche Maßnahmen zur Korrektur in Angriff zu nehmen.

Für die Besteuerung der Profite aus der Digitalisierung schlägt Androsch vor, auf globaler Ebene die Daten zur Bemessungsgrundlage zu machen. „Der österreichische Versuch einer kosmetischen Digitalsteuer“ sei „eine Faschingsnummer und als Aktionismus zu bewerten“ (S. 57), bringe dies doch nur 25 Millionen Euro im Jahr. Der Vorschlag von Androsch sollte um die Ideen von Alfred Dallinger zur Einführung einer Wertschöpfungsabgabe ergänzt werden. Auch die von Androsch geschmähte Finanztransaktionssteuer darf angesichts der ausufernden Rolle des Finanzkapitalismus nicht abgetan werden.

Androsch zieht Keynes Hayek und Friedman vor, verteufelt also Schulden nicht. Aufgrund der Coronakrise seien diese ohnehin alternativlos. Androsch ruft die legendäre Aussage von Bruno Kreisky in Erinnerung: „Ein paar Milliarden mehr Schulden bereiten mir weniger schlaflose Nächte als Millionen Menschen ohne Halt und Perspektive.“ (S. 141) Um Österreich bei Digitalisierung, Bildung, Klimaschutz, öffentlicher Nahverkehr usw. voran zu bringen, so Androsch, lohne es sich also durchaus, Schulden aufzunehmen. An den ÖVP-dominierten Regierungen der letzten Jahre bemängelt er jedoch, dass diese die seit 2010 vorhandene Zinsersparnis von 62 Milliarden Euro irgendwo versickern ließ.

Bildung

Was fordert Androsch beim Zukunftsthema Bildung. Er erzählt uns zunächst ein wenig aus seiner eigenen Bildungsbiografie in der Nachkriegszeit, die trotz aller Widrigkeiten ihm den Aufstieg ermöglicht hat. Dann beklagt er, wie rückständig die digitale Ausstattung unserer Schulen ist. Dadurch könne die egalitäre Aufgabe, d.h. die Teilhabe und Chancengleichheit nicht erfüllt werden. Es ist dem Mitinitiator des Bildungsvolksbegehrens voll und ganz recht zu geben, dass in Österreich keine Chancengerechtigkeit besteht, sondern Bildung weiterhin vererbt wird. Das liegt aber nicht vorrangig an der mangelhaften Ausstattung. Selbstverständlich müssen die Schulen für das digitale Zeitalter gerüstet sein, d.h. mit Laptops, Tablets und schnellem Internet ausgestattet sein. Das theresianische Erbe im Schulwesen spielt schon eine größere Rolle bei den Versäumnissen in Österreich. Dieses werde besonders am unzeitgemäßen Föderalismus des Schulwesens deutlich. Ein zu geringer Anteil der Ausgaben „kommt auch tatsächlich in den Klassen an“ (S.39) und versickert in der Verwaltung.

Das größte Problem sei die zu frühe Trennung der Bildungswege. „Die Entscheidung, ein Kind mit zehn Jahren entweder ins Gymnasium oder in die Neue Mittelschule zu schicken, beeinflusst dessen späteren Entfaltungs- und Einkommenschancen gravierend“ (S. 36), schreibt Androsch. Diesem Urteil sowie seinem Eintreten für eine autonome, verschränkte Ganztagsschule kann man uneingeschränkt zustimmen. Ob jedoch eine echte Schulautonomie, d.h. die freie Personalauswahl der Direktionen, wie er sie fordert, ausschlaggebend für die Chancengerechtigkeit ist, ist zu diskutieren. Eine wesentlich größere Rolle spielt sicherlich der Umstand, dass die Eliten ihren Nachwuchs zunehmend in Privatschulen schicken, während die öffentlichen Schulen ihr Schicksal als Brennpunktschulen fristen dürfen. Eine gleiche Gesellschaft ist nur auf der Grundlage einer gut durchmischten Schule möglich. In dieser Schule profitieren alle Schüler voneinander.

Die Ergebnisse der PISA-Tests, die für Androsch der Maßstab zur Bewertung des Schulsystems sind, sollten jedenfalls nicht unser wichtigstes Kriterium bei der Beurteilung des Bildungssystems sein. Als Sozialdemokraten sollten wir uns daran orientieren, ob aus unserem Schulen mündige BürgerInnen hervorgehen, nicht daran, ob die Wirtschaft nach ihren Vorstellungen geformte Arbeitskräfte mit möglichst geringem Kostenaufwand erhält. Das Grundsatzprogramm der SPÖ von 2018 sagt: „Bildung ist der Schlüssel zur Welt. Sie ist Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben und ein Mittel zur Emanzipation. Sie macht uns zu kritikfähigen, freien und mündigen Menschen.“ (S.33) ** Die Sozialdemokratie selbst ist ja aus Bildungsvereinen hervorgegangen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, den Arbeiterinnen und Arbeitern das Bewusstsein ihrer historischen Aufgabe der gesellschaftlichen Emanzipation zu vermitteln. Davon ist heute leider wenig geblieben. Der Neoliberalismus hat erfolgreich solidarisches Streben nach gesellschaftlichem Ausgleich zerstört und dem Frönen eines egoistischen Individualismus zum Durchbruch verholfen.

Die Bildungsinitiative „Neustart Schule“ der Industriellenvereinigung ist mit ihrem Fokus auf Exzellenz für die Sozialdemokratie sicherlich nicht die erste Wahl für die Zielsetzung in der Bildung. Wo Androsch jedoch völlig richtig liegt, das ist die Bedeutung der Motivation der Lehrkräfte. „Am wichtigsten ist es, sicherzustellen, dass bei den Pädagogen neben Sachkunde auch Engagement und Begeisterungsfähigkeit vorhanden sind und erhalten bleiben.“ (S. 41)

Digitalisierung

Dem Miteigentümer des Leiterplattenherstellers AT&S liegt die Digitalisierung besonders am Herzen. Deshalb beklagt Androsch die mangelhafte Ausstattung mit Breitbandinternet und die Rückständigkeit Österreichs bei Automatisierung und Robotisierung. Dass letztere nur Jobkiller seien, bestreitet er. „Auf der anderen Seite entstehen viele neue, bessere und höher qualifizierte Jobs. Bei Kreativität und kritischer Reflexion oder Emotionen werden uns Roboter noch lange nicht das Wasser reichen“ (S. 51), schreibt er. Dass gerade bei den Unternehmen wenig Interesse an diesen Skills zu erkennen ist, darüber verliert Androsch allerdings kein Wort.

