Spindelegger: der Verteidiger des Mittelstandes?

24. Mai 2011

Nachfolgend möchte ich eine kritische Analyse der Rede von Michael Spindelegger  beim Parteitag der ÖVP aus der Sicht der ArbeitnehmerInnen darbieten.

Der neue ÖVP-Obmann Michael Spindelegger hat in seiner Rede beim Parteitag letzte Woche in Innsbruck versucht, die ÖVP als breit aufgestellte Partei der „Leistungsträger“ im Land darzustellen und sich vom Koalitionspartner SPÖ abzugrenzen. Während diese ständig neue Belastungen fordere, bleibe die Volkspartei der „Verteidiger des Mittelstandes“, so Spindelegger in seiner Antrittsrede. Spindelegger bekräftigte dabei das Versprechen einer Steuerreform, von der der Mittelstand und die „Leistungsträger“ profitieren sollen. Derzeit gebe es nämlich eine „Schieflage“ mit 70 Prozent Nettoempfängern. Das dürfe nicht so bleiben, es müsse „jeder etwas leisten“. „Das Wegnehmen“ sei nicht das Programm der ÖVP, sondern Leistung. Die Volkspartei sei aber auch „nicht die Partei der Superreichen, sondern des Mittelstandes“.

Was ist von diesen vollmundigen Ankündigungen und Belehrungen zu halten? Erstens wiederholt Spindelegger mit dem Verweis auf die Nettoempfänger die langjährigen in die Irre führenden Behauptungen der Industriellenvereinigung über die Belastungsverteilung in Österreich. Wahrscheinlich hat er diese ideologische Brandbombe der Vermögenden bei seinem Traineeprogramm bei der Vereinigung Österreichischer Industrieller erworben, das er von 1990 bis 1993 absolviert hat. In den 70% Nettotransferempfängern sind nämlich alle, die sich noch in Ausbildung befinden (= Kinder und Jugendliche), und die PensionistInnen enthalten. Was die IV unter den Teppich kehrt, das ist also, dass man im Laufe des Lebens mehrfach die Position wechselt – vom Nettoempfänger zum Nettoleister und wieder zurück. Denn ein Nettoempfänger ist auch, wer Leistungen aus der Kranken- oder Arbeitslosenversicherung bezieht, weil er im Spital liegt oder seinen Job verloren hat (auf diese Leistungen hat er aufgrund seiner Einzahlungen in die Versicherung Anspruch). Die IV und Spindelegger möchten diese Menschen also zu Schmarotzern erklären, die den „Leistungsträgern“ in Österreich auf der Tasche liegen.

Auch wenn er anschließend beteuert, die ÖVP wolle niemand etwas wegnehmen, so muss doch festgehalten werden, dass sich am Verhältnis von Nettoempfängern und -leistern nur etwas ändern lässt, wenn man die Sozialtransfers für die niedrigen Einkommensgruppen reduziert. Man müsste also jenen, die wenig verdienen oder Leistungen aus der Sozialversicherung beziehen und dadurch oftmals gerade mal genug zum Überleben haben, etwas wegnehmen und jenen geben, die auf die Butterseite des Lebens gefallen sind, weil sie über ein hohes Einkommen aus unselbstständiger oder selbstständiger Arbeit verfügen oder sogar einiges an Vermögen besitzen. Aber das ist ja gerade die Funktion eines funktionierenden Sozialstaats und eines gerechten Steuersystems, dass dadurch die große Schere bei den Primäreinkommen reduziert wird. Jedenfalls ist nun klar, wie die Verteidigung des Mittelstandes durch Spindelegger aussieht, wenn man sie konkret durchdenkt!

Wenn wir schon beim Thema Leistung sind, dann sollten wir auch nicht vergessen, dass die Hauptlast der Steuerabgaben in Österreich die ArbeitnehmerInnen tragen, während Kapital- und Unternehmenseinkünfte deutlich weniger beitragen. Von dieser Form der ungleichen Belastung im österreichischen Steuersystem hören wir vom ehemaligen ÖAAB-Obmann Spindelegger jedoch wenig. Zwar beteuert er, die ÖVP sei „nicht die Partei der Superreichen, sondern des Mittelstandes“, aber wir warten vergeblich auf ein Konzept der ÖVP, damit die Reichen in diesem Land einen angemessenen Beitrag zu unserer Wohlfahrtsgesellschaft beitragen und der Faktor Arbeit endlich entlastet werden kann. Denn nur dann ist es möglich, dass der Mittelstand weniger zu schultern hat. Die vermeintliche Ökologisierung des Steuersystems, wie sie sein Vorgänger als Vizekanzler vorgeschlagen hat, ist im Unterschied zu den Plänen der SPÖ zur Vermögensbesteuerung für eine solche Umverteilung der Lasten wenig geeignet.

Spindelegger bekannte sich in seiner Rede des Weiteren zum sozialen Netz im Staat, allerdings nur für jene, die „nicht können“. Dieses dürfe keine „Hängematte“ für die sein, „die nicht wollen“. Der soziale Ausgleich müsse unter dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ stattfinden.

Das Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ bei der Sozialpolitik kennen wir von der ÖVP schon seit den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts. An diesem Prinzip ist nichts auszusetzen, da es die Grundlage jeder sinnvollen Sozialpolitik sein sollte. Aber der von den neoliberalen Totengräbern des Sozialstaats in den politischen Diskurs eingebrachten Rede von der „sozialen Hängematte“ muss entschieden begegnet werden. Denn diese Bezeichnung ist eine Denunzierung der Empfänger von Sozialleistungen, die erstens jeglicher Stützung durch die Fakten entbehrt. Freilich gibt es auch beim Arbeitslosengeld und der Sozialhilfe (bzw. neu: Mindestsicherung) Missbrauch, aber dieser verursacht nur einen Bruchteil des Schadens, der der Öffentlichkeit durch Steuerhinterziehung entsteht. Zweitens soll die Rede von der „sozialen Hängematte“ kaschieren, dass Sozialtransfers kein Gnadenakt, sondern durch die Zahlung von Beiträgen erworbene Leistungen von ArbeitnehmerInnen sind.

Abermals betonte Spindelegger in seiner Rede dann, Familienpolitik auch zur Chefsache machen zu wollen. Man müsse mehr als bisher die Familienpartei in Österreich werden. Das gelte für Steuerangelegenheiten ebenso wie die Bildungspolitik. Abermals erteilte Spindelegger in diesem Zusammenhang einer Gesamtschule eine Absage: „Die Mittelschule kommt, das Gymnasium bleibt.“ Als Credo für die Wirtschaftspolitik gab er vor: „Wir dürfen unsere Wirtschaft nicht zusätzlich belasten, wir müssen sie geradezu entfesseln.“

Zur Familien- und Bildungspolitik Stellung zu nehmen, das erfordert einen eigenen Artikel. Dies werde ich bei Gelegenheit an anderer Stelle tun. Zu seinem Credo in der Wirtschaftspolitik kann ich erstens nur auf meine ausführlichen Darstellungen des österreichischen Steuersystems verweisen, wo klar zu entnehmen ist, dass die ArbeitnehmerInnen und der Faktor Arbeit stark belastet werden, die UnternehmerInnen in Form von Körperschaftssteuer und Kapitalertragssteuer immer weniger zur Finanzierung unseres Gemeinwesens beitragen. Daraus ergibt sich selbstredend, dass es sehr wohl möglich ist, die Wirtschaftstreibenden mehr zu belasten. Zweitens sei Vizekanzler Spindelegger ins ökonomische Stammbuch geschrieben, dass die Wirtschaft nicht dadurch entfesselt wird, dass sie steuerlich entlastet wird – das versuchen uns fälschlicherweise die Neoliberalen seit vielen glauben zu machen –, sondern durch nachfragegetriebenes Wirtschaftswachstum. Dies erreicht man jedoch nicht durch Entlastung der Vermögenden, die bei Entlastung nur ihre Sparquote erhöhen, sondern durch höheres Einkommen der ArbeitnehmerInnen, das wiederum in den Konsum fließt und dadurch zu höherem Wachstum führt.

Spindelegger kommt in seiner Rede dann nochmals auf sein Hauptthema zu sprechen: Der Mittelstand solle nicht die Melkkuh der Nation und nicht immer der Ochse sein, der den Karren aus dem Dreck ziehe. „Andere wollen an der Belastungsschraube drehen, aber wir bleiben die Verteidiger des Mittelstandes“, so Spindelegger in Richtung SPÖ. Der Koalitionspartner habe „es auf das Eigentum der Menschen abgesehen“ und „nach wie vor ein gestörtes Verhältnis zum Eigentum“.