Seine Forderungen beschränken sich darauf, Österreich durch den Ausbau der digitalen Infrastruktur und der digitalen Bildung fit für den internationalen Wettbewerb zu machen. Darauf sollte sich die Sozialdemokratie aber nicht beschränken. Das Grundsatzprogramm der SPÖ bleibt beim Thema Digitalisierung recht vage in Bezug auf eine sozialdemokratische Zielsetzung. Es heißt dort: „Die neuen Möglichkeiten müssen die Teilhabe am gemeinschaftlich erwirtschafteten Wohlstand und am gesellschaftlichen Zusammenleben erhöhen.“ (S. 54) In der Praxis zeichnet sich nämlich das Gegenteil ab: Bei sehr wenigen landet der Profit aus den neuen Entwicklungen und statt mehr Teilhabe zeichnet sich einerseits ein Überwachungskapitalismus, andererseits ein autokratischer Überwachungsstaat (z.B. China, Russland, Ungarn) ab.

Aufgabe der Sozialdemokratie muss es sein, eine Vision zu entwickeln, wie durch die Digitalisierung eine gesellschaftliche Transformation unterstützt werden kann, die die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und den Kapitalismus hinter sich lässt. Ziel ist eine Gesellschaft, die alle Menschen aus den Mühen des Daseins erhebt, ihnen volle Entfaltungsmöglichkeiten gewährt, ohne dass die eigene Entfaltung jene der Anderen einschränkt.

Klima

Dass der Klimawandel Realität und menschengemacht ist, daran besteht für Androsch kein Zweifel. Man müsse bloß mit den Altausseer Fischern sprechen, damit seine Folgen handgreiflich werden. Daraus zieht er den Schluss: „Was wir beeinflussen können, müssen wir beeinflussen, und dazu gehört eine umfassende Dekarbonisierung.“ (S. 61) Es ist also anzunehmen, dass Androsch sein Vermögen nicht in OMV-Aktien angelegen wird. Obwohl das Klima nicht auf nationalstaatlicher Ebene gerettet werden kann, beklagt er, dass Österreich im Klimaschutz ins Hintertreffen geraten ist. „Österreich hinkt den vereinbarten Klimazielen weit hinterher … Im Verkehrssektor wurde es verabsäumt, rechtzeitig die Weichen zu stellen.“ (S. 63) Als Befürworter der Dekarbonisierung bedauert er, dass Österreich andere Energiequellen zu wenig genutzt habe. Androsch bekennt sich in unpopulärer Weise zur Atomkraft und zu Kraftwerksprojekten wie Hainburg und Dorfertal. „Weil es ohne Atomkraft und ohne forcierten Ausbau der Wasserkraft nicht möglich sein wird, die Energiewende weg von den durch den CO2-Ausstoß so gefährlichen fossilen Energieträgern zustande zu bringen.“ (S. 64) Das Nein zur Atomkraft sieht er als nicht rational an. Die knappe Ablehnung von Zwentendorf 1978 ist für ihn nicht gegen die Atomkraft, sondern gegen Kreisky gerichtet gewesen. Selbst die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima seien kein Beweis für die Gefährlichkeit der Atomkraft, sondern lediglich für ein Managementversagen. Mit dieser Einschätzung ist Androsch ist in Österreich nicht mehrheitsfähig.

Den Ausbau der Wasserkraft dort zu verweigern, wo die Voraussetzungen dafür günstig sind, sieht er als großen Fehler der Energiepolitik an. Hainburg und Dorfertal hätten gebaut werden müssen. Die Bedenken der Umweltschützer, wertvolle Ökosysteme zu zerstören, finden bei Androsch kein Gehör. Was den Treibhauseffekt fördert, ist böse. Alle anderen Energieformen sind für ihn gut. Damit zeigt der ehemalige Steuerberater Androsch wenig Gespür für ökologische Anliegen – abgesehen von der Bekämpfung der Erderwärmung.

Androsch befürwortet den Ausbau der Bahn, die Einführung des 1-2-3-Tickets, eine CO2-Steuer, höhere Treibstoffsteuern und eine Reform des Pendlerpauschales. Was ihm nie in den Sinn kommen würde, das ist die Überlegung, dass vom Kapitalismus nicht zu erwarten ist, dass er ausreichend gegen den Klimawandel vorgehen wird. Solange starke Profitinteressen an fossile Energieträger gebunden sind, werden der Transformation massive Widerstände entgegenstehen. Androschs gehört jener Generation der Sozialdemokratie an, die aus den Augen verloren hat, dass es eine gerechte (und ressourcenschonende) Gesellschaft nur jenseits der kapitalistischen Ordnung gaben kann.

Migration

Beim Thema Migration fordert Androsch, das „xenophobe Spiel“ von FPÖ und ÖVP zu beenden, sodass für eine kontrollierte Migration und einen humane Flüchtlingsaufnahme die Voraussetzungen geschaffen werden. Dass dem Rassismus entgegengetreten werden muss, den der Kapitalismus gezielt schürt, um die Klasse der Werktätigen zu spalten, da ist Androsch beizupflichten. Er erinnert mit Recht daran, dass nach dem zweiten Weltkrieg, nach dem Ungarn-Aufstand und dem Prager Frühling sowie während des Jugoslawienkrieges „die von vielen Populisten lächerlich gemachte österreichische Willkommenskultur … stets funktioniert“ (S. 80) hat.

Zur Begründung, warum Österreich Zuwanderung benötigt, bemüht Androsch die Demografie. „In Österreich stehen derzeit 4,1 Millionen Erwerbstätige bald 2,5 Millionen Pensionisten gegenüber.“ (S. 82) Ohne slowakische 24-Stunden-Pflegekräfte, rumänische Bauarbeiter, ukrainische Spargelstecher und bosnische Holschläger sei unser System nicht aufrechtzuerhalten. „Ohne Migranten hätten wir längst schon eine schrumpfende Ein-Kind-Gesellschaft wie China, Japan oder Russland.“ (S. 84) Der Industriekapitän Androsch denkt beim Thema Migration also vorwiegend an für die Wirtschaft nützliche Arbeitskräfte.

Das Recht aller Menschen, ihre unbefriedigende Situation in der Heimat hinter sich zu lassen und an einem anderen Ort das Glück zu suchen, wird von ihm leider nicht bemüht. Wer jedoch beim Thema Migration nur an die von der Wirtschaft benötigten Arbeitskräfte denkt, erweist dem Kampf gegen Rassismus keinen guten Dienst. Nur wer die Grenzen für alle öffnet, wird am Ende in den Herzen der Menschen die Furcht vor dem Anderen nehmen und die Spaltung der Klasse beenden.

Europa und die Weltordnung

Der Anhänger eines Beitritts Österreichs zur Europäischen Gemeinschaft macht sich Gedanken über ein Europa nach Merkel. Die EU-Skepsis der neuen ÖVP treibt ihm die Zornesröte ins Gesicht. Österreich gehöre zu den größten Nutznießern der EU. Dennoch stehe Kanzler Kurz Orban näher als Merkel und Österreich gesellt sich beim EU-Budget mit den Niederlanden, Schweden und Dänemark zu den „geizigen Vier“. Für Androsch ist die Erkenntnis aus der Corona-Pandemie: „Die vergangenen Monate haben noch stärker sichtbar gemacht, dass es ein Mehr an europäischer Zusammenarbeit braucht.“ (S. 110) Daher lautet seine Forderung an die Regierung: „Wir sollten deshalb Angela Merkel und ihren Nachfolger aktiv unterstützen, wenn es um die konstruktive Weiterentwicklung des Projekts Europa geht … Denn bei allen großen Fragen wie Klimawandel, Digitalisierung, demographische Veränderungen oder Migration braucht es gesamteuropäische Lösungen; Lähmung durch rivalisierende Splittergruppen mit Partikularinteressen muss vermieden werden.“ (S. 112f.)