Einmal mehr versucht Spindelegger geschickt, den Mittelstand als seine Zielgruppe anzusprechen. Dieser solle nicht immer der Ochse sein, der alle Belastungen zu tragen habe. Vor allem aber solle dieser vor neuen Belastungen durch die SPÖ bewahrt werden. Mit einer rhetorischen Verschleierung möchte Spindelegger somit den ArbeitnehmerInnen  vermitteln, bei den Plänen zur Vermögensbesteuerung gehe es um sie und nicht um die Vermögenden und Superreichen. Dies kann dadurch gelingen, dass der Begriff „Mittelstand“ nur sehr vage gefasst wird. Wie wir aus Umfragen wissen, rechnet sich die große Mehrheit der Bevölkerung dem Mittelstand zu. Das reicht von den Kleinverdienern mit gerade mal Tausend Euro pro Monat Nettoverdienst bis hin zu den Beziehern von Höchsteinkommen von 100.000 Euro brutto und mehr im Jahr. In der Volkswirtschaft spricht man manchmal von Mittelschicht bei einem Einkommen von 70 bis 150% des Medianeinkommens. Das Medianeinkommen der unselbstständig Beschäftigten  beträgt in Österreich (Stand 2009) EUR 24.784,– pro Jahr. Nach dieser Definition sind die Mittelschicht bzw. der Mittelstand also jene ÖsterreicherInnen, die zwischen 1200 und 2650 Euro brutto verdienen. Diese Gruppe dürfte Spindelegger mit seiner Adressierung jedoch nicht gemeint haben, da diese Gruppe noch nicht die sogenannten „Leistungsträger“ erfasst.

Die Mittelschicht umfasst laut einer anderen Definition (Die Presse vom 30.10.2010) Personen mit einem monatlichen Einkommen zwischen 2000 und 5000 Euro brutto. Laut Lohnsteuerstatistik 2009 sind das etwa 1,4 Millionen Menschen. „Diese 35 Prozent der Berufstätigen finanzieren überwiegend den Staat. Sie kommen für 55,5 Prozent der Lohn- und Einkommensteuer auf und bezahlen 58 Prozent der Sozialabgaben. Bei den indirekten Steuern (Mehrwertsteuer, Mineralölsteuer, Tabaksteuer usw.) beläuft sich ihr Beitrag auf mehr als 60 Prozent. […] Dabei mag die Umverteilung von oben nach unten recht gut funktionieren, die Mitte aber fällt um viele Zuschüsse und Förderungen um. Laut der Umverteilungsstudie des Wifo vom September 2009 erhält das untere Drittel der österreichischen Haushalte 43,5 Prozent aller Transferleistungen. Das obere Drittel bekommt wiederum fast so viel wie das mittlere: 25 Prozent gegenüber 31,5 Prozent. Bei der Familienförderung wird der Unterschied noch größer: Fast die Hälfte aller Familienleistungen fließt in das untere Einkommensdrittel“ (Die Presse vom 30.10.2010).

Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Denn diese Gruppe der ÖsterreicherInnen hat das Gefühl, die ganze Last der Abgaben zu tragen und kaum etwas zu bekommen. Ihnen muss erklärt werden, dass sie höhere Lasten deshalb zu bewältigen haben, weil sie eben über eine höhere Leistungsfähigkeit verfügen als die Unterschicht. Und ihnen sollte auch offen gesagt werden, dass sie die Hauptlast deshalb abbekommen, weil die Oberschicht einen zu geringen Beitrag leistet. Nur dies werden sie aus dem Mund eines ÖVP-Obmann nicht zu hören bekommen. Dass das untere Einkommensdrittel den größten Anteil der Transferleistungen erhält, kann man der Mittelschicht durchaus vermitteln. Denn darin liegt ja der Zweck eines solidarischen Sozialsystems, dass es von den höheren zu niedrigeren Einkommen umverteilt. Warum freilich die Oberschicht durch die Deckelung der Sozialversicherungsbeiträge einen prozentuell niedrigeren Beitrag zu diesem System leistet, soll ihnen Spindelegger erklären.

Dieser verlegt sich jedoch lieber darauf, der Mittelschicht einzureden, die SPÖ möchte ihnen etwas wegnehmen. Zwar verfügt diese Gruppe zum Teil durchaus über ein bescheidenes Vermögen (z.B. Eigentumswohnung, Einfamilienhaus), aber die Vermögenssteuerpläne von Gewerkschaft und SPÖ treffen durch die entsprechenden Freigrenzen diese Gruppe sicherlich nicht. Aber Spindelegger muss ebenso wie sein Vorgänger Pröll diese Gruppe ins Boot holen, da die eigentlich Betroffenen, die obersten 10%, nicht mehrheitsfähig sind. Allein mit dieser Gruppe lassen sich keine Wahlen gewinnen. Deshalb versucht die ÖVP stets, die Mittelschicht für die Interessen der obersten 10% einzuspannen, indem sie dieser weismacht, es gehe bei der Verteidigung der steuerlichen Privilegien der Oberschicht um sie.

Der Koalitionspartner SPÖ wird zu diesem Zweck als eine Art Räuber dargestellt, der es auf das Eigentum der Mittelschicht abgesehen hat – also „ein gestörtes Verhältnis zum Eigentum“ hat. Die ÖVP schürt geschickt die Angst jener, die vielleicht über ein Immobilienvermögen von ca. 200.000 Euro verfügen (also bei einem Freibetrag von 500.000 Euro von einer Vermögenssteuer sicher nicht betroffen sind), damit sie sich mit den obersten 10% solidarisieren, die durchschnittlich ein Immobilienvermögen von mehr als 2 Mio. Euro besitzen – wobei es bei den obersten 1% sogar 7 Mio. sind. Diese Minderheit hat über das Erbrecht die Möglichkeit, diese höchst ungleichen Voraussetzungen der Lebenschancen von Generation zu Generation weiterzugeben und somit die Ungleichheit in unserem Land stets größer werden zu lassen. Wo nun also das gestörte Verhältnis zum Eigentum in Wahrheit liegt, überlasse ich den LeserInnen.

Die Menschen wollten „wahre Antworten“ und keine populistischen Ansagen, so Spindelegger zum Abschluss seiner Rede.

Genau, Herr Spindelegger! Erzählen Sie also ihren WählerInnen, welche Interessen Sie und die ÖVP in Wahrheit vertreten. Aber lassen Sie bitte die Mittelschicht aus dem Spiel, die bei den Steuerreformen ihrer Partei stets mit einem Körbchengeld abgespeist wird, während die obersten 10% beim Einkommen die wahren Profiteure sind.


Der „six pack“ zur Economic Governance: Ein neoliberaler Coup der Europäischen Kommission gegen die Demokratie

23. Mai 2011

Aufgrund der (vermeintlich) schweren Schuldenkrise einiger südeuropäischer Länder wie Griechenland, Portugal und Spanien hat die Europäische Kommission im Schnellverfahren einige Änderungen und Ergänzungen zur „Economic  Governance“, d.h. zur Haushalts- und Budgetpolitik  bzw. genauer zu den Maßnahmen, die bei übermäßigem Defizit oder wirtschaftlichem Ungleichgewicht ergriffen werden können, in die Wege geleitet. In den Ausschüssen des Europäischen Parlaments werden derzeit insgesamt sechs Gesetzesvorschläge zu diesem Thema verhandelt, die am 8. Juni im Plenum des Europäischen Parlaments und eine Woche später vom Rat beschlossen werden sollen. Vier davon beschäftigen sich mit Defiziten und Schulden und sollen den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt stärken. Zwei weitere Gesetzesvorschläge fordern zum ersten Mal die Überwachung gesamtwirtschaftlicher Ungleichgewichte. Bei diesen Entwürfen für Verordnungen handelt es sich somit entweder um Verschärfungen der bisherigen VO zu den Artikeln 121, 126 oder 136 AEUV oder um neue Verordnungen zu diesen Artikeln (COM [2010] 522, 523, 524, 525, 526, 527).

Hier die Zielsetzungen der Vorschläge laut Parlament im Überblick:

  • Die Kommission soll nationale Defizite in Zukunft besser überwachen und sanktionieren können.
  • Staaten, die ihre Bilanzen mit falschen Statistiken oder Berichten schönen, sollen eine Strafe von 0,5 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts bezahlen.
  • Wenn Staaten auf EU-Empfehlungen zum Abbau hoher Defizite oder Handelsüberschüsse nicht reagieren, sollen Strafen dafür früher greifen als bisher. Bei der ersten Mahnung werden 0,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fällig, danach 0,3 Prozent.

Begründet wird die Notwendigkeit solcher Maßnahmen damit, dass makroökonomische Ungleichgewichte und hohe Staatsdefizite Europa in die Krise geführt hätten. Um den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu stärken, soll daher die Schuldengrenze (60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) wichtiger werden. Bisher lag der Fokus mehr auf der Neuverschuldungsgrenze (drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr).

Neu ist aber auch die folgende Änderung im Verhältnis von Kommission und Rat: Abstimmungen über Sanktionen für Verstöße gegen diese Regeln (Strafzahlungen von 0,2 bis 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) sollen einer neuen Logik folgen: Bisher musste eine qualifizierte Mehrheit im Rat Sanktionen zustimmen, in Zukunft soll eine qualifizierte Mehrheit notwendig sein, um Sanktionen abzulehnen. Damit würde ein halbautomatischer Sanktionsprozess eingeführt, der es unwahrscheinlich macht, dass eine Ablehnung zeitgerecht erfolgen kann.