Die aktuelle Welt(un)ordnung der Rivalität zwischen dem wirtschaftlich aufstrebenden China und den USA, die noch immer die Heimat der mächtigsten Konzerne sind, beunruhigt Androsch. „Die US-Administration hat China zum strategischen Hauptfeind erklärt. Trump brach eine Serie von Handelskriegen vom Zaun.“ (S. 118) Über Trump weiß Androsch wenig zu sagen, sehr viel hingegen über die Entwicklung Chinas. Die Auswirkungen der Corona-Krise auf China bereiten ihm Sorgen. „Laut offiziellen chinesischen Angaben haben rund zehn Prozent der 180 Millionen Wanderarbeiter in den großen Industriezentren wegen der Krise ihre Jobs verloren; tatsächlich dürfte es ein Drittel sein.“ (S. 120) Die Ausweitung des Staatssektors verschlinge „Unsummen an Krediten, die sich rasch als faul erweisen“ (Ebd.) würden. „Dazu kommen immer größere Bedenken, ob der mit digitalen Mitteln installierte Überwachungsstaat in China auf Dauer kompatibel mit westlichen Werten ist.“ (S. 121) Der Umgang mit den Protesten in Hongkong zeige, dass die Unternehmen zur „Geisel der Politik“ (Zitat Jörg Wuttke, Präsident der EU-Handelskammer in Peking) geworden seien. Projekte wie die „Neue Seidenstraße“ weckten mit Recht den Argwohn des Westens, dass China immer mehr Staaten in die eigene Einflusssphäre zwingen wolle.

Wie soll Europa mit dieser Situation umgehen? „Europa muss sich auf die eigenen Beine stellen und eine klare Position zwischen den USA und China finden“ (S. 126), befindet Androsch. Den Abkoppelungstendenzen sowohl der USA wie auch Chinas müsse entgegengewirkt werden. D.h. die transatlantische Achse sollte gepflegt werden. „Und es ist ratsam, gegenüber China Eigenständigkeit zu signalisieren und rote Linien deutlich zu markieren.“ (S. 127) Androsch findet., dass die EU z.B. klar Position beziehen muss, wenn der chinesische Ministerpräsident Xi gemeinsame Sache mit den Rechtspopulisten macht. Wettbewerbskommissarin Vestager habe dafür ein schönes Bild gefunden. „Wenn du einen Gast zum Abendessen einlädst und er lädt dich seinerseits nicht retour ein, dann hör auf, ihn einzuladen.“ (Siehe S. 127)

Aus einer sozialdemokratischen Perspektive muss das Ziel einer guten Weltordnung durch solidarisches Handeln erreicht werden. Das Grundsatzprogramm der SPÖ kommt zu dem Schluss, „dass wir die globale Ungleichheit nur durch Kooperation und Koordination über Nationalstaaten hinweg bekämpfen können“** (GP S. 12). Weder die USA noch China, sondern in der internationalen Solidarität liegt für die Sozialdemokratie die Zukunft Europas. Androsch geht es jedoch mehr um die Behauptung Europas in einem globalen Wettbewerb.

* Hannes Androsch, Was jetzt zu tun ist, Brandstätter, Wien 2020.

** Grundsatzprogramm der SPÖ, Krems 2018.


Gerhard Zeiler: Leidenschaftlich rot. Darum mehr Sozialdemokratie

13. Dezember 2019

Der Medienmanager Gerhard Zeiler hat ein Buch über die Sozialdemokratie geschrieben. Von manchen wird es als Bewerbungsschreiben für die Funktion des Parteivorsitzenden angesehen. Er bestreitet dies entschieden.

Die Familie und Sinowatz

Stark ist das Buch, wenn er von seiner Familie erzählt, z.B. dem Großvater, der als gelernter Drucker von Jugend an in der Gewerkschaftsbewegung aktiv war und Tränen in den Augen hatte, als Franz Jonas zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Oder wenn er von der Vaterfigur Fred Sinowatz erzählt. Über dessen Credo sagt er: „Er nahm sich selbst nie wichtig, stellte immer das Resultat in den Vordergrund.“ (S. 45) Zu Unrecht sei Sinowatz unterschätzt worden, weil er darauf hinwies, dass „die Welt, in der wir leben, vielschichtig und komplex ist“. (S.49) Seine Einschätzungen zu anderen Persönlichkeiten wie Franz Vranitzky, Gerhard Schröder, Angela Merkel oder Emanuel Macron muss man nicht zu hundert Prozent teilen.

Man gut verstehen, wenn er nach der Schilderung seiner Teilnahme an Protesten gegen den Vietnam-Krieg konstatiert: „Es gab allerdings kein Ereignis, das mich mehr politisierte als der Putsch vom 11. September 1973 gegen die Regierung Salvador Allendes in Chile.“ (S. 42)

Vom Neoliberalismus infiziert

Aber warum übernimmt er dann neoliberale Ansichten, wo er doch das Ereignis beklagt, wo der Neoliberalismus seine hässlichste Fratze gezeigt hat? Unter dem Titel „Neudefinition der Staatsaufgaben“ stellt er beispielsweise die Überlegung an: „Auch im Sozialbereich sollten wir- vorsichtig – den Grundsatz überdenken, dass alle Sozialleistungen für jede Bürgerin und jeden Bürger gleich sein müssen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass gewisse Sozialleistungen, wie etwa Familienbeihilfen, nur für wirklich Bedürftige vorgesehen sind.“ (S. 162f.) Diese Haltung ist nicht sozialdemokratisch, sondern konservativ und neoliberal. Letztere wollen Sozialleistungen nur für jene, die sonst verhungern oder auf der Straße landen würden. Beim sozialdemokratischen Zugang steht beim Sozialsystem im Vordergrund, dass jene, die nicht auf Sozialleistungen angewiesen sind, diese durch ihre angemessene Steuerleistung finanzieren. Dass der neoliberale Virus noch nicht die völlige Kontrolle übernommen hat, zeigt das Bekenntnis von Zeiler zu einem progressiven Steuersystem, das auch Erbschaften besteuert. Allerdings ist diese Haltung kein sozialdemokratisches Alleinstellungsmerkmal, sondern im klassischen Liberalismus ebenfalls selbstverständlich.

Macron statt Corbyn

Den Kopf muss man schütteln, wenn er Macron für sein „fortschrittliches sozial-liberales Konzept“ (S. 115) lobt und der Corbyn der traditionalistischen Auffassung des „Zurück zur reinen Lehre“ bezichtigt (Ebd.). Zurück hinter das Godesberger Programm der SPD ist ein Schritt in die Zukunft der Sozialdemokratie, da der dritte Weg gezeigt hat, wer dem Kapitalismus Zugeständnisse macht, führt die Sozialdemokratie in die Bedeutungslosigkeit.