Auch sollen Indikatoren für wirtschaftliche Ungleichgewichte strenger überwacht werden. Wenn Ungleichgewichte erkannt werden, sollen Empfehlungen ausgesprochen werden, um sie abzubauen. Werden die Empfehlungen von den Mitgliedsstaaten nicht beachtet, soll es ähnlich wie beim Stabilitäts- und Wachstumspakt zu Sanktionen kommen.

Bei diesem Punkt horchen natürlich die Europarechtler sofort auf: Einige von diesen sind schon zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Änderungen nicht rechtskonform seien, da die in den Verordnungen vorgesehenen Maßnahmen nicht von den entsprechenden Artikeln über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) abgedeckt seien (z.B. Stefan Griller, Walter Obwexer).

Schwerer als die rechtliche Fragwürdigkeit wiegt jedoch, was diese Verordnungen für die Mitgliedstaaten der Union und ihre Wirtschaftspolitik bedeuten. Wenn diese Verordnungen wie vorgesehen beschlossen werden, dann hat zukünftig die Europäische Kommission einen gewichtigen Einfluss auf die Haushalts- und Budgetpolitik der Mitgliedstaaten und kann diese auf ein Sparprogramm verpflichten. Selbst in einer Wirtschaftskrise, wie wir sie in Europa gerade erlebt haben, können die MS künftig nicht mehr autonom einen progressiven wirtschaftlichen Kurs festlegen, um aus einer solchen Krise durch gezielte Investitionen „herauszuwachsen“. Denn die EU-Kommission hat dann die Möglichkeit, die Mitgliedstaaten auch in einer solchen Situation durch Sanktionen zu einem Sparkurs zu verpflichten und sogar (indirekt) Druck auf die Lohnpolitik  in den betroffenen Staaten auszuüben.

Der ÖGB, der DGB, der Europäische Gewerkschaftsbund und einige NGOs (z.B. Attac) haben deshalb massiv Kritik an diesen Plänen geübt  und die Kommission dazu aufgefordert, die fraglichen Vorhaben entsprechend abzuändern. Insbesondere fordern sie, dass die autonome Lohnpolitik auch in Zukunft gewährleistet wird. Aber auch die Möglichkeiten der MS, durch einen gezielten Wachstumskurs Defizite intelligent und nachhaltig zu bekämpfen, möchten die Gewerkschaften nicht durch einen dogmatischen verordneten Sparkurs (Austerity Governance) der Kommission in Gefahr bringen lassen.

Es ist deshalb dringend notwendig, dass auf breiter Front durch die Gewerkschaften und die Zivilgesellschaft  Aufklärung der Bevölkerung über die Bedeutung dieser Pläne für die wirtschaftliche Zukunft erfolgt und anschließend ein breiter Widerstand gegen diese Pläne organisiert wird (siehe bspw. www.oureurope.org), um die Umsetzung dieser Verordnungen zu verhindern.


Ist der Generationenvertrag noch zeitgemäß?

18. Mai 2011

Die Frage, die ich an dieser Stelle erläutern möchte, lautet: Ist der Generationenvertrag noch zeitgemäß? Oder ist er hinfällig und kann beruhigt auf dem Abfallhaufen der Geschichte abgelagert und seinem langsamen, unbemerkten und leisen Verschwinden überlassen werden?

Bevor ich auf die Definition des Generationenvertrags und seine gegenwärtige Bedeutsamkeit zu sprechen komme, möchte ich aus einer Studie berichten, die im Frühjahr 2010 vom Meinungsforschungsinstitut IMAS im Auftrag der Jungen Wirtschaft Oberösterreich und der Jungen Industrie OÖ durchgeführt wurde:

Zwei Drittel (66 Prozent) der Österreicher halten laut dieser Studie den Generationenvertrag nicht mehr für umsetzbar. Nur 27 Prozent erwarten, dass auch künftig die Jüngeren die Pensionen der Älteren finanzieren können. 55 Prozent der Befragten zeigen sich überzeugt, dass die Nutznießer des Generationenvertrages bereits in Pension seien. Ein knappes Drittel erwartet, noch selbst von Auswirkungen der gesellschaftlichen Überalterung betroffen zu sein. Nur jeweils zehn Prozent glauben noch an Vorteile für all jene, die derzeit noch Kinder oder Berufseinsteiger sind.

Die 30- bis 49-Jährigen sind am stärksten davon überzeugt, dass der gesellschaftliche Strukturwandel im Pensionssystem zu spüren sein wird. Beinahe Einigkeit besteht darin, dass etwaige Auswirkungen der Überalterung nur negativ sein können. Mit positiven Effekten der demografischen Entwicklung rechnet lediglich eine verschwindende Minderheit von drei Prozent.

An den Fortbestand des staatlichen Pensionssystems in seiner heutigen Form glauben laut Umfrage 56 Prozent. 32 Prozent rechnen nicht damit, zwölf Prozent sind unsicher. Die Zweifler sind zu jeweils rund 90 Prozent davon überzeugt, dass die private Vorsorge zunehmen, die Pensionshöhe sinken und das Antrittsalter steigen wird. 53 Prozent aus dieser Gruppe glauben, dass es überhaupt keine staatliche Pension mehr geben wird.

Kurz gesagt, die Mehrheit der Österreicher glaubt nicht mehr an den Generationenvertrag und erwartet massive Veränderungen bei den staatlichen Pensionssystemen (mehr private Vorsorge, Erhöhung des Pensionsalters, höhere Beiträge). Mehr als die Hälfte der Befragten hält es sogar für wahrscheinlich, dass es in absehbarer Zeit gar kein staatliches Pensionssystem mehr geben wird.

Die jahrzehntelange massive Attacke des Neoliberalismus und der Finanzindustrie (Versicherungen, Banken usw.) auf das staatliche Pensionssystem und die anderen Formen der solidarischen Absicherung haben also Erfolg gehabt. Die Österreicher haben den Glauben an den Generationenvertrag verloren.

Was ist denn aber nun unter diesem ominösen „Generationenvertrag“, an den immer weniger Österreicher glauben, zu verstehen? Der Generationenvertrag bezeichnet in der Sozialpolitik einen unterstellten gesellschaftlichen Konsens, der auf die Solidarität mit anderen Generationen und Verantwortung für die kommende Generation hinausläuft, um (vor allem) die Finanzierung der gesetzlichen Pensionsversicherung zu sichern. Die jeweils aktuell sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen zahlen mit ihren Beiträgen in die Pensionsversicherung die Leistungen für die aus dem Erwerbsleben ausgeschiedene Generation und erwerben dabei einen Anspruch auf ähnliche Leistungen der nachfolgenden Generationen an sich selbst. Der Generationenvertrag benennt somit jenes Prinzip, das hinter dem Umlageverfahren in der gesetzlichen Pensionsversicherung steht. Auch andere Instrumente des Sozialstaates, z. B. die gesetzliche Krankenversicherung, beruhen weitgehend ebenfalls auf dem Prinzip eines „Generationenvertrages“, da die Krankheitskosten angesichts der steigenden Lebenserwartung im Alter deutlich höher und die laufenden Einnahmen geringer sind als in den Erwerbsjahren.

Ob diese Übereinkunft der Generationen bei der solidarischen Gestaltung der Pensionsversicherung durch das Umlageverfahren tatsächlich umgesetzt ist, wird von manchen Kritikern in Frage gestellt. Sie verweisen darauf, dass die künftig Erwerbstätigen zum Zeitpunkt der Anspruchsbegründung entweder noch nicht geboren oder jedenfalls noch nicht in der Lage, an den politischen Entscheidungsprozessen teilzunehmen, also ihre eigenen Interessen in diesem Ausgleich zwischen den Generationen nicht wahrzunehmen können. Das zeige sich daran, dass die Generation der nun zu versorgenden Pensionsbezieher sich selbst in der Vergangenheit einen Ausbau ihrer Ansprüche zugestanden hat, der in keinem Verhältnis zu ihrem eigenen Beitrag für die Generation steht, die diesen Anspruch unter der Voraussetzung einer veränderten Demographie dann erfüllen muss.

An diesem Einwand ist hinsichtlich der mangelnden Rücksichtnahme auf nachfolgende Generationen durchaus etwas dran, aber deshalb ist das Prinzip des Umlageverfahrens noch lange nicht falsch und der Hinweis auf die Demographie dient der Demontierung des solidarischen Wohlfahrtsstaates als ideologische Abrissbirne, um die Absicherung gegen die Risiken von Alter und Krankheit dem Kapitalmarkt zugänglich zu machen. Unter dem Vorwand, Werte wie Freiheit und Selbstverantwortung zur Geltung zu bringen, bringen die neoliberalen Apologeten die Privatvorsorge als den Heilsbringer aufs Tapet.

Was sie dabei verschweigen, das ist, dass auch dem Verfahren der Kapitaldeckelung ein generationenübergreifendes Umlageprinzip zu Grunde liegt – das jedoch nicht solidarisch ausgerichtet ist. Denn die Gewinne der privaten Rentenversicherung sind nur möglich, wenn die Nachfrage der aktuell Erwerbstätigen nach diesen Papieren hoch ist. Somit finanzieren diese indirekt über den Kapitalmarkt die Rentner. Einen Vertrag im Sinne des Generationenvertrags gehen die Beteiligten jedoch nicht ein, da dabei jeder nur an sich und die Vermehrung seiner Einlage denkt und sich nicht solidarisch mit der vorigen und nächsten Generation verbunden fühlt. Den potentiellen Käufern dieser Wertpapiere wird ja auch erfolgreich suggeriert, dass sie ihr Erspartes durch die Privatvorsorge mit Gewinn in die Zukunft transferieren könnten.

Es ist daher eine besonders wichtige Aufgabe für die Gewerkschaften und alle zivilgesellschaftlichen Organisationen im Interesse der ArbeitnehmerInnen, diese ideologische Verblendung zu durchkreuzen und die unbedingt notwendige Aufklärung über die Voraussetzungen zu leisten, unter denen das Umlageverfahren in der solidarischen Risikoabsicherung auch in Zukunft noch finanzierbar ist: stetiges Wirtschaftswachstum, hohe Beschäftigungsquote, hohe Lohnquote, moderater Anstieg des Pensionsantrittsalters. Denn wir dürfen uns das Herzstück der solidarischen Gesellschaft – das Umlageverfahren in der Pensions- und Krankenversicherung – nicht von den gemeinsamen Angriffen von Neoliberalismus und Finanzinstitutionen kaputt machen lassen.


Notwendige Korrekturen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU

17. Januar 2011

Falsche Weichenstellungen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik haben die Europäische Union in eine schwere Krise geführt. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde die Orientierung auf die Inflationsbekämpfung und die Verminderung der Staatsverschuldung gelegt. Wachstum und Beschäftigung sind dadurch auf der Strecke geblieben. Die rigorose Ausrichtung der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank auf die Preisstabilität hat dazu geführt, dass das Wirtschaftswachstum zurückgegangen und im Gegenzug die Arbeitslosigkeit gestiegen ist. Dieses Regime hat dem Finanzkapital genützt, da durch die damit einhergehende Lohnzurückhaltung die Gewinne der Unternehmen gesteigert wurden. Den ArbeitnehmerInnen blieb andererseits immer weniger vom wachsenden Kuchen, da die Lohnquote sank. Da dadurch auch die Nachfrage gezügelt wurde, erlebte der Binnenkonsum eine Flaute. Zugewinne konnten für das produktive Kapital in der Folge nur über ein Exportwachstum erzielt werden. Ein solcher Exportwachstum ist im internationalen Handelsgeflecht jedoch nur möglich, wenn Handelspartner dafür einen Importüberschuss in Kauf nehmen. Sowohl auf europäischer Ebene als auch international sind somit große Ungleichgewichte in der Handels- und Leistungsbilanz entstanden. Länder wie China oder Deutschland hatten riesige Exportüberschüsse zu verbuchen (siehe dazu auch Heiner Flassbeck, Die Markwirtschaft im 21. Jahrhundert, München 2010). Länder wie die USA oder die südeuropäischen Länder mussten hingegen hohe Importüberschüsse in Kauf nehmen. Aufgrund der besonderen Stellung des Dollars als Weltleitwährung war dies für die USA lange Zeit ganz gut verkraftbar. Da die mit der Leistungsbilanzschwäche verbundene Verschuldung jedoch in starkem Ausmaße durch die Privathaushalte getragen wurde, musste die durch Spekulation zu einer Immobilienblase aufgeheizte Situation jedoch schließlich zusammenbrechen. Vor allem da eine riesige Menge von Kapital, das aufgrund der Schwäche des produktiven Sektors und aufgrund der Privatisierung der sozialen Absicherung die Veranlagung durch Investment- und Pensionsfonds zunehmend auf den Finanzmärkten nach Alternativen für die Erzielung lukrativer Renditen war, von luziferischen Investmentbankern im Zusammenspiel mit windigen Hypothekeninstituten, unvorsichtigen Versicherungen und zum Komplizen herangezogenen Ratingagenturen dazu verlockt wurde, in dieses hasardierende Spiel einzusteigen. Die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise seit etwa 80 Jahren war die Folge.

Sowohl in den USA als auch in Europa  wurde das internationale Finanzsystem durch staatliche Rettungsaktionen für die Banken vor dem Zusammenbruch bewahrt. Nach dem Übergreifen der Finanzkrise auf die Realwirtschaft kamen die Staaten für kurze Zeit in einer vermeintlichen Renaissance des Keynesianismus ihrer Verpflichtung nach, durch umfangreiche Konjukturpakete Investitionsanreize zu schaffen und durch die Stützung der sozialen Sicherungssysteme zu verhindern, dass die Krise auch noch den Privatkonsum in den Keller fallen lässt und somit eine langwierige Rezession auf den Plan tritt. Doch schon nach kurzer Zeit erholten sich die Banken und anderen Finanzinstitutionen vom Schock der Krise und nahmen wieder ihre Retter ins Visier der neoliberalen Demontierung. So als wären nicht sie es gewesen, die die Weltwirtschaft an den Rande des Kollaps gebracht haben, brandmarkten sie die Staaten wegen der durch sie stark angestiegenen staatlichen Schulden als unverantwortliche Verschwender. Vor allem die Staaten Südeuropas, allen voran Griechenland, wurden mit perfiden Medienkampagnen unter Feuer gesetzt, um sich horrende Renditen auf dem Markt für Staatsanleihen zu sichern. Denn die Angst vor einem möglichen Staatsbankrott treibt die Zinsen für Staatsanleihen in die Höhe. Und die Gefahr, das geborgte Geld schließlich wegen tatsächlichem Bankrott zu verlieren, ist gering, da die EU-Staaten als Retter der Gläubiger auf den Plan treten. Anstatt nämlich die Ursache für das höhere Defizit in den südeuropäischen Staaten zu thematisieren (in Spanien liegt der Fall anders, da Spanien vor der Krise eine unterdurchschnittliche Verschuldung aufwies – hier ist das Platzen einer regionalen Immobilienblase verantwortlich), beschränkt sich die EU in Kooperation mit dem Internationalen Währungsfonds darauf, durch das Errichten eines monetären Schutzschirmes die Spekulation gegen die Defizitländer von der Erfolglosigkeit zu überzeugen. Die wahre Ursache für die hohen Defizite der südeuropäischen Staaten liegt nämlich nicht darin, dass diese Länder über ihre Verhältnisse gelebt haben, sondern an den innereuropäischen Ungleichgewichten bei der Leistungsbilanz. An dieser sind jedoch nicht nur die Defizitstaaten schuld, sondern auch die Überschussländer, allen voran Deutschland. Denn Deutschland verschafft sich seit der Währungsunion und seit der Einführung des Euro als gemeinsamer Währung Vorteile gegenüber diesen Staaten im Export, indem es nicht parallel zu der Zielinflationsrate von 2% für eine angemessene Steigerung der Löhne sorgt (Inflation + Produktionssteigerung). Deutschland profitiert somit von niedrigen Lohnstückkosten durch Handelszugewinne. Und es empfiehlt zu allem Überfluss den Defizitstaaten auch noch, es ihm gleichzutun und bei den Löhnen und Sozialleistungen zu sparen. Wenn die Defizitländer jedoch diesen Ratschlag tatsächlich befolgen und mit Deutschland beim Lohndumping und Sozialabbau gleichziehen, dann verliert einerseits Deutschland seinen Vorteil; zweitens wird dadurch ganz Europa in die Rezession gestürzt, da durch flächendeckendes Sparen ausgelöste ganz Europa erfassende Konsumflaute die Wirtschaft nicht wachsen kann.

Was sind hingegen die richtigen Weichenstellungen, die in der EU getroffen werden müssen, damit die Krise gut bewältigt und nachhaltiges Wirtschaftswachstum zum Wohle aller wieder erreicht werden kann (siehe dazu auch Jörg Huffschmid, Politische Ökonomie der Finanzmärkte, Hamburg 2002)?