Ein Programm für die SPÖ

Große Teile des Buches befassen sich damit, der SPÖ programmatische Ratschläge zu erteilen. Gleich zu Beginn empfiehlt er seiner politischen Heimat die Verortung als „Partei der linken Mitte“ (S. 12), die sich auf Jugend und Frauen fokussiert, sowie unter Führung von Rendi-Wagner eine Minderheitsregierung von Kurz akzeptieren solle – wenn  bloß ein Nettomindestlohn von 1.700 Euro und eine CO2-Abgabe mit sozialem Ausgleich ungesetzt wird (S. 15).

Dazu muss erstens gesagt werden, die Rede von der politischen Mitte eine psychologische Funktion erfüllt: Die Angst vor den Extremen nehmen. Eigentlich gibt es, mit Isolde Charim gesprochen, die politische Mitte nicht. „Sie wird von jenen hergestellt, die sich durchsetzen.“

Zweitens ist ihm beizupflichten, dass gerade bei den Frauen und der Jugend die Chancen der SPÖ liegen. Schade also, dass Rendi-Wagner erstere als Wähler leider nicht genügend überzeugt hat.

Drittens: Pro und Contra für eine Minderheitsregierung Kurz sind reine strategische Spiele, die die SPÖ in der schwierigen aktuellen Situation nicht weiterbringen.

An späterer Stelle formuliert er als Grundpfeiler einer sozialdemokratischen Politik: 1. Zum Frieden in der Welt beitragen. 2. Der zunehmenden Ungleichheit entgegentreten. 3. Den fortschreitenden Klimawandel bekämpfen. 4. Die Digitalisierung aktiv gestalten. 5. Bildung für alle zu einem zentralen politischen Thema machen. 6. Das Thema Sicherheit nicht den Rechtspopulisten überlassen. 7. Für einen starken und effizienten Staat eintreten. 8. Für ein starkes Europa eintreten. Hier kann man durchaus ein Stück des Weges mit ihm gehen. Aber ein klares Veto steht an, wenn er sagt: „Es geht um die Reform des kapitalistischen Systems, nicht um seine Überwindung.“ (S. 31) Die vielen Jahre als Manager im Medienbetrieb hat ihn vergessen lassen, was er in der Sozialistischen Jugend gelernt hat.

Migration

Zur Migration stellt er zehn Thesen auf, denen die SPÖ zu folgen habe. Diese sind großteils eine Gratwanderung zwischen Humanismus und Populismus, da er sich zum Recht auf Einwanderung bekennt, aber ohne Bedenken unter Berufung auf Sarah Wagenknecht konstatiert: „Wer die Gastfreundschaft verletzt, hat das Gastrecht verloren.“ (S. 126) Bejaht er somit auch eine Abschiebung von Straffälligen nach Afghanistan? Die Forderung nach einem Marshallplan für Afrika verdient jedoch die uneingeschränkte Zustimmung.

SPÖ neu

Im letzten Teil geht er explizit auf das politische Programm für eine neue SPÖ ein: 1. Die SPÖ ist die Schutzpartei der sozial Schwächeren, die Partei des sozialen Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit. Gleich der erste Teil ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Der Begriff „sozial Schwache“ ist erstens schlecht gewählt, weil die damit gemeinten nicht „sozial“ schwach sind, sondern aufgrund prekärer finanzieller Verhältnisse einer adäquaten gesellschaftlichen Teilhabe verlustig gehen. Selbstverständlich muss die Sozialdemokratie für die damit gemeinten da sein – denn sonst ist es niemand. Aber das eigentliche Ziel der Sozialdemokratie ist, dass Menschen nicht unter solchen Bedingungen leben müssen. Wenn er im Kampf gegen Armut einen gesetzlichen Mindestlohn fordert, wünscht man sich, er könnte sich mit seinem Großvater darüber austauschen, warum das Aufgabe von Gewerkschaft und Sozialpartnerschaft ist.

Verstanden hat Zeiler allerdings, warum die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht das Allheilmittel für ein Sozialsystem der Zukunft bereithält.

  1. Die SPÖ steht im Kampf gegen den Klimawandel … an vorderster Front. „Denn wenn die SPÖ sich nicht in die erste Reihe des Kampfes gegen den Klimawandel stellt, wird sie – völlig zu Recht – keine Option für die Jugend bei künftigen Wahlgängen mehr sein.“ (S. 150f.) In diesem Punkt ist im vollkommen zuzustimmen.
  2. Die SPÖ ist eine wirtschaftsfreundliche Partei („Weil man die Kuh, die man melken will, nicht schlachten soll.“) Geschickt greift Zeiler hier auf Anton Benya zurück, um zu kaschieren, dass seine Ansichten in diesem Punkt wie die eines WKÖ-Funktionärs klingen: für Arbeitszeitflexibilisierung, gegen Ladenschlusszeiten. Den Slogan „Menschen statt Konzerne“ erachtet der Manager eines internationalen Medienkonzerns als „falsche Polarisierung“ (S. 154), die keine Wählerstimmen bringt. Die SPÖ möge durchaus eine „wirtschaftsfreundliche“ Partei sein – aber gewiss darf sie dem Kapitalismus nicht freundlich gesinnt sein.
  3. Die SPÖ ist … die Partei der Bildungsreformen. Die gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen und die Ganztagsschule sind langjährige Forderungen der Sozialdemokratie. Die Forderung nach einem zweiten verpflichtenden Kindergartenjahr ist unter den PädagogInnen weit verbreitet, aber kein „sine qua non“ sozialdemokratischer Bildungspolitik.
  4. Die SPÖ steht für Sicherheit und den Kampf gegen Kriminalität. Da von rechter Seite die Angst vor Kriminalität erfolgreich instrumentalisiert wird, sieht sich Zeiler genötigt, zu behaupten: „Zum Begriff Sicherheit muss sich die Sozialdemokratie ohne Wenn und Aber bekennen.“ (S. 157) Hier gibt das Sprichwort zu bedenken: „Warum zum Schmiedl gehen, wenn man den Schmied haben kann?“
  5. Es ist eine Neudefinition der Staatsaufgaben und auch der Staatsaufgaben erforderlich. Zu diesem Punkt wurde schon an früherer Stelle angemerkt, dass sich hier ein deutlicher Ausfluss von neoliberaler Ideologie bemerkbar macht. Der Staat ist für die Sozialdemokratie eben nicht auf die Schutz- und Kontrollfunktion zu reduzieren. Kurz blitzt bei Zeiler auch ein Keynesianisches Momentum auf, wenn er den „Investitionsauftrag“ (S. 161) des Staates einmahnt.