  • Abkehr von der reinen Inflationsbekämpfung und Rückkehr zu einem Programm für Wachstum und Beschäftigung sowie antizyklische Konjunktursteuerung durch staatliche Investition
  • Strenge Regulierung der Finanzmärkte sowie Bekämpfung der Spekulation und Reduzierung der Wertpapierdynamik (z.B. Verbot von Leerverkäufen)
  • Regulierung des Bankensektors in Hinsicht auf die Rückkehr zu seinen Kernaufgaben (Investionsversorgung durch Kredite, langfristiger privater Vermögensaufbau)
  • Trennung von sozialen Sicherungssystemen und Kapitalmarkt durch Rückkehr zum Umlageverfahren
  • Stabilisierung der Wechselkurse und Schaffung von Währungskooperationen
  • Mehr Steuergerechtigkeit durch Vermögensbesteuerung, faire Besteuerung von Kapitalerträgen und Unternehmensgewinnen
  • Einführung einer Devisenumsatz- bzw. allgemeinen Finanztransaktionssteuer
  • Wiedereinführung von Kapitalverkehrskontrollen zum Schutz vor spekulativen Attacken
  • Förderung des Umbaus der Produktion auf ökologische Nachhaltigkeit

Bernhard Felderers Albtraum: Österreich als Europameister

19. Dezember 2010

Der Vorsitzende des Staatschuldenausschuss, IHS-Chef Bernhard Felderer, hat am Donnerstag einen Bericht präsentiert, der das Sprudeln der Steuereinnahmen in Österreich thematisiert. Laut den Zahlen der Europäischen Kommission von November liegen heuer nur drei Länder vor Österreich (44,1 Prozent): Belgien mit 45,8 Prozent, Schweden mit 45,7 Prozent und Dänemark mit 46,4 Prozent. Als Prognose wird für Österreich ein Steigen der Abgabenquote 2011 auf 44,3 Prozent erwartet. Allerdings sind in diesen Zahlen allerdings die mit dem Budget beschlossenen Steuererhöhungen und Steuereinführungen (Tabak, Mineralöl, Flugticket etc.) noch nicht berücksichtigt. Man könne somit von einem noch höheren Wert ausgehen.

Zu den sprudelnden Steuereinnahmen komme hinzu, so Felderer weiter, dass der Staat aufgrund des niedrigen Zinsniveaus günstig Kredite auf dem Kapitalmarkt aufnehmen könne. In Summe habe das heuer dazu geführt, dass die Einnahmen höher seien als erwartet und die Ausgaben niedriger. „Wir rechnen damit, dass wir rund 1,5 Milliarden Euro mehr Einnahmen haben werden als wir erwartet haben“, sagte Felderer im Ö1-Mittagsjournal. Dank der Mehreinnahmen werde auch das prognostizierte Defizit von 4,5 Prozent des BIP für 2010 deutlich kleiner ausfallen. Felderer geht von vier oder 4,1 Prozent, vielleicht sogar unter vier Prozent aus. Als persönliche Meinung regt der Chef des Staatsschuldenausschusses angesichts dieser Entwicklung langfristig eine Senkung der Abgabenquote an. Steuersenkungen seien zwar in der jetzigen Situation nicht möglich, man sollte aber darüber nachdenken und das langfristig planen.

Während ihm die Abgabenquote zu hoch ist, mahnt Felderer beim Schuldenabbau mehr Anstrengungen ein. In der Vergangenheit sei die Rückführung der Schuldenquote nämlich vernachlässigt worden. Um aber die Glaubwürdigkeit auf den Finanzmärkten zu behalten, müsse der Schuldenabbau ein zentrales Anliegen sein und die langfristige Konsolidierung dargelegt werden. Derzeit fehle allerdings die Perspektive für die Rückführung der Staatsverschuldung von über 70 auf die Maastricht-Grenze von 60 Prozent des BIP. Dazu dürfe das jährliche Defizit ab 2015 nicht über einem Prozent liegen. „Zwei Prozent sind zu viel“, so Felderer. Das Finanzministerium hat für 2014 derzeit noch ein Defizit von 2,2 Prozent vorgesehen. Berechnungen des Staatsschuldenausschusses zeigen folgendes Bild: Bei einem durchschnittlichen Wachstum und einem Defizit von einem Prozent könnte die Schuldenquote zwischen 2023 und 2028 auf 60 Prozent gesenkt werden, bei zwei Prozent würde das ein Jahrzehnt länger dauern (bis 2039).

Sehen wir uns zunächst an, was diese Europarangliste „des Grauens“ für Österreich tatsächlich zu bedeuten hat. So wie Felderer diesen Umstand darstellt, handelt es sich dabei um ein furchtbares Ergebnis, wenn Österreich hier auf Platz 4 liegt und Anstalten macht, Besserplatzierte zu überholen. Was Felderer jedoch verschweigt, das ist der Umstand, dass die Bestplatzierten bei der Abgabenquote (bis auf Belgien) auch auf anderen Ranglisten – die positiver besetzt sind – oft topplatziert sind. So liegt etwa Schweden während der letzten zehn Jahre beim Wirtschaftswachstum meist deutlich über dem EU-Durchschnitt, deutlich weniger Menschen als im Rest von Europa sind armutsgefährdet (hier liegt auch Dänemark sehr gut) und die Beschäftigungsquote (vor allem von Frauen) ist ebenfalls deutlich höher. Schweden ist überhaupt ein gutes Gegenbeispiel für die neoliberale Behauptung, hohe Abgaben schadeten dem Wirtschaftsstandort im internationalen Vergleich. Denn Schweden hat einen erfolgreichen Hochtechnologiebereich, der sich international sehen lassen kann, und ist generell wirtschaftlich erfolgreich. Einziger Wermutstropfen ist, dass Konjunkturschwankungen meist größer ausfallen als z.B. in Österreich. Schweden bietet den Menschen und damit auch den Unternehmen außerdem ein gut ausgebautes Bildungssystem, aus dem gut ausgebildete Absolventen hervorgehen, denen darüber hinaus ein breites Angebot an lebensbegleitenden Weiterbildungsmöglichkeiten offen steht.

Wir können somit festhalten: Es sind bessere Wege möglich als jener des neoliberalen Musterlands Deutschland (wobei Österreich in dieser Hinsicht kaum nachsteht), wo die Exportindustrie aufgrund jahrelanger Lohnzurückhaltung zwar große Erfolge feiert, bei der großen Masse der Menschen diese Erfolge aber nicht ankommen, da die Einkommen seit vielen Jahren stagnieren. Dies ist längerfristig auch für die Unternehmen nachteilig, da der Inlandskonsum daniederliegt und diese Erfolge nur durch Verschuldung der Importländer möglich sind. Die gegenwärtigen Instabilitäten in der Eurozone rühren gerade davon her (und nicht von der mangelnden Budgetdisziplin der südeuropäischen Länder), dass das wettbewerbsverzerrende Lohndumping der Überschussländer die anderen Staaten in die Schuldenfalle treibt.

Daher ist Felderer auch darin zu widersprechen, dass die Abgabenquote schon bald gesenkt werden muss. Erstens steht dies im Widerspruch zu seiner Forderung nach einem schnelleren Schuldenabbau der Republik. Denn wie sollen die Schulden abgebaut werden, wenn die Steuereinnahmen sinken? Es ist ein hartnäckiges neoliberales Märchen, dass Steuersenkungen über einen längeren Zeitraum sogar zu mehr Staatseinnahmen führen, weil die Unternehmen und Kapitaleigner dadurch ein günstiges Klima für hohes wirtschaftliches Wachstum vorfinden. Dies wurde in den USA unter Ronald Reagan propagiert. Die Realität am Ende seiner Amtszeit sah freilich völlig anders aus: Obwohl der Präsident große Steuererleichterungen geschaffen hatte, standen die Staatskassen der USA vor einem riesigen Schuldenberg, der dann unter Präsident Clinton abgebaut werden musste. Die viel beschworene Verwaltungsreform andererseits wird diese Reduktion der Schulden auch nicht allein leisten können, auch wenn von mancher Seite dieser Eindruck erweckt wird.

Was die Geschwindigkeit des Schuldenabbaus betrifft, bleibt uns Felderer eine wirkliche Erklärung schuldig, warum dieser schneller als bisher erfolgen müsse. Denn der Verweis auf die Glaubwürdigkeit an den Finanzmärkten kann nicht ernst gemeint sein. Die Finanzmärkte mussten 2008 aufgrund von Exzessen, die durch mangelnde Regulierung ermöglicht wurden, von den Staaten durch massive Finanzspritzen gerettet werden. Also haben nicht die Staaten ihre Glaubwürdigkeit den Finanzmärkten zu beweisen, sondern die Finanzmärkte müssen umgekehrt innerhalb einer strengen Regulierung den Nachweis erbringen, dass die doch noch in der Lage sind, sinnvolle Dienste für die Realwirtschaft zu erbringen.

Die Grenze der Gesamtverschuldung im Maastrichtvertrag von 60 Prozent des BIP ist rein willkürlich gesetzt und war während der Finanz- und Weltwirtschaftskrise nicht einzuhalten. Daher ist es Zeit von diesem Dogma abzurücken. Statt sich nur auf die Bekämpfung der Inflation zu fixieren, sollte die Europäische Zentralbank im Geiste Keynes‘ vielmehr eine Geldpolitik betreiben, die den Staaten und Unternehmen durch niedrige Zinsen eine günstige Verschuldung ermöglicht. Wenn dadurch das Wirtschaftswachstum nachhaltig angekurbelt wird, löst sich die Schuldenproblematik aufgrund höherer Staatseinnahmen ohnehin von selbst – auch wenn diese zeitweise höher ausfällt als die Maastrichtkriterien erlauben.