Schlussfolgerung

Kurz vor dem Ende fordert Zeiler: „Die SPÖ muss wieder Selbstbewusstsein ausstrahlen und mit einer Portion Optimismus die Zukunft gestalten wollen. Will sie Wahlen gewinnen, muss sie die Debatte über die Zukunft führen.“ (S. 164) Leider muss man aufgrund seiner Ausführungen in diesem Buch zu dem Schluss kommen: Er wäre wohl nicht der Richtige an der Spitze, da er in erster Linie das wiederholt, was wir schon so oft von den Vertretern des dritten Weges gehört haben.

 

Zeiler_BuchGerhard Zeiler

Leidenschaftlich rot. Darum mehr Sozialdemokratie

167 Seiten. EUR 22,–

Brandstätter. Wien 2019.


Kritik am Fiskalpakt ist keine Revolte gegen Faymann

15. Mai 2012

In den letzten Wochen hat sich in der SPÖ ein zunehmender Widerstand gegen den Fiskalpakt entwickelt. Nachdem an der Basis von Junger Generation und Gewerkschaft schon seit Längerem Unzufriedenheit wegen der Zustimmung der Parteispitze herrschte, kam es am Wiener Landesparteitag am 28. April zu einer intensiven Debatte über den Fiskalpakt, die dazu führte, dass ein Antrag zur Ablehnung des Fiskalpaktes der Jungen Generation zwar keine Mehrheit, aber dennoch beachtlichen Zuspruch fand. Der Wahlsieg von François Hollande führte dann endgültig auch bei einigen Nationalratsgeordneten zum Umdenken. Vom Klubchef der ÖVP, Karlheinz Kopf, wurde diese Entwicklung in einem Standard-Interview vom 12. Mai hämisch als Revolte gegen den Bundesparteiobmann Werner Faymann dargestellt, da Faymann als Vertreter Österreichs dem Fiskalpakt im Europäischen Rat der Regierungschefs zugestimmt hatte. Das ist eine böswillige Verdrehung der Tatsachen durch den politischen Gegner, die leider auch innerhalb der SPÖ einige Sympathisanten findet.

Der Fiskalpakt wird von vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Attac sowie von Gewerkschaftern und von der Arbeiterkammer jedoch nicht bekämpft, um dem Bundeskanzler zu opponieren, sondern weil er ökonomisch unsinnig und demokratiepolitisch höchst bedenklich ist. Mit der Einrichtung einer dauerhaften Schuldenbremse und automatischen Korrekturmechanismen bei Überschreitung der Defizitkriterien würde der Fiskalpakt neoliberale Spielregeln manifestieren, die zu weniger Wachstum und in der Folge längerfristig sogar zu höheren Schulden führen. Außerdem ist der Fiskalpakt demokratiepolitisch desaströs, da er am europäischen Gemeinschaftsrecht vorbei die nationalen Parlamente in Budgetfragen entmachtet und die Europäische Kommission faktisch zum Gesetzgeber in der Wirtschaftspolitik macht.

Dass sich also in der SPÖ Widerstand gegen diese autoritäre Entwicklung der Europäischen Institutionen im Interesse der neoliberalen Elite regt, ist ein Zeichen dafür, dass es in der SPÖ noch Kräfte gibt, die ihre Verantwortung für die Interessen der Mehrheit der Menschen in Österreich ernst nehmen und sich nicht kampflos dem Lobbyismus der neoliberalen Elite geschlagen geben. Deshalb darf diese Initiative im Dienste einer wachstumsfördernden Wirtschaftspolitik und für ein demokratischer gestaltetes Europa nicht als Revolte gegen einen Spitzenpolitiker verkannt werden. Sie sollte vielmehr als das gesehen werden, was sie ist: ein Angebot an die Führung der SPÖ, gemeinsam den Weg in ein gerechteres, solidarischeres und demokratischeres Europa einzuschlagen, indem dem neoliberalen Spardogma sozialdemokratische Konzepte für mehr Wachstum und Beschäftigung entgegengesetzt werden.


Die unerträgliche Langeweile der Politik: Maria Fekters erste Budgetrede

21. Oktober 2011

Finanzministerin Maria Fekter hat am 17. Oktober 2011 im Parlament ihre erste Budgetrede gehalten. 92 Minuten lang las die Finanzministerin äußerst holprig und immer wieder fehlerhaft den langatmigen Text ihrer Rede ab. Eines der wenigen Bonmots war die abgelutschte Rede vom: „Budget als in Zahlen gegossener Politik“. Den Koalitionspartner SPÖ wusste sie gekonnt mit der Ankündigung der Wiedereinführung von Studiengebühren vor den Kopf zu stoßen.

Inhaltlich waren ihre Ausführungen jedoch wenig spektakulär. Wie zu erwarten war, ist das geplante Budget von einer schrittweisen Reduktion des Budgetdefizits geprägt. 2012 soll die Neuverschuldung bundesweit 3,2 % betragen. Bis 2015 soll das Defizit auf 2% gedrückt werden. Die Gemeinden sollen dabei ab sofort überhaupt ausgeglichen budgetieren. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass der Konjunkturmotor nicht noch stärker ins Stottern gerät und keine unvorhergesehenen Ausgaben für eine neue Bankenrettung notwendig werden.

Die Ausgaben der einzelnen Ressorts werden im veranschlagten Budget mit Ausnahme des Lebensministeriums (das sogar weniger Geld erhält) nur leicht erhöht, sodass mit den zu erwarteten höheren Steuereinnahmen sich eine niedrigere Schuldenquote als in den letzten Jahren ergibt. Den Universitäten hat Fekter eine Unimilliarde zugesagt – allerdings nur in Schilling! Die Ausgaben für die Forschung werden weiter erhöht, von 2 % des BIP ist Österreich aber nach wie vor deutlich entfernt. Als größten Posten hat die Finanzministerien die Ausgaben für die Pensionen besonders hervorgehoben und deshalb die Notwendigkeit einer Reform, die zu einer deutlichen Erhöhung des realen Antrittsalters führt, betont. Details zu einer solchen Reformierung waren der Rede aber noch nicht zu entnehmen. Es ist jedoch zu befürchten, dass 2013 von der ÖVP ein neuer Angriff auf die unser Pensionssystem erfolgen wird. Die Gewerkschaft sollte also schon jetzt gewarnt sein, dass mit Verweis auf die höhere Lebenserwartung und das niedrige reale Pensionsantrittsalter weitere Kürzungen zu erwarten sind.

Von den anderen Ressorts gibt es hingegen nichts Berichtenswertes zu erzählen, da hier das business as usual fortgeführt wird.

Weder auf der Einnahmen- noch auf der Ausgabenseite hat Fekter also für 2012 Reformen angekündigt. Weder soll durch eine Verwaltungsreform, die diesen Namen verdient  in stärkerem Ausmaße Ausgaben eingespart werden, noch hat sie neue Einnahmequellen auf steuerlicher Seite angekündigt, um Spielräume zur Budgetreduktion und für dringend notwendige Ausgaben im Sozial- und Gesundheitsbereich zu schaffen.

Allerdings hat sie in bewährter Manier die hohe Abgabenquote und das Leid des Mittelstandes unter der Steuerlast beklagt, da 38 % der Bevölkerung (jene die zwischen 25.000 und 100.000 Euro im Jahr verdienen) 75 % der Einkommensteuerzahlung schulterten – während 2,6 Millionen gar keine Einkommensteuer zahlten.

Wie üblich hat Fekter dabei erstens die Mittelschicht (das wäre die korrekte Bezeichnung) in der Einkommensverteilung völlig asymmetrisch angesetzt, da der von ihr angesprochene Einkommensbereich deutlich nach rechts verschoben ist und daher nicht in der Mitte liegt.  Zweitens werden durch diese Gegenüberstellung die Sozialversicherungsleistung und die Verbrauchssteuern außer Acht gelassen, die überwiegend von den unteren und mittleren Einkommen geleistet werden und eine ganz wesentlichen Beitrag der ArbeitnehmerInnen zur Finanzierung der öffentlichen Ausgaben darstellen.

Somit ist Ministerin Fekter zwar darin recht zu geben, dass unser Steuersystem Reformbedarf hat. Aber diese Reform sollte den Faktor Arbeit insofern entlasten, als den unteren und mittleren Einkommen mehr netto bleibt, den Spitzenverdienern ein höherer Beitrag abverlangt wird und von den Vermögen eine solidarische Leistung zur Erhaltung unserer Systems einer fairen und gerechten Lasten- und Leistungsverteilung gefordert wird. Denn davon profitieren wir alle, da damit ein Wohlstand auf breiter Basis sichergestellt wird, der ein solides und nachhaltiges Wachstum möglich macht. Wessen wir jedoch nicht bedürfen, das ist eine weitere Entlastung der Spitzenverdiener und Vermögenden, da dies nur die Schere zwischen Arm und Reich weiter vergrößert und die gesamtwirtschaftliche Entwicklung hemmt sowie den sozialen Zusammenhalt gefährdet.


Fekters neuerste Pläne zur Entlastung der Vermögenden

15. September 2011

Maria FekterFinanzministerin Maria Fekter hat mit ihrem neuesten Plan für eine Steuerreform aufhorchen lassen. Die obersten Einkommen sollen entlastet werden, indem die Grenze, ab dem der Höchststeuersatz von 50% fällig wird, von derzeit 60.000 Euro hinaufgesetzt wird. Konkrete Zahlen für die neue Grenze hat sie nicht genannt. Jedoch soll, wie so oft bei der ÖVP, dadurch der Mittelstand entlastet werden.

Staatssekretät Andreas Schieder (SPÖ) hat mit Recht darauf hingewiesen, dass von einer solchen Maßnahme lediglich 3% der Einkommen profitieren würden, nämlich jene die mehr als 5700 Euro brutto im Monat verdienen. Von Entlastung des Mittelstands kann also keine Rede sein. Vielmehr würde eine solche Maßnahme nur den Spitzenverdienern zu gute kommen, die ohnehin von der Begünstigung der Sonderzahlungen (durch die die Höchsteinkommen höchstens 43% Einkommensteuer zahlen) und von der Höchstbemessungsgrundlage in der Sozialversicherung profitieren. Sieht man sich nämlich die Gesamtabgabenbelastung in Österreich an (Einkommensteuer, Sozialversichrung, Verbrauchssteuern), dann ergibt sich eine sehr flache Steigerung, d.h. wir haben ohnehin ein Art Flex Tax, sodass das Stöhnen der Spitzenverdiener in Österreich unbegründet ist. Unerfeulich hoch belastet ist jedoch der wahre Mittelstand, da mit hohem Eingangssteuersatz und proportionalem Sozialversicherungsbeitrag die Gesamtbelastung schon bei einem relativ geringen Einkommen die 40% Grenze überschreitet.

Einmal mehr zeigt sich also, dass die Volkspartei sich in „Lobbyingorganisation zur Förderung der Interessen der Reichen und Spitzenverdiener“ umbennen sollte. Dann hat es ein Ende mit dem unverschämten  Einspannen des Mittelstand für die Interessen der Vermögenden, das diese Partei ununterbrochen zur Schau stellt, wenn sie die Interessen der Vermögenden und Spitzenverdiener vertritt.


Die aktuelle Steuerdiskussion in Österreich

12. Juli 2011

Seit vielen Wochen kommt praktisch kein Pressetermin mit einem Spitzenpolitiker daran vorbei, das Thema Steuerreform anzuschneiden. Begonnen hat dieser Reigen mit der Antrittsrede des Vizekanzlers und neuen ÖVP-Obmannes Spindelegger, der in dieser Rede vorsichtig eine Steuerreform für 2013 mit Erleichterungen für  die Familien und die Leistungsträger in Aussicht stellt. Danach folgte die neue Finanzministerin Fekter mit einigen genaueren Angaben, wie sich die ÖVP eine Steuerreform für 2013 vorstellt. Dann folgen AK-Präsident Tumpel, Bundespräsident Fischer und Bundeskanzler Feymann jeweils in der Pressestunde; zuletzt meldet sich die Landeshauptfrau von Salzburg, Burgstaller, mit ihren Plänen zur Umwidmungssteuer zu Wort. Was ist von den diversen Vorschlägen dieser SpitzenpolitikerInnen zur Reformierung des Steuersystems zu halten?

Beginnen wir mit der Finanzministerin Fekter.

Sie kündigt im Mai Entlastungen für den Mittelstand an und bekräftigt die ÖVP-Ablehnung der von SPÖ und Gewerkschaft geforderten Vermögensbesteuerung. Der Mittelstand sei nämlich dreifach belastet – durch die Progression, durch verhältnismäßig geringe Transferleistungen und durch Wertpapier-, Sparbuch- und andere vermögensbezogene Steuern. Dazu Fekter im Wortlaut: „Dieses System ist nicht gerecht.“ Einer von der SPÖ favorisierten Vermögenssteuer, die auf die Substanz abzielt, erteilt Fekter eine Absage, weil dafür die Finanz „herumschnüffeln“ und erheben müsste, wer was besitzt. Den Mittelstand „hat man schon ausgepresst wie eine Zitrone. Und wenn jetzt auch noch eine Vermögenssteuer käme, würde man von der ausgepressten Zitrone auch noch die Schale herunterschaben.“ Deshalb erteilt Fekter allen Wünschen, Steuern zu erhöhen, oder neue Steuern zu erfinden, eine Absage.