Um zum Abschluss auf die Abgabenquote zurückzukommen. Felderers Befürchtungen hinsichtlich der Folgen einer steigenden Quote kann entgegnet werden: Die Abgabenquote darf nicht isoliert gesehen werden, sondern ihr müssen die Leistungen des Staates für seine Bürger sowie die Ausgaben für Forschung und Innovation gegenübergestellt werden. Wenn Österreich bei der Abgabenquote tatsächlich bald Europameister sein sollte – und dies aufgrund der dadurch möglichen Rahmenbedingungen aber auch bei Wirtschaftswachstum, Armutsvermeidung und Vollbeschäftigung sowie bei der Förderung von Forschung und Technik wird, dann sollten wir einfach sagen: Nur zu!


An Josef Pröll: Gerechtigkeit ist nicht mit Neid gleichzusetzen

5. Dezember 2010

Vizekanzler und Finanzminister Josef Pröll hat in einem Interview mit dem Standard in Richtung SPÖ gesagt, diese würde mit ihrer Forderung der Einführung einer Vermögenssteuer den Neid gegen Eigentum schüren.

Wenn die Sozialdemokratie Hand in Hand mit der Gewerkschaft unter Schlagwörtern wie „Zeit für Gerechtigkeit“ und „FAIR teilen“ mehr Verteilungsgerechtigkeit fordert, dann hat das nichts mit Neid zu tun. Vielmehr geht es bei diesen Forderungen darum, einer jahrzehntelangen Fehlentwicklung bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen endlich entgegenzutreten. Stark steigende Gewinne und Managergehälter auf der einen Seite, stagnierende Entwicklung der Reallöhne auf der anderen Seite haben in den letzen 25 Jahre dazu geführt, dass die Einkommensschere in Österreich immer weiter auseinandergeht und Vermögen immer stärker konzentriert ist.

Wenn man darauf aufmerksam macht und Korrekturen fordert, dann stellt das für Josef Pröll eine Neiddebatte dar, die die falschen treffe. Ihm liegen ja die Leistungsträger am Herzen, die nach seinen Worten die Hauptlast der Steuereinnahmen zu tragen hätten. Richtig ist, dass bei der Lohnsteuer die oberen Einkommensbereiche den größten Teil der Einkommensteuereinnahmen zu tragen haben. Zieht man jedoch die Gesamtbelastung heran, die die Haushalte an zu leisten haben (Einkommensteuer, Sozialversicherungsbeiträge, Umsatzsteuer), und berücksichtigt auch, wie stark Vermögen und Vermögenszuwächse (wo beides ja überwiegend nur in den obersten Einkommensbereichen vorhanden ist) besteuert werden, dann sieht die Bilanz jedoch ganz anders aus: Rechnet man Einkommen-, Umsatzsteuer und Sozialversicherung zusammen, dann ist die Belastung der Haushalte über alle Einkommensbereiche ziemlich gleich (sie steigt zunächst leicht an, sinkt aber im obersten Bereich wieder ab).

Vermögen wiederum ist praktisch steuerfrei, seit die Erbschafts- und Schenkungssteuer abgeschafft wurde. Diese Abschaffung wird damit gerechtfertigt, dass jene geschützt werden sollen, die von ihren Eltern eine Eigentumswohnung oder ein Einfamilienhaus erben. Jene wären aber auch durch entsprechend großzügige Freibeträge von dieser Steuerleistung auszunehmen. Wer tatsächlich von dieser Abschaffung profitiert, das sind jene Unternehmerfamilien, wo steuerfrei Vermögenswerte von Millionen oder gar Milliarden Euro weitergegeben werden. Lediglich über die Grundsteuer (die jedoch aufgrund eines völlig unzeitgemäßen Einheitswertes berechnet wird) fließen dem Staatshaushalt Einnahmen aus dieser Kategorie zu (das sind weniger als 1,5% des Gesamtsteueraufkommens).

Vermögenszuwächse werden ab 2011 einheitlich mit einer 25%tigen Quellensteuer belegt. Somit leisten Wertpapierspekulanten den gleichen Beitrag wie der/die Pensionist/in, der sein Erspartes auf einem Sparbuch hat. Einkommen aus selbstständiger oder unselbstständiger Arbeit wird jedoch mit einem Steuersatz bis zu 50% belegt.

Auf eine Antwort von Josef Pröll auf dieses Ungleichgewicht der steuerlichen Belastung von Arbeit und Kapital sowie auf die immer ungleichere Verteilung des Vermögens warten wir seit Jahren vergeblich. Wie es aussieht, werden wir noch weiter warten müssen.


Robert Misik: Die Ökonomen entdecken den Nutzen des Sozialstaats

5. Dezember 2010

Das Handelsblatt ist ja weder sozialistischer Flausen noch übertriebener Gewerkschaftsnähe verdächtig. Umso erstaunlicher – ja, sensationeller – was da vor ein paar Tagen in dem deutschen Wirtschaftsblatt zu lesen war: „Ökonomen rehabilitieren Europas Sozialstaat

In einer langfristigen Studie, die Lebenserwartung, allgemeine Lebenszufriedenheit, aber auch harte ökonomische Faktoren wie Arbeitsplatzqualität, Lohnentwicklung und Produktivität der Wirtschaft unter die Lupe nahm, kamen 150 europäische Ökonomen zu dem Ergebnis: Der Sozialstaat ist nicht nur moralisch „nützlich“, weil er den Unterprivilegierten ein Auskommen garantiert – er ist auch wirtschaftlich von Vorteil.

„Die positiven Effekte zeigen sich aber nicht sofort, sondern oft erst nach Jahrzehnten – und sie manifestieren sich nicht in höherem Einkommen der Menschen, sondern in erster Linie in besserer Gesundheit und einer höheren Lebensqualität.“

„In mancher Hinsicht ist der Wohlfahrtsstaat in Europa besser als sein Ruf“, fasst der Mannheimer Ökonomie-Professor Axel Börsch-Supan die zentrale Botschaft zusammen. Er koordiniert das Forschungsprojekt mit dem Namen „Sharelife“. Weiter:

„Eine gute Absicherung von Arbeitslosen hat langfristig positive Effekte. Der Staat kann damit die negativen Langzeitfolgen, die Arbeitslosigkeit für die Betroffenen hat, reduzieren. Denn grundsätzlich gilt: Arbeitslosigkeit macht – mit vielen Jahren Zeitverzögerung – krank. Je häufiger und je länger ein Mensch in seinem Erwerbsleben auf der Straße steht, desto schlechter ist sein Gesundheitszustand im Alter.“

„Arbeitslosigkeit hinterlässt dauerhafte Narben“, formuliert es Mathis Schröder, der am DIW Berlin die Sharelife-Daten ausgewertet hat. Je besser die Absicherung von Arbeitslosen in einem Land ist, desto geringer ist dieser Effekt. „Staatliche Unterstützung für Arbeitslose kann die Narben, die Arbeitslosigkeit hinterlässt, verringern“, betont auch Börsch-Supan.

44 Millionen Euro hat die Mammut-Studie gekostet, in der die Lebensumstände von 28.000 Europäern untersucht wurden. Und sie zeigt auch empirisch, was man bisher schon wußte, aber von marktradikalen Ökonomen immer bestritten wurde: Wenn alles der Markt regelt, dann führt das nicht nur zu großen sozialen Ungleichheiten – diese Ungleichheiten selbst sind dann ökonomisch „ineffizient“. Weil viele Menschen dann ihre Talente nicht entwickeln können. Weil, wenn Arbeitslosigkeit mit sozialem Absturz verbunden ist, die Produktivität selbst sinkt – weil dann viele Menschen dequalifiziert werden. Ein funktionierender Sozialstaat ist also für alle gut – nicht nur für die, die unmittelbar profitieren. Und er ist auch ein ökonomischer „Standortvorteil“. Um das in einer Sprache zu formulieren, den auch die Freunde des wirtschaftlichen Wirbelwindes verstehen.

Wesentlich ist, ob mit sozialstaatlichen Maßnahmen tatsächlich soziale Mobilität gefördert, also die Chance für Unterprivilegierte erhöht wird, aus ihrem Leben etwas zu machen. Gelingt das, setzt ein Win-Win-Prozess ein: Die Qualität von Arbeitsplätzen steigt, die Arbeitszufriedenheit nimmt zu, die Lebenserwartung wächst. Auch die sogenannte demographische Krise und die Finanzierungsprobleme des Wohlfahrtsstaates lassen sich dann leicht bekämpfen: Denn in Frührente gehen ja vor allem jene, die mit ihrem Job unzufrieden sind. Wer besser qualifiziert ist, arbeitet mit Freude länger und trägt damit mehr zum Wohlstand bei.

Wenn der Staat an diesen Aufgaben aber scheitert, produziert er neben sozialen Härten auch eine „ungenützte Arbeitskapazität“ – Humankapital wird dann verschwendet. Überläßt man die Dinge den Märkten, dann neigen sie zu dieser Verschwendung. Ein kluger organisierter Sozialstaat ist also für alle gut. Also: Ein Sozialstaat ist besser als kein Sozialstaat. Aber: Ein Sozialstaat, der diese Aufgaben besser bewältigt, ist besser, als jener, der sie schlechter bewältigt. Österreich liegt, was die Arbeitsmarktpartizipation Älterer betrifft, unter den europäischen Wohlfahrtsstaaten am Schlechtesten. Mit allen negativen Folgen: Den psychosozialen Problemen von Menschen, die zum alten Eisen geworfen werden, bis hin zu den Finanzierungsproblemen der Rentenkassen. Aber die Antwort kann nie heißen: Sozialsstaat abbauen. Sondern: Besser machen.

Sharelife Presseerklärung

Alle Daten zum Sharelife Projekt, aufbereitete Statistiken usw. finden sich hier: Share-Project

Die Wiedergabe dieses Artikels erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Robert Misik.

Mehr von Robert Misik ist hier zu finden: www.misik.at


Wir können uns den Sozialstaat leisten

29. November 2010

Seit vielen Jahren geistern durch die Öffentlichkeit zwei Gespenster: 1. die Unfinanzierbarkeit der Pensionen aufgrund der demografischen Entwicklung; 2. Die Notwendigkeit von Einsparungen in der Verwaltung der Krankenkassen, um die Defizite derselben in den Griff zu bekommen. Mit unerbittlicher Vehemenz malt die neoliberale Phalanx  in den Medien das Bild einer überalterten Gesellschaft, wo am Ende jeder Erwerbstätige mit seinem Beitrag einen Pensionisten erhalten muss und der Staat schließlich unfinanzierbare Zuschüsse zur Bewahrung des derzeitigen Niveaus leisten muss. Außerdem wird von diesen Kassandrarufern in unsere Köpfe die Vorstellung von einem gigantischen und trägen Verwaltungsapparat gehämmert, der Unsummen unserer Krankenversicherungsbeiträge ohne entsprechende Gegenleistungen verschlingt. Dass dieses Bild völlig verzerrt ist, wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.

Es ist zwar richtig, dass die steigende Lebenserwartung in Kombination mit niedrigen Geburtenraten zu einem steigenden Anteil jener Personen in unserer Gesellschaft führt, die im Pensionsalter sind. Aber all dies ist auch in Zukunft finanzierbar, wenn das Wirtschaftswachstum hoch genug ist und die Anzahl der Beschäftigten weiter steigt. Wenn das Wachstum bei etwa 2 Prozent gehalten werden kann, dann reicht die Steigerung des gesamtwirtschaftlichen Kuchens ohne Probleme dafür aus, um auf dem Wege einer leichten Erhöhung des Anteils der Staatsausgaben für die Pensionen (gut 1% des BIP) die Finanzierung unseres Systems sicherzustellen. Denn wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, ist es auch leistbar, dass in gut 30 Jahren auf 4 Erwerbstätige 3 Pensionisten kommen.

Seit vielen Jahren werden die (Gebiets)Krankenkassen öffentlich an den Pranger gestellt, da sie Defizite aufweisen. Als Rezepte sind schnell Einsparungen in der Verwaltung und die Zusammenlegung von Kassen gefunden. Was jedoch verschwiegen wird, das sind die wahren Ursachen der Defizite. Diese liegen nämlich nicht in den hohen Verwaltungskosten (diese sind in Österreich mit unter 3% international gesehen sehr niedrig), sondern am Missverhältnis von steigenden Leistungen und sinkenden Einnahmen. Denn durch die hohe Arbeitslosigkeit und den Anstieg des Anteils von Teilzeitarbeit stehen weniger Einnahmen aus den Beiträgen höhere Leistungen gegenüber, die z.T. in den letzten Jahren vom Gesetzgeber den Krankenkassen auch noch zusätzlich zugeschanzt wurden (z.B. Kinderbetreuungsgeld für Studentinnen, Bäuerinnen usw.). Hohe Kosten entstehen den Kassen außerdem durch ständig steigende Spitalskosten und wachsende Medikamentenkosten. Wenngleich Verbesserungen in der Verwaltung natürlich immer möglich sind, so ist dennoch das, was die Kassen vor allem Anderen ganz dringend brauchen, um die höheren Kosten zu bewältigen, das sind höhere Einnahmen.

Höhere Einnahmen sind beispielsweise durch die Erhöhung der Krankenkassenbeiträge für Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu erzielen. Da diese aber ohnehin vor ein paar Jahren erhöht wurden und da diese Beiträge vor allem die unteren Einkommensbereiche besonders belasten, sind andere Wege dieser sozial nicht sonderlich ausgewogenen Lösung vorzuziehen. Möglichkeiten einer besseren Finanzierung der Krankenkassen, die genauso für das Pensionssystem herangezogen werden können, liegen in der Transformation unseres Steuersystems.

Statt immer höhere Belastungen dem Faktor Arbeit aufzuhalsen, sollte durch die Einführung einer Wertschöpfungsabgabe, durch die Wiedereinführung von Vermögenssteuer sowie Erbschafts- und Schenkungssteuer wie auch durch die Etablierung einer europaweiten Finanztransaktionssteuern das Kapital ebenfalls einen angemessenen Beitrag zur Sicherung unseres Sozialsystems beitragen. Dadurch würde nicht nur mehr Verteilungsgerechtigkeit geschaffen, sondern dieser Umbau des Steuersystems hätte auch positive Effekte für die wirtschaftliche Gesamtentwicklung. Denn der neoliberale Weg der ständigen Kostensenkung der öffentlichen Haushalte hat gerade das Gegenteil dessen bewirkt, was seine Propheten versprochen haben: Statt eines höheren Wachstums hat uns die Sparphilosophie der neoklassischen Ökonomen geringeres Wachstum aufgrund sinkender Nachfrage beschert. Wegen der größeren Nachfrageimpulse bewirken höhere Ausgaben für den Sozialstaat nämlich höheres Wachstum der Gesamtwirtschaft. Was nämlich die Apologeten des Angebotsfetischismus gerne übersehen, das ist, dass höhere Ausgaben für Sozialleistungen nicht nur Kosten sind, sondern auch Einnahmen für die davon profitierenden Menschen – und diese Einnahmen kurbeln über den Konsum die Wirtschaft an. Deshalb können wir uns unser Sozialsystem sehr wohl leisten, da es sich in gewisser Weise über die Wachstumsimpulse für die Wirtschaft selbst finanziert.

Wir müssen es nur wollen – und diesen Willen politisch klar bekennen.


Gerhard Kohlmaier: Die Freiheit des Marktes bewirkt die Versklavung des Menschen

29. Oktober 2010

In vielen Ländern Europas stößt die Verordnung von Sparkursen auf Widerstand. Sparkurse gegen die Menschen, Sparkurse, welche Sozialleistungen und Zukunftschancen der Menschen erheblich einschränken. Parallel dazu gibt es in zahlreichen Staaten einen politischen Rechtsruck. Auch in Österreich. Beides gibt zu bedenken, beides ist hingegen nicht verwunderlich.

Die Sparkurse sind Teil der neoliberalen Strategie. Zuerst propagiert man die Freiheit des Marktes, eine Freiheit, die sich wenige, vor allem große Konzerne und Banken insoferne zu nutze machen, als sie sich die Freiheit nehmen, die Märkte nach ihrem Gutdünken zu beherrschen. Je mehr sie wachsen, umso größer wird ihre Freiheit, weil sie unabhängig werden, Monopole bilden und letztlich die Politik für ihre Interessen einschalten. So werden sie frei, gemessen an der Willkür ihrer Entscheidungen, welche in erster Linie ihrem Macht- und Gewinnstreben dienen, die aber zu Lasten von all jenen gehen, die ihnen diesen Reichtum und diese Macht erarbeiten: den Arbeitnehmern. Letztere gewinnen in keiner Weise an Freiheit, im Gegenteil, sie werden abhängig und auf moderne Art und Weise versklavt. Natürlich könnten sie von ihren Verträgen zurücktreten, aber im Unterschied zu den Mächtigen und Reichen, welche das dann tun, wenn es ihnen noch mehr Vorteile bringt, haben die meisten Arbeitnehmer keine Alternativen. Ihre Freiheiten sind nämlich eingeschränkt, weil Monopolstellungen kaum mehr Wahlmöglichkeiten lassen, weil die herrschende Politik ihnen ihre Freiheiten nimmt, weil die Medien ihnen falsche Freiheiten, falsche Werte als erstrebenswert vorgaukeln. Die neoliberale Krisenbekämpfung sah zudem vor, alle Arbeitnehmer, ja sogar ganze Staaten, in ein weiteres Maß von Unfreiheit zu zwängen, indem die von den Neoliberalen allein verursachte Krise, vor der, ja selbst während dieser sie im übrigen kräftig profitierten, zur Krise von Staaten, von ganzen Volkswirtschaften, von allen Arbeitnehmern, allen Bürgern erklärt wurde. Und das Überraschende ist: Viele, allzu viele glauben tatsächlich, dass sie dafür eine Verantwortung tragen. Warum?