Dass Fekter eine Entlastung des Mittelstandes fordert, ist löblich. Besser wäre es, wenn sie eine Entlastung des Faktors Arbeit forderte. Aber schon im Nachsatz wird schnell klar, dass es ihr damit ohnehin nicht ernst ist. Mit der Progression spricht Fekter zwar ein Problem an, dass durch den hohen Eingangssteuersatz in Österreich tatsächlich den Mittelstand trifft. Es ist jedoch zu vermuten, dass sie mit den Betroffenen der Progression jene Minderheit meint, die mit Teilen ihres Einkommens in den Spitzensteuersatz von 50% fällt. Wenn Fekter jedoch die Verknüpfung von Mittelstand mit geringen Transferleistungen und Vermögenssteuer herstellt, so kann dies nur als haarsträubend empfunden werden und schlägt dem Fass den Boden aus. Erstens hat die WIFO-Studie von 2009 zur „Umverteilung durch den Staat in Österreich“ gezeigt, dass die Angehörigen des Mittelstands sehr wohl von den Transferleistungen profitieren. Zweitens wäre von einer Vermögenssteuer nach dem Modell von SPÖ und Gewerkschaft nicht der Mittelstand betroffen, sondern die obersten 5-10% der Einkommen. Bei dieser Gruppe von „ausgepressten Zitronen“ zu sprechen, denen man auch noch die „Schale abschaben“ möchte, ist pure Rhetorik. Denn diese Gruppe verfügt über ein durchschnittliches jährliches Einkommen von mehr als 55.000 Euro, ein Geldvermögen jenseits der 250.000 Euro, ein durchschnittliches Immobilienvermögen von mehr als  300.000 Euro, Unternehmensbeteiligungen im Wert  von durchschnittlich mehr als 250.000 Euro.

Am 19. Juni wurde AK-Präsident  Herbert Tumpel in der Pressestunde zu seinen Vorstellungen von Steuergerechtigkeit befragt.

Seine zentralen Forderungen sind die Vermögensbesteuerung für die „obersten zehn Prozent“ und der Kampf gegen Steuerhinterziehung – um die steuerliche Belastung der Arbeit reduzieren zu können.  „In Bälde“ will Tumpel gemeinsam mit ÖGB-Präsident Erich Foglar dazu  ein Steuerkonzept vorlegen.

Der AK-Präsident nannte zu dem Thema auch einige Zahlen: Bei der Vermögensbesteuerung kann er sich eine Freigrenze von einer Mio. Euro vorstellen – wobei es ihm um Finanzvermögen und Grundstücke geht und nicht um „Schnüffeln, ob jemand einen Pelzmantel hat“. Wie viel man damit einnehmen könnte, bezifferte er jedoch nicht genau; er erwartet aber ein „beträchtliches Aufkommen“ durch Vermögenssteuer und das Schließen von Steuerlücken etwa bei Stiftungen. Die Finanztransaktionssteuer – auf deren Einführung er ebenfalls drängte – könnte 1,8 Mrd. bringen und durch den Kampf gegen Steuerhinterziehung könnte man „mindestens zwei Mrd.“ aufbringen, schätzte der AK-Präsident.

Auf die Vorbehalte der ÖVP angesprochen, meinte Tumpel weiter, die Vermögenssteuer solle nicht den Mittelstand treffen. Ihm gehe es um jene zehn Prozent an der Spitze, die 60 Prozent des Finanzvolumens und 85 Prozent des Grundvermögens halten. Das sei „nicht der Mittelstand“, sondern „weit davon entfernt“. Diese obersten zehn Prozent würden 40 Prozent der Abgabenbelastung tragen, die untersten zehn Prozent 37 Prozent – „das ist nicht gerecht“. Tumpel hält nämlich die „Frage der sozialen Gerechtigkeit“ für ein „ganz wichtiges Thema“ – auch im Hinblick auf die Politik der SPÖ und die guten Umfragewerte der FPÖ. Er rät deshalb der Sozialdemokratie und der Regierungsmannschaft zu einer Politik, bei der die ArbeitnehmerInnen erkennen können, „dass sie zu ihrem Wohl ist“.

Herbert Tumpel wiederholt  also die berechtigten Forderungen von Gewerkschaft und Arbeiterkammer, das österreichische Steuersystem durch höhere Vermögenssteuern und Entlastung des Faktors Arbeit gerechter zu machen. In der Bekämpfung der Steuerhinterziehung und in der Einführung der Finanztransaktionssteuer sieht er ebenfalls gute Möglichkeiten, um eine sozial gerechte Erhöhung der Staatseinnahmen zu erreichen.

Aufgrund des massiven medialen Feldzugs von ÖVP und Industriellenvereinigung gegen die Vermögenssteuer muss er sich gegen den absurden Vorwurf zur Wehr setzen, damit werde der Mittelstand belastet. Tumpel stellt daher klar, dass lediglich die obersten zehn Prozent betroffen wären. Und bei diesen kann man mit Recht nicht vom Mittelstand sprechen. Es ist nur schade, dass Tumpel kein einprägsames Bild von den finanziellen Verhältnissen dieser Oberschichtgruppe zeichnet, sondern nur abstrakt die Abgabenbelastung der obersten und der untersten 10% gegenüberstellt.

Seinem Rat an die SPÖ, die Frage nach sozialer Gerechtigkeit zum Thema zu machen und mit einer klaren Politik im Interesse der ArbeitnehmerInnen gegen die FPÖ aufzutreten, kann nur voll und ganz beigepflichtet werden.

Am 26. Juni hatte dann Bundeskanzler Werner Faymann die Gelegenheit, in der Pressestunde seine Vorstellungen von Steuergerechtigkeit darzustellen und den Kritikern der Hilfe für Griechenland zu antworten.

Der Bundeskanzler hält 2013 für einen guten Zeitpunkt für eine Steuerreform. Bis dahin müsse man sich um das Wirtschaftswachstum kümmern, um dafür einen Spielraum zu haben. Im Rahmen einer Steuerreform sei es jedoch notwendig, über soziale Gerechtigkeit nachzudenken.

Mit seiner hervorragenden Wettbewerbsfähigkeit bei starker Kaufkraft und sozialem Ausgleich sei Österreich zwar eine „Modellregion in Europa“,  sagte Bundeskanzler Werner Faymann, aber dennoch dürfe man sich nicht zurücklehnen. „Wir müssen uns mehr für soziale Gerechtigkeit stark machen, sonst geht der Punkt, der Österreich zu einer Modellregion macht, verloren“, so Faymann mahnend. Er sei daher ein „überzeugter, aber nicht unkritischer Europäer“. Wesentliche Fragen der Zukunft würden nicht im eigenen Land, sondern gemeinsam in Europa entschieden, daher sei es wichtig, sich auf europäischer Ebene für und gegen etwas zu engagieren.

Zur Frage der Staatsverschuldung sagte der Bundeskanzler: „Wenn Schulden, auch die zukünftigen, so aufgebaut sind, dass man in Bildung, Infrastruktur und Forschung investiert, dann ist das zukunftsorientiert“. Wenn man allerdings Schulden mache, weil etwa Doppelgleisigkeiten in der Bürokratie nicht abgeschafft würden, dann bereite ihm das Sorgen. „Unser Land ist nicht nur neutral, sondern auch unabhängig. Wir müssen diese Unabhängigkeit erhalten, indem wir unsere starke wirtschaftliche Position und unser Triple-A-Rating halten“, warnt der Bundeskanzler eindringlich.