Wer ständig in Unfreiheit lebt, wer ständig von Institutionen, Arbeitgebern, Politikern abhängig ist, auf deren Entscheidungen er im Wesentlichen keinen Einfluss mehr hat, beginnt sich mit ihnen zu arrangieren. Der Unfreie nimmt sich seine vermeintliche Freiheit im Abwägen des geringeren Übels oder aber im Ausnützen von noch Schwächeren bzw. im Heraufbeschwören von Sündenböcken. Dazu kommt, dass viele Bürger sich überhaupt nicht vorstellen können, in welchem Maße sie ihre ureigensten Lebensinteressen vernachlässigen bzw. vernachlässigt haben und primär den Interessen der Mächtigen in die Hände arbeiten. Sie haben sich längst – unter kräftiger Mithilfe der Medien, die natürlich ebenfalls überwiegend in neoliberalen Händen sind –  einer Automatik der Lebensführung ausgeliefert, in der sie den Steuerungsmechanismen einer neoliberalen Politik und Wirtschaftsauffassung unterliegen und diese für das einzige Credo ihrer Lebensführung halten. Sie haben die Entscheidung über ihr eigenes Leben längst all jenen Institutionen, Konzernen und Politikern überlassen, welche sie tagtäglich in neue Abhängigkeiten zwingen, welche ihr Leben verwalten.

Ein freies Leben sieht anders aus, eine davon entscheidend geprägte Lebensqualität ebenso! Dort wo der einzige Sinn des Lebens im Streben nach Geld und nach Konsum vorgegaukelt wird, gehen andere Wertvorstellungen notgedrungen verloren: Solidarität, Identifikation mit dem eigenen Tun, Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und der Welt, wie sie von uns gestaltet oder besser gesagt verunstaltet wird.

Der sich nun in zahlreichen Ländern abzeichnende Widerstand ist daher in erster Linie kein Widerstand gegen das System, es ist kein Widerstand gegen das Wesen neoliberaler, ausbeuterischer, auf den Vorteil Weniger bedachter Politik. Es ist ein Widerstand gegen den Verlust der Scheinfreiheiten, die dem System immanent sind. Es ist ein Widerstand gegen den drohenden Verlust des Arrangements. Und letztlich ist es auch ein Widerstand gegen den vorgegebenen Sinn des Lebens, dessen Verlust für die Mehrheit der Menschen immer spürbarer wird, ohne dass sie einen Ersatz dafür parat haben. Das ist auch die Stunde der Rechten. Sie versprechen Scheinlösungen, sie liefern Sündenböcke, sie lenken von den wahren Gegebenheiten ab und hoffen auf diese Art und Weise selbst eine Monopolstellung erreichen zu können. So sehr sie von den derzeit Mächtigen vordergründig auch abgelehnt werden, so sehr haben sich diese längst mit ihnen arrangiert. Sie liefern nämlich den Stoff, aus dem die rechtsradikalen Träume entstehen, welche die Realität der Verhältnisse überdecken. Die immer schlechter werdenden Arbeitsbedingungen, die explodierenden atypischen Beschäftigungsverhältnisse, von denen viele Menschen nicht mehr leben können, die steigenden Ängste um den Arbeitsplatz bzw. der Verlust desselben, die Aushöhlung des Sozialsystems – das alles führt insbesondere bei jungen Menschen zu einer Hoffnungslosigkeit, aus welcher ihnen die rechten Politiker ein Entrinnen vorgaukeln.

So führt letztendlich die so sehr gerühmte Freiheit des Marktes zu einer besonders gefährlichen Form der Unfreiheit für die überwiegende Mehrheit der Menschen. Nur wenn es uns gelingt, dieses neoliberale Credo in seinen Grundfesten zu erschüttern, können wir wieder an Freiheit im Sinne einer Selbstbestimmung unseres Lebens gewinnen. Eine andere Steuerpolitik ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung, und gerade jetzt – in der Diskussion über neue Sparpakete für die Bevölkerung – muss eine Umverteilung von oben nach unten das erklärte Ziel sein. Aber auch unsere demokratischen Strukturen müssen überdacht werden, die Möglichkeiten der Einflussnahme auf das politische Geschehen ausgeweitet werden, sei es durch Willenskundgebungen auf der Straße, durch Streiks oder durch Volksabstimmungen, aber auch durch das Installieren neuer, effizienter Strukturmechanismen wie Wahlgemeinschaften, Zusammenschlüsse innerhalb der so genannten Zivilgesellschaft sowie eines neuen Verständnisses von Politik und Wirtschaft. Wir müssen uns zur Wehr setzen! Jetzt!

Dieser Artikel erfolgt mit freundlicher Gernehmigung der Steuerinitiative im ÖGB.


Erkenntnisse für die Sozialdemokratie aus der Wien-Wahl am 10. Oktober 2010

11. Oktober 2010

Der 10. Oktober 2010 war für die Sozialdemokratie ein Tag der herben Enttäuschung. Die absolute Mehrheit ist mit fast hundertprozentiger Sicherheit dahin und die FPÖ kann die Stimmen seit 2005 beinahe verdoppeln. Während die SPÖ vor Auszählung der Wahlkarten bei knapp 44,3% hält, kommt die FPÖ nun auf mehr als 27%. Wenn man jedoch ins Detail geht und sich die Ergebnisse in den einzelnen Bezirken ansieht, dann ist zu erkennen, dass es an diesem Tag nicht nur einen Trend gegeben hat: Während die SPÖ in den traditionellen Arbeiterbezirken Simmering, Favoriten und Floridsdorf Verluste bis zu knapp 13% hinnehmen musste, konnte sie in den traditionell bürgerlichen inneren Bezirken sogar moderate Zugewinne machen. Die SPÖ war diesmal deutlich erfolgreicher bei den jungen Wählern (46%), während die FPÖ bei diesen sogar nur auf Platz 3 ist. Die FPÖ wiederum war diesmal sehr stark bei den alten Wählern, während die SPÖ bei diesen deutlich verloren hat. Bei den Geschlechtern gab es bei SPÖ und FPÖ signifikante Unterschiede: die SPÖ kam bei den Männern nur auf 41%, bei den Frauen jedoch auf 50%; die FPÖ bei den Männern auf 28%, bei den Frauen nur auf 20%. Bei den Wählern mit Migrationshintergrund kam die SPÖ auf 55%, die FPÖ hingegen nur auf 16%. Im Gemeindebau erwarb die SPÖ 57%, die FPÖ 29% der Wählerstimmen. Bei den ArbeiterInnen hatte die SPÖ mit 52% die absolute Mehrheit, die FPÖ mit 40% aber ein überraschend gutes Ergebnis.

Für die Sozialdemokratie bedeutet dies, dass die Analyse dieser Wahl differenziert erfolgen muss: Einerseits ist Freude darüber angebracht, dass die SPÖ im bürgerlichen Milieu ihre Erfolgsbotschaft darüber, was sie für die Stadt geleistet hat, um sie besonders lebenswert zu machen, anbringen konnte. Erfreulich ist für sie auch, dass nach der herben Enttäuschung 2005 nun mehr Zuspruch bei den ganz jungen Wählern gewonnen werden konnte. Andererseits sollte die Sozialdemokratie sehr gründlich darüber nachdenken, warum sie bei den Männern deutlich weniger Anklang findet als bei den Frauen – und warum der früher so hohe Anteil bei den PensionistInnen deutlich gesunken ist und die FPÖ bei den ArbeiterInnen einen so signifikant hohen Zuspruch hat.

Einen Fehler sollte die Sozialdemokratie nach dem großen Erfolg einer rechtspopulistischen Partei in unserer Stadt jedenfalls nicht machen: zu glauben, dass sie selbst deshalb mehr nach rechts rücken müsse. Die SPÖ muss vielmehr in noch stärkerem Maße die Ängste jener Menschen ernst nehmen, die sich von der Zuwanderung, der wirtschaftlichen Dynamik einer globalisierten Welt und der europäischen Integration bedroht fühlen. Diese Ängste ernst nehmen heißt aber nicht, dass die psychologisch unreifen Abwehreflexe, die hinter einem solchen Votum stecken, übernommen werden müssen. Vielmehr muss die Sozialdemokratie diesen Menschen ein emotionales Angebot machen, indem sie ihnen klipp und klar sagt, wie sie gedenkt, diesen Menschen in den aktuellen Transformationsprozessen die nötige existenzielle Sicherheit bieten zu können. Dazu ist aber zu allererst nötig, in den eigenen Reihen das Bewusstsein noch mehr dafür zu schärfen, wessen Interessen die Sozialdemokratie auch im 21. Jahrhundert zu vertreten hat.