Eine kommende Steuerreform müsse durch Wirtschaftswachstum finanziert werden, führt Faymann weiter aus. Angesichts der aktuellen guten Daten für Konjunktur und Arbeitsmarkt gehe er davon aus, dass „wir das verdienen“. 2013 wäre ein guter Zeitpunkt für eine Steuerreform, bis dahin müsse man sich um das Wirtschaftswachstum kümmern. Im

Rahmen einer Steuerreform sei es notwendig, über soziale Gerechtigkeit zu reden. „Wir müssen darüber reden, wie gerecht es zugeht, wen wir entlasten wollen, nämlich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und wie man mit vermögensbezogenen Maßnahmen auch die richtigen trifft, nämlich die reichsten fünf Prozent der Bevölkerung“, sagt Feymann in Richtung Koalitionspartner.

Der Bundeskanzler bemerkt abschließend, dass er sich als jemand verstehe, der sich ganz besonders der Frage der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet fühle. „Ich finde keine schönere Vision, als die, dass jedes Kind durch eine gute Schule die gleichen Chancen hat, ganz gleich wo es geboren worden ist, dass jeder, der arbeiten gehen möchte, auch eine Arbeit findet, dass jeder respektvoll behandelt wird – eine schönere Vision gibt es nicht.“

Bundeskanzler Feymann ergänzt die Diskussion seines Parteikollegen Tumpel zur Steuergerechtigkeit um den neuen Aspekt, eine Steuerreform 2013 durch entsprechendes Wirtschaftswachstum zu finanzieren. Den AK-Präsidenten unterstützt er in der Forderung, eine solche Steuerreform müsse nach dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit erfolgen. Daher müssten die ArbeitnehmerInnen entlastet werden, die reichsten 5 % der Bevölkerung jedoch sollten durch höhere vermögensbezogene Steuern zur Kasse gebeten werden, damit in Bildung, Infrastruktur und Forschung investiert werden kann.

Feymanns abschließender Vision von Chancengleichheit in der Ausbildung, Arbeitsplatzsicherheit und Respekt in der Gesellschaft kann man nur wünschen, dass sie bald Wirklichkeit wird.

Am 3. Juli ergänzt Bundespräsident Heinz Fischer in der Pressestunde die Forderungen seiner Parteikollegen mit seinem Plädoyer für die Erbschaftssteuer.

Beim Thema Vermögenssteuern gebe es „Nachdenkbedarf“, sagt Fischer. Denn er sei ein Anhänger der Leistungsgerechtigkeit, und das derzeitige System habe mit Leistungsgerechtigkeit nichts zu tun. Dazu Fischer im Wortlaut: „Leistung muss gefordert und gefördert werden. Aber gerade bei Erbschaften ist der Anteil der Leistung relativ überschaubar.“

Fischer fordert zwar nicht direkt eine Wiedereinführung der Erbschaftssteuer, wohl aber eine „sachliche und ernsthafte“ Auseinandersetzung ohne Tabus. Damit befindet er sich auf einer Linie mit den Gewerkschaften, die stets gegen die Abschaffung der Erbschaftssteuer waren.

Das SPÖ-Modell zu einer Vermögenssteuer, das einen jährlichen Steuersatz zwischen 0,3 und 0,7 Prozent auf Vermögen über eine Million Euro vorsieht, bezeichnet er als Diskussionsbeitrag. „Ich freue mich, wenn andere sachliche Beiträge dazukommen.“

Der Bundespräsident spricht hier ein Thema an, dass nicht außer Acht gelassen werden darf, wenn man es mit sozialer Gerechtigkeit ernst meint. Denn alle Untersuchungen zum Thema Erbschaft zeigen, dass Erbenschaften sehr ungleich verteilt sind und somit die Ungleichheit in der Gesellschaft über Generationen hinweg prolongieren. Dass Heinz Fischer bei diesem Thema den Lieblingsbegriff der Konservativen, Leistung, ins Spiel bringt, ist ein geschickter Schachzug. Keine Frage, auch die ÖVP und die Industriellenvereinigung müssen ihm Recht geben: „gerade bei Erbschaften ist der Anteil der Leistung relativ überschaubar.“

Trotzdem hält sich die Freude in der SPÖ über diesen Vorstoß des Bundespräsidenten in Grenzen. Denn seitdem sich die SPÖ 2008 nach dem VfGH-Urteil nur kurz gegen die Abschaffung von Erbschafts- und Schenkungssteuer gewehrt hat, macht man dort lieber einen großen Bogen um dieses Thema. Das ist schade, da gerade das Thema Erbschaftssteuer in einer Diskussion über soziale Gerechtigkeit im Brennpunkt stehen sollte.

Am 5. Juli lässt die Landeshauptfrau von Salzburg, Gabi Burgstaller, im Interview mit einem neuen Vorschlag aufhorchen.

Sie erklärt gegenüber dem Standard: „Ich bin eine Befürworterin der Besteuerung des Vermögenszuwachses und nicht der Substanz. Ich werde als Vorsitzende der Landeshauptleutekonferenz auch einen Vorschlag für eine Widmungsabgabe machen. Der größte Hohn in unserem Steuerrecht ist, dass man mit einem Beschluss einer Gemeindevertretung Millionär werden kann – wenn Grünland in Bauland umgewidmet wird – und dafür keinen Cent Steuer zahlt.“

Im Ö1-Abendjournal am darauffolgenden Freitag hat sie dann ihren Vorschlag gegen die Kritik durch den Landeshauptmann von Oberösterreich, Josef Pühringer, verteidigt. Solche Umwidmungen seien derzeit von jeglicher Besteuerung befreit, was ungerecht sei, sagt Burgstaller dort. „Jeder, der Geld auf einem Sparbuch hat, zahlt dafür 25 Prozent an Zinsertragssteuer. Im Gegensatz dazu gibt es derzeit keinerlei Steuer auf Gewinne durch Umwidmungen.“ Burgstaller rechnet vor: „Wenn jemand ein Grundstück im Grünland im Wert von 100.000 Euro besitzt und die Gemeindevertretung eine Umwidmung in Bauland beschließt, kann dasselbe Grundstück plötzlich eine Million Euro wert sein“.. Sie verlangt deshalb eine 25-prozentige Umwidmungssteuer. „Der Differenzbetrag – in diesem Fall 900.000 Euro – wird in Österreich bisher überhaupt nicht besteuert. Hier sollte man meiner Ansicht nach ebenfalls eine Steuer von 25 Prozent einführen – also genau im selben Ausmaß, wie auch andere Gewinne besteuert werden“, sagte Burgstaller zur Erklärung.

Gabi Burgstaller liefert mit diesem Vorschlag eine Anregung, über die neben den vielen anderen ernsthaft nachgedacht werden sollte. Freilich sollte der ganze Bereich Grundsteuern umfassend reformiert werden, da mit den bestehenden Einheitswerten hier seit langem völlig unzeitgemäße Tarife bestehen, die dem Vermögenswert Grundstück keine sozial gerechte Bewertung angedeihen lassen